Die Geister der Zeit (Ein Zeitbild um 1900)
Der alte Valentin Webeknecht stand am Fernster der niedrigen Bauernstube und schaute unverwandten Blickes hinüber nach den Wiesen. Es war um „Peter und Paul“ herum. Das Heu war gut geraten, und es herrschte nun oben auf den Wiesen reges Leben, die Ernte einzuheimsen. – Der alte Valentin war ein Bauer von altem Schrot und alter Art. Da drüben auf den Wiesen, da war so jetzt um die Zeit sein Platz gewesen. Aber so – er merkte, er wurde alt, war schon alt und die heiße Junisonne hatte sein immer heftiger auftretendes Leiden, die Gicht, nicht hinwegzuzaubern vermocht.
Auf der breiten Wiese drüben, umsäumt von einem murmelnden Bach von der einen, von einer baumbestandenen Landstraße von der anderen Seite, ratterten die Schneiden einer Mähmaschine. – Willen- und klaglos fielen die Gräser und Krauter, beugten sich, wie ehedem der Pensenschneide, nun auch den Scheren des Mähers, der sie unbarmherzig in der Jugendblüte dem Tode weihte.
Die Geister der Zeit, die in der Luft kreisten, die hinabstiegen in schaudernde Meerestiefen, in Hast und Eile auf feuchten, sumpfigen Wiesengrund und die Wiesengräser beugten sich vor ihm, und die Menschen wirbelten in ihrem Tanze – beschworen Neues und immer Neues herauf und gingen ungeahnten Zeitepochen entgegen. Sensen und Dreschflegel sahen schweigend zu und fühlten, dass ihre Zeit abgetan war. Einsam hingen sie in der Scheunentenne. Die Sensenschneide klagte weinend dem Bruder Dreschflegel ihr Leid und die Tränen wurden zu Rost und fraßen an ihrem Metall. Dem Bruder Dreschflegel, dem oft das hölzerne Herz so froh und lustig schlug um die Herbsternte herum – klipp – klapp – klipp –klapp – saß der Wurm im schweigsam trauernden Herzen und fraß an seiner Substanz.
Die Geister der Zeit hatten das Alte überholt und in Vergessenheit versenkt.
Der alte Valentin Webeknecht aber, der war nicht mitgegangen. Er hatte es gewagt, sich dem Zeitgeist entgegenzustemmen.
Wer ihn so stehen sah, wie er sinnend hinüberschaute nach den Wiesen, der musste finden, dass der Alte einen eigenen Kopf hatte. Die breite, eckige Stirn deutete Kampfansage und Widerspruch. Unter buschigen Brauen lugten lauernd und misstrauisch die Augen. Auch die Bauernstube zeugte von strenger alter Art. Eine „Seddel“ behauptete ihren alten Platz und diente hinter einem schweren, massiven Eichentisch sowohl als Sitzgelegenheit als auch zur Aufnahme von Wäschestücken. Dazu kamen noch einige Stühle mit Schnörkellehnen. Im Hintergrunde stand das „Himmelbett“ mit blumengemusterten Kattunvorhängen. Auf dem „Kammbrett“ oberhalb der Tür lagen großformatige Gebetbücher, daneben eine Knastertüte und eine reichverzierte Tabakdose.
Gleichwohl nun auch die Masten und Leitungsdrähte da draußen verrieten, dass das Dorf mit Licht- und Kraftelektrizität versorgt war, so hatte das Webeknechtsche Grundstück keinerlei Zuleitung. Hier war noch die Petroleumlampe im Dienst, welche vom Eckbrett herunterschaute, und wer noch einen Blick in die angrenzende Küche tun konnte, sah dort noch die hölzernen „Borneimer“ auf der Eimerbank stehen, trotzdem seit Jahren schon die Dorfgemeinde auch Wasserleitung hatte. Aber bei all den praktischen Neuerungen hatte der Valentin Webeknecht nicht mitgetan.
Die Bauern der Umgebung kannten seinen absonderlichen Charakter und so war es gekommen, dass das Dorf, wie es zu allen alten und neuen Zeiten schon war, in dem alten Valentin wieder mal ein „Original“ hatte. Da drüben lag nun auch die Wiese des Alten. Morgen sollte auch an sie gegangen werden. Morgen früh sollte der Willem da die Sense schwingen nach alter Art ...
Auf dem mit Steinquadern ausgelegten Flur hallten Schritte, die Tür ging auf und in ihrem Rahmen erschien der Willem. Er war der Typ eines kernigen, schaffensfrohen Bauernburschen. Er warf den breitkrempigen Strohhut auf die Lehne des altmodischen Ledersofas, trat zu dem Vater ans Fenster.
„Morgen ist die Wiesenmahd, Vater. – Der Krengelsepp wird die Wiese mit der Maschine schnell auf den Rücken legen. Das wird dir recht sein Vater, gelt.“
Der Alle wandte sich halb um und fuhr den Burschen in barschem Tone an: „Junge, ich sage dir – nicht der da drüben, sondern du mähst die Wiese, und so, wie es immer war. Glaube schon, dass dir der mit seinem Teufelsgespann den Kopf verdreht. Weißt wohl nicht, was ich von dem da drüben halte – he. – Und noch bin ich Herr hier – verstanden!“
Der Willem kämpfte die aufsteigende Erregung nieder, griff nach seinem Hute. „Aber Vater …“ Kein aber. – Der Valentin Webeknecht ist Mann für sich. – Entweder – du mähst die Wiese – oder ich mähe sie selbst.“ – Der Bursche antwortete nicht und wandte sich zum Gehen. Der Alte sah ihm nach. – „Weiß schon, was dem den Kopf verdreht. – Die Krengelgret’ geht ihm im Kopf herum. Die auf dem Hof hier – dann wär’s richtig. Nachher gäb’s neue Wirtschaft nach „Krengelschem Muster“. Dafür tat der Alte schon sorgen. – Ja – abwarten – in der letzten Tüte find’ sich’s. – Lass mir ohnedem nicht weismachen, dass dem seine Wirtschaft den „Modehumbug“ abwerfen tat. – Da steht sein Göpelschuppen und heut drischt er elektrisch und morgen – wenn’s ihm ein hergelaufener Narr weismacht, mit Sternschnuppen- und Hexenpesthauchkraft. Wollen sehen, wer’s zuletzt am längsten aushält.“ – Mühsam humpelte er nach Beendigung dieser halblaut geführten Rede zum Ledersofa, setzte sich eine Pfeife in Brand und dachte weiter. – Freilich, auf den Hof musste ein Weibsmensch. So konnte es auf die Dauer nicht weitergehen. Aber so eins, wie seine Moni seiger – so eins sollt es schon sein. – Die Krengeigret’ – ja, gegen’s Mädel konnte man vielleicht nichts sagen. Aber der ihr Alter – der war einer der schlimmsten Macher, dass alles in der Gemeinde auf den Kopf gestellt wurde. Der war im Gemeinderat und hatte den Leuten die Köpfe verdreht, dass die Rohre in die Küchen gelegt wurden. – Als ob die alten Dorfbrunnen nicht Menschen und Vieh noch allzeit die dürstenden Kehlen erfrischt hätten. – Und dann – mussten die Drähte gezogen werden. Den Blitz halten sie zum Gespiel im Hause. – Der Krengel hatte kein Bauernblut in den Adern. Schickt sich’s etwa für einen Bauern, statt mit der Pfeife mit der dicken Zigarre daherzugehen. – – – Und „separieren“ wollen sie. – Und der alte Krengel ist dabei natürlich einer der Ersten, die die Sachen betreiben. Wird schon so sein, dass dabei so hintenherum etwas für ihn herausspringt ...
Währenddem ging der Willem, seinen Gedanken nachhängend, über den Feldweg den Wiesen zu. Auf den Krengelschen Wiesen schafften die Heuleute. „Na, Willem, gehst ja daher, als hätten dir die Hühner das Brot genommen. Hier kannst ankommen und morgen täten wir uns revanchieren. – Der Sepp mäht dir die Wiese mit dem Mäher, das ist ausgemacht, und wenn‘s ans Einbringen geht, springen wir auch ein.“ So rief ihn der Krengelbauer an und kam an den Weg heran. – Da wehrte Willem ab: „Nein, so wird es nicht gehen. Ich selbst will die Wiese umlegen, sonst mäht sie der Vater.“ „Ah – hat wieder mal seinen Starrkopf aufgesetzt. – Na, der ist nicht mehr umzukriegen und wird bleiben, wie er ist. Aber Kopf hoch, Junge, wir machens schon.“
Im Dorfe ergab man sich nach harter Tagesmüh der wohlverdienten Ruhe. Eine helle Mondscheinnacht war angebrochen. Nach einem schweigsam und verstimmt eingenommenen Abendbrot war der alte Valentin in sein „Himmelbett“ gestiegen und lag bald im ersten festen Schlafe. Vom Wiesenteich herüber quakten die Frösche und die sommerliche Nachtluft durchzog schwer der Duft der gemähten Wiesengräser. Schweigsam lagen die Gehöfte und still zog der Mond seine Bahn. Da ratterte über die Webeknechtsche Wiese der Grasmäher und in breiten Streifen sank der schwere Grasbestand zu Boden.
– Der Krengelsepp mähte hier in stiller Sommernacht die Wiese des alten, schlafenden Sonderlings. – Bald war die Arbeit getan und die ersten Strahlen der Morgensonne erblickten nur noch in den Tod gesunkene Wiesenblumen, Gräser und Kräuter. Die in den frühen Morgenstunden über die Webeknechtsche Wiese flatternden Falter suchten vergebens nach einem Ruhepunkt auf schwankenden Blumenkelchen. Der alte Valentin wunderte sich nur eben über die „Forsche“ seines Willem, als er, dem Himmelbettlager entstiegen, ans Fenster trat und die Wiese bereits auf dem Rücken liegen sah. – Den wahren Sachverhalt wurde er nicht gewahr, und das war gut. Er war zufrieden in dem Bewusstsein, dem „Neuen“ gegenüber sich durchgesetzt zu haben. – Und dennoch war der „Geist der Zeit“ auch über seine Wiese geschritten, ohne Rücksichtnahme auf Protest und Widerspruch eines Seitenstehers, dem die Zeit vorausgeeilt war.
Unentwegt schritt indes die Zeit weiter und mit ihr auch die „Geister der Zeit“. Die Wiesenmahd war längst beendet und es kam die Zeit der Getreideernte. Unten auf Mutter Erdens Schoß mühten sich die Menschen unter Zuhilfenahme sinnreich konstruierter Maschinen. Oben zwischen Himmelsblau und Wolkenbergen zogen, großen Raubvögeln ähnlich, die Aeroplane. Auf den Landstraßen fuhren die „Kutschen ohne Pferde“. Irgendwo im Dorfe hörte man mittels Rundfunk Konzerte, Vorträge und Operetten, die in Wien, Hamburg, Dresden oder sonst wo gegeben wurden. Auf den Webeknechtschen Getreidefeldern aber erklang der Wetzstein an der Sensenschneide. Der alte Valentin, dem es um die Zeit wieder besser ging, und sein Willem mähten nach alter Art. Einige Tage aber nachher, nachdem die Erntewagen in die Scheuertennen gefahren waren, kamen auch die Dreschflegel noch einmal zu Ehren. Von allen Seiten her brummten die Dreschmaschinen. Hier aber klopfte freudig bewegt das hölzerne Herz des Dreschflegels in rhythmischem Pulsschlag, klapp – klapp – klipp, klapp – klapp – klipp ...
Der Willem machte zu alledem kein frohes Gesicht. Der Alte aber fühlte sich noch einmal jung. Dann war Frühstückspause und die Flegeltöne schwiegen. Dem Willem war das Herz so schwer und er stahl sich mit einem Vorwande hinüber zum Krengelhof. Ein wenig Trost und Mut gab ihm da der Krengelbauer und auch die Gret' mit auf den Weg. Als er durch das Hoftor schritt, klappte in der Tenne schon wieder der Flegel im Eintakt – klapp – klapp – klapp – und plötzlich ein ganz unrhythmischer Ton – wie stockender Herzschlag – und der Dreschflegel schwieg. Da eilte der Willem, von einer eigentümlichen Empfindung getrieben dahin.
– Da lag der Alte mit stockenden, keuchenden Atemzügen und verzerrten Mundwinkeln und daneben der zerbrochene wurmstichige Flegel. Erschrocken kniete Willem vor dem Vater nieder. Leichenblass mit geschlossenen Lidern lag der da. Hastig lief der Willem hinüber zum Krengelhof und holte Hilfe. Man brachte den bewusstlosen Alten zu Bett und der Arzt wurde gerufen. Der stellte Schlaganfall fest. Der Pfarrer spendete ihm bald nachher die hl. Ölung. Der Willem wich nicht vom Lager und die Gret‘ sorgte für ein ordentliches Aufräumen in Stube und Küche. Am Abend aber, als sie neben dem Willem am Sterbelager des Vaters saß, schlug der plötzlich die Augen auf und versuchte zu sprechen. Aber nur einige abgebrochene Laute, wie Kinderlallen kam es ihm über die Lippen.
Da winkte er müde die beiden dicht an das Lager und legte ihre Hände ineinander. Die beiden verstanden die stumme Rede des Alten und die Grete nickte. Da nickte auch der Alte und schloss die Augen – für immer. –
Hier war ein Menschenherz gebrochen und draußen lag das zersprungene hölzerne Herz des Dreschflegels.
Anton vom Friedabach
(Adam Richwien)