Die Kanonenbahn - Teil 12: Das Streckenwärter-Haus im Bilstal

Unweit vom Südportal des Entenberg-Tunnels stand einst rechterhand im Bilstal, welches die Großbartloffer Buschtal nennen, ein kleines Wohnhaus, in dem der Streckenläufer wohnte, der den Streckenabschnitt zwischen Küllstedt und Schwebda zu betreuen hatte. Dieser legte täglich die Distanz von ca. 17 km zurück, da sich sein Domizil etwa in der Mitte der Entfernung zwischen Küllstedt und Schwebda befand, und quälte sich mit vollem Gepäck – das waren 1 großer, schwerer Schraubenschlüssel, 1 Pechfackel, 1 rote Fahne sowie eine Karbidlampe – entlang der Schwellen an einem Tag hinauf nach Küllstedt fuhr anschließend mit dem Abendzug zurück ins Bilstal, um am nächsten Tag die Strecke bis hinunter nach Schwebda abzugehen, um anschließend auf dem Weg zurück zum Wohnhaus wieder den Abendzug in Richtung Eschwege zu nehmen.

Außerdem hatte er noch die Verpflegung für einen langen Tag mitzuschleppen sowie in der warmen Jahreszeit des Öfteren noch Axt und Säge, denn er war auch dafür zuständig, in den Bahndamm hineinwachsende Büsche oder Bäume zu beseitigen. Da wir davon ausgehen können, dass dieses Wohnhaus gleichzeitig mit dem Entenberg-Tunnel und der Strecke errichtet wurde, dürfte es in der Zeit von 1878 bis 1879 erbaut worden sein. Der erste Streckenläufer und Weichensteller, somit auch der erste Bewohner dieses Hauses, war Georg Schneider, geboren am 06.08.1847 in Kella, der mit seiner Frau Anna Maria, ebenfalls aus Kella stammend (geb.15.06.1853), bis Ende 1919 an dem abgelegenen Ort gewohnt hat.

Vor dem Haus befand sich wie an allen Wohnhäusern mit Schrankenposten o. Ä. entlang der Kanonenbahn ein „Melder“, das war eine turmartige Glocke, die mit drei Anschlägen den nahenden Zug angekündigt hat.

Am 01. Januar 1920 bezog Andreas Koch, geboren am 28.05.1891 in Bischofferode/Hessen, unweit des gleichnamigen Kanonenbahn-Tunnels gelegen, mit seiner Frau Helene, geb. Hartung, geboren am 02.09.1891 in Ebertshausen/Thüringer Wald, (verheiratet seit 1919), das Haus am Entenberg-Tunnel.

Andreas Koch wurde infolge einer Kriegsverletzung, die er sich im Ersten Weltkrieg zugezogen hatte, bei der Bahn zum Streckenläufer ausgebildet. In diesem Zusammenhang wäre es interessant zu erfahren, wie viele Menschen entlang der Kanonenbahn ihren Wohnort oder die Arbeitsstätte gewechselt haben. Mein Großvater mütterlicherseits, Heinrich Habig, geboren in Lengenfeld/Stein, verzog z. B. im Jahre 1923 mit meiner Großmutter Elisabeth, geb. Kniel, gebürtig aus Berlin (der Ausgangspunkt der Kanonenbahn), nach Eschwege, um dort das alteingesessene Altstadt-Gasthaus „Zur Krone“ für fast 30 Jahre zu übernehmen.

Neben dem Wohnhaus am Entenberg-Tunnel standen dort außerdem noch eine Waschküche mit angebautem großen Backofen sowie ein Ziegenstall (denn Ziegen waren die Kühe des kleinen Mannes) und ein von diesem abgeteilter Schweinestall mit an diesem angegliedertem Plumpsklo. Die Jauche floss aus den Ställen und dem Klo in die gleiche Jauchegrube. Am Stall angebaut befand sich außerdem noch der in Eigenbau errichtete Holzschuppen. Jenseits des Streckengleises standen ein mit 13 Bienenstöcken bestücktes Blockhaus und ein Unterkunftshaus für Streckenarbeiter sowie das Telefon zum Bahnhof Lengenfeld unterm Stein. Dieses Gebäude muss einst auch das Schienenfahrrad für den Streckenläufer beherbergt haben, wie ein dorthin führendes Gleis auf einem anderen Foto zeigt.

Hinter diesem Gebäude lag der Obstgarten, von dem auch heute noch etliche, wenn auch stark verkrüppelte alte Obstbäume, in mehreren Reihen stehend, erhalten sind. Außerdem fuhren hier die Züge im Sommer stets langsam, damit die Fahrgäste das Blumenmeer um das Wohnhaus herum bewundern konnten. Mit der Blütenpracht wurde sogar der Gärtner in Lengenfeld versorgt, wenn diesem die Blumen zum Kränzewickeln ausgegangen waren. Die Ländereien für die Viehhaltung befanden sich vor und auch hinter dem Entenberg-Tunnel beiderseits des Gleises.

Einen Fahrweg zum Wohnhaus gab es nicht, man ging einfach den schmalen Trampelpfad an den Gleisen entlang bis nach Lengenfeld, da infolge einer Verwerfung des Bahndammes das Gleis in der Mitte verlegt werden musste und nun der Platz dafür fehlte. Die Wasserversorgung war eine Katastrophe, es gab lediglich einen Brunnen in ca. 300 m Entfernung unterhalb des Gebäudes, der eigentlich nur Brauchwasser lieferte, weil sich oberhalb Viehweiden befanden und das Wasser dadurch ständig verunreinigt wurde. Von dort musste das Wasser mühsam in Eimern und Kübeln zum Wohnhaus heraufgeschleppt werden.

Zu DDR-Zeiten wurde das Trinkwasser schließlich jeden zweiten Tag per Güterzug aus Leinefelde angeliefert. Dies geschah mittels zweier großer Kannen, die mit Leitungswasser aus Leinefelde gefüllt wurden und im Tausch gegen zwei leere einfach vor dem Wohnhaus abgestellt worden sind. Für die Bahn war dies ein teures Unterfangen, denn jedes Anfahren der Dampflok kostete zwei Zentner Kohlen. Dies hatte aber auch eine positive Seite, denn durch das Anhalten der Züge vor dem Entenberg-Tunnel wurden persönliche Kontakte zwischen dem Zugpersonal und den Bewohnern des Wohnhauses aufgebaut, außerdem gab es dadurch stets eine Mitfahrgelegenheit bis Lengenfeld, um einkaufen zu können.

Weil das Haus auch nicht an die Stromversorgung angeschlossen war, gab es zunächst bis nach 1945 nur zwei Petroleumlampen, wodurch die Räume nur notdürftig erhellt wurden. In den darauf folgenden Jahren erhielt das Haus eine „zentrale Gasversorgung“, durch die ein 2-flämmiger Gasherd sowie die Beleuchtung von zwei Räumen gespeist wurde. Die schwere Gasflasche stand außerhalb des Gebäudes in einem eigens dafür vor dem Küchenfenster errichteten, abschließbaren Häuschen.

Neue Gasflaschen kamen ebenfalls per Güterzug aus Leinefelde, wohin die leere Flasche auch zurückgebracht wurde. Alarm wurde jedes Mal geschlagen, wenn sich eine Kuh auf den Gleisen befand oder anderes Nutzvieh aus seiner Weide ausgebrochen war und sich dort unberechtigterweise tummelte, weil die Weidezäune stets brüchig waren. Es gab ja bekanntlich in der DDR selten Stacheldraht zu kaufen, denn dieser wurde ja für einen weitaus größeren Weidezaun zur Grenzsicherung benötigt.

Einmal sind auch die Pferde des „Entenmüllers“ Albert Herwig aus Lengenfeld / Stein beim Pflügen hinter dem Entenberg-Tunnel ausgebüxt und kamen durch den Tunnel galoppiert, gerade als der Zug hinter ihnen herkam. Dieser wurde am Wohnhaus zur Langsamfahrt aufgefordert. So galoppierten die Pferde vor dem Zug her bis zum Schloss Bischofstein, wo sie schließlich abbogen. Der „Entenmüller“ soll, sich die Haare raufend, am Tunnel gestanden haben, wobei er schon das Schlimmste befürchtet hat.

Hermann Josef Friske