Die Erscheinung

Es war in den Jahren, als die Bahnstrecke Leinefelde-Niederhohne gebaut wurde, in der sogenannten "Isenbahnziet". Handel und Wandel nahmen einen schönen Aufschwung. Arbeit und guter Verdienst zogen in die Dörfer an dem neuartigen Verkehrswege ein. Schmeedaden, seines Zeichens Grobschmied in einem südeichsfeldischen Dorfe, schon in jungen Jahren ob seines sprühenden Mutterwitzes und seiner Redegewandtheit über die Grenzen seines Heimatdorfes hinaus bekannt, kam eines Nachts von einer Geschäftsreise spät ins elterliche Haus zurück. Zufrieden gestimmt nach einem erfolgreichen Tagewerke und im Vollbesitz einer anständigen Bettschwere, stieg Aden die Treppe hinauf, um seine Lagerstatt auf dem obersten Boden aufzusuchen, das Öllicht steckte er nicht erst an, da ja der Mond durch das kleine Giebelfenster schien. Aden hatte seine durch den Weg nach Eigenrieden und zurück müde gewordenen Glieder ausgestreckt. Es war bereits gegen Mitternacht. In wenigen Minuten würde wohliger Schlaf ihn umfangen. Doch da! -Was war das? In dem Haufen Hobelspäne nach dem Fenster zu, wo die Schreinerwerkstatt war, raschelte es unheimlich laut. Da erhob sich's gespenstisch im bleichen Gegenlicht des Mondes und blieb in hockender Stellung sitzen, stumm und regungslos. Lähmendes Entsetzen befiel Aden, wie Albdrücken kroch es ihm über die Brust, das Blut wollte ihm in den Adern erstarren, seine Augen hingen wie gebannt an der Erscheinung, als er in der hockenden Gestalt seinen leibhaftigen Bruder Thumms erkannte, der vor vierzehn Tagen den Löffel aus der Hand gelegt hatte (gestorben war) und dessen Brust sich nun, die unheimliche Stille unterbrechend, ein Stöhnen entrang, das dem Bruder Aden durch Mark und Bein ging und ihn die Worte ausstoßen ließ: "Je wö kimmst Dü ann har?" -"Ach, ich kumme vun do drämn." -"Wi sitts an do üs?" - "'s es nischt lös." Aden überlegte schon, wie er die rettende Bodentreppe gewinnen könnte und wollte, sich langsam zurückziehend, fragen: "Werim hunn se dich ann werr anne geschickt?" als ihm vor lähmendem Entsetzen das Wort in der Kehle stecken blieb. Die Gestalt erhob sich langsam und schickte sich an, auf einen Krückstock gestützt, ganz so wie es Bruder Thomas bei Lebzeiten getan, auf Adens Bettstatt loszuhuschen. Wie er die Bodentreppe hinunter gekommen war, wusste Aden später nicht mehr zu berichten. Da aber sein Kopf eine Beule so dick wie ein Hühnerei davon trug, musste er wohl damit gegen den Türbalken gestoßen sein. Unten angelangt, musste er einige Augenblicke verhalten, zitternd und bebend. Und da er merkte, dass er nicht verfolgt wurde, kehrte ihm allmählich die Besinnung zurück. Von dem gesunden Instinkt geleitet, dass große Gesellschaften für gewöhnlich von Geistern gemieden werden, schlich er auf den Heuboden, wo fremde Eisenbahnarbeiter schliefen und lagerte dort für den Rest der Nacht. Als er am anderen Morgen beim Klüschen ackerte, tauchte auf einmal im Hohlwege am Ausgang des Dorfes wieder der lahme Hutsch, sein Bruder Thumms, mit dem Krückstock auf. "Fihrt sich dann da Spitzbube sö gut uff, dass ha schunt bie halliechtem Tage Ürläub kriet", dachte Adam bei sich, bezeigte aber jetzt, da an vielen Stellen Leute auf dem Felde waren, außer einem unbehaglichen Gefühl, keine Angst. Nun, da der Lahme näher kam, wurden Adens sonst so listige, verschlagene Augen auf einmal wieder groß, aber diesmal nicht vor Schrecken, sondern eher aus einem Gemisch von Erstaunen und Enttäuschung. War doch die vermeintliche Spukgestalt niemand anderes als der lahme Leporsch aus Schierschwende, der, als Wagner beim Bahnbau beschäftigt, an jenem Abend ein Kännchen zu viel getrunken und daher seine Schritte, anstatt nach Hause, auf Schmeeds obersten Boden gelenkt hatte.

Anton Fick