Die Kanonenbahn - Teil 14: Der Lengenfelder Viadukt

Bei km 30,55 treffen wir auf das wohl imposanteste Bauwerk der Kanonenbahn im Streckenabschnitt zwischen Leinefelde und Treysa, den Lengenfelder Viadukt. Mit einer Länge von 244,10 m und einer Höhe von 24 m überspannt er das Friedatal und den Ort Lengenfeld/Stein und teilt somit den Ort gewissermaßen in 2 Teile.

Die Brücke liegt in einer Kurve von 400 m Radius und weist eine Steigung von 1:110 auf. Die Brücke ist etwas größer ausgefallen, als es der ursprüngliche Plan vorsah. Sie sollte eigentlich nur 6 Bögen a 32m aufweisen, es sind aber 6 Bögen à 33,30 m, konstruiert nach der ursprünglichen Form des Efze-Viadukts bei Homberg, 1 Überbau mit 18,35m und 1 Überbau mit 17,38m daraus geworden, die dem Baustil der Eschweger Flutbrücke in ihrer Urform nachempfunden wurde.

Die Brücke selbst wurde bereits beim Bau 2-gleisig konstruiert, es wurde jedoch zunächst nur 1 Gleis verlegt. Mit den Bauarbeiten wurde im Juni 1877 begonnen, wovon die Maurerarbeiten bis in den Herbst 1878 dauerten. Der Einbau der Stahlkonstruktionen und die sonstigen Nebenarbeiten verschlangen die Zeit bis in den nächsten Sommer, so dass die Brücke im August 1879 vollendet wurde.

Die Baukosten für den Viadukt betrugen insgesamt 375.796 Mark, wovon alleine der Stahlüberbau den Betrag von 187.912 Mark verschlang, das bedeutet bei einer Ansichtsfläche von 3690m² einen Kostenfaktor von 101,90 Mark pro Quadratmeter. In der Zeit zwischen dem 29. Februar 1906 und dem 29. April 1907 wurde die Brücke auf 2-gleisigen Betrieb ausgebaut, denn ab 30. April 1907 rollte der Verkehr auf beiden Gleisen. Die mittlere Höhe der Brücke liegt bei 280m über NN.

Die ersten Schäden und Konstruktionsfehler am Viadukt zeigten sich schon bald, aber während die anderen Brücken auf dem Streckenabschnitt etwa in der Zeit zwischen 1910 und 1935 nach und nach erneuert und die Stahlteile ausgetauscht wurden, tat sich diesbezüglich am Lengenfelder Viadukt überhaupt nichts. Erst als die Schäden während des 2. Weltkriegs zu groß wurden und auch Loks mit hohem Achsdruck und schweren Güterzügen am Haken die Brücke befuhren, wurde eine Langsamfahrstelle eingerichtet.

Zum Glück wurde der Lengenfelder Viadukt im 2. Weltkrieg nicht zerstört, wozu wahrscheinlich zwei Faktoren beigetragen haben. In der Zeit, da die feindlichen Tiefflieger ihr Unwesen trieben, war der Ort Lengenfeld voll mit Kriegsgefangenen und Verwundeten, die im Schloss Bischofstein, der Schule und im Krankenhaus untergebracht waren. Aus diesem Grund war auf die Dächer der betroffenen Gebäude ein rotes Kreuz auf weißem Grund gemalt. Alle Flieger haben beim Anblick dieses Zeichens abgedreht, um die Gefangenen nicht zu gefährden. Dadurch ist die Brücke nie beschossen oder bombardiert worden.

Der zweite Umstand ist der, dass beim Rückzug der deutschen Truppen die Sprengung der Brücke vorbereitet war, aber dank des Einsatzes des Offiziers einer Gefangenbewachungsmannschaft und des damaligen Lengenfelder Bürgermeister Franz Müller konnte die Sprengung verhindert werden, denn diese hätte wohl einen Großteil von Lengenfeld ebenfalls in Schutt und Asche gelegt.

In den ersten Jahren der DDR-Zeit soll es wegen der Grenznähe eine Brückenwache gegeben haben, an der während einer Nachtschicht des Wachhabenden ein alkoholisierter Mann aus dem Westen aufgekreuzt wäre, der nach kurzem Wortgeplänkel wieder in Richtung Westen verschwunden sein soll. Dieser Brückenwächter könnte Andreas Koch gewesen sein, der in den 50er Jahren diesen Job übernommen hatte.

Im August 1984 musste der Viadukt einer Sonderprüfung unterzogen werden, bei der sich gravierende Mängel herausstellten, wie z.B. nicht mehr zu beseitigende Lagerschäden, Sprödbruch-Gefahr des Eisens von 1880, bereits herausgerissene Lagersteine aus den Widerlagern, Korrosionsschäden usw. Die Brücke bekam eine unwiderruflich letzte Frist bis zum 31.12.1992.

Nach der Wende im Jahre 1989 rückte der Lengenfelder Viadukt schlagartig in das Interessenfeld vieler Eisenbahn-Fans und wurde von diesem Tage an reichlich fotografiert und, obwohl etliche der Bohlen auf der Brücke morsch oder nicht mehr vorhanden waren, auch reichlich begangen.

Als dann im Jahre 1992 schließlich das Ende der Kanonenbahn absehbar war, befuhren nochmals viele ehemalige Eichsfelder sowie reichlich Eisenbahn-Fans die Strecke. Am 30.12.1992 wurde zwischen Lengenfeld und Dingelstädt ein Sonderzug mit einer Abschiedsfahrt organisiert, die von der Bevölkerung mehr als reichlich angenommen wurde. Am 31.12.1992 fuhren dann schließlich die letzten beiden Züge mit dem langen Abschiedszug und einem allerletzten Nachmittagszug. Der Abschiedszug wurde von einer Dampflok der Baureihe 50 gezogen, der Reichsbahn-Traditionslok 50.3688-4, sowie einer Diesel-Lok der Baureihe 202, der 202.539-3, die als Schiebelok fungierte.

Gefahren wurde über die Brücke mit der Geschwindigkeit von 10 km/h, der Höchstgeschwindigkeit, für die der Lengenfelder Viadukt seit Anfang der 40er Jahre zugelassen war. Für die Dauer der Zeit, in der die 50er Lok mit dem Abschiedszug über die Brücke fuhr, hupte sie herzerweichend. Das hallte fürchterlich durch das enge Friedatal und ging wohl allen Zuschauern durch Mark und Bein.

Hermann Josef Friske