Die Entstehung Döringsdorfs

Vor vielen 1000 Jahren lebte im nahen Harzgebirge ein gewaltiger Fürst, der viele Dörfer und Städte sein Eigen nannte. Gehorsam folgten die Untertanen seinen Winken und wussten seinem Willen selbst im Kleinen gerecht zu werden. Ruhig und friedlich lebten sie alle. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel zuckte da eines Tages die Kriegsfackel durchs Land. Wie ein Wann folgten die Freien dem Rufe ihres Herzogs. Doch einzelne Gehöfte vermaßen sich dem Heerführer die Gefolgschaft aufzusagen. Sie waren nicht gewillt, mit dem Speer Würfelbecher und Met zu vertauschen. Der Fürst des Landes hörte von diesem Treubruch und Zorn erfüllte ihn. Währenddessen hatten sich die treulosen Gehöfte untereinander Fehde angesagt.

Einzelne fürchteten für ihr Leben und wollten lieber das Schlachtross tummeln, andere schlugen sogleich mit Streitaxt und Fäusten dazwischen, um diesen Zaghaften Einsicht zu lehren. Streit und wilder Lärm tobte zwischen ihren Grenzpfählen. Da sandte der Fürst den Gewaltigsten der Gewaltigen, den er unter seinen Reisigen wusste, in jene aufrührerischen Gehöfte. Er war ein Riese von Wuchs und Kraft, ein Recke, der schon des Öfteren die strafende Hand zur Vollstreckung gezogen. Mit einem großen Quersack kam er des Weges. Die Abtrünnigen, die strafende Gerechtigkeit nicht im Geringsten ahnend, bekämpften sich gerade wütend. Flugs langte er seinen Sack vom Rücken, packt jeden einzeln und zappelnd und Mordio schreiend, verschwinden sie alle in seinem Sack.

Um leichter die strampelnde Bürde bewältigen zu können, wirft er seinen „Wergsack“ (Quersack) über die Schulter, wie es just noch heute die Händler tun. Doch jetzt erst werden sie sich der Größe der Gefahr vollauf bewusst. Die erstickende Luft im zugebundenen Sacke, die Vorwürfe des einen wider den andern, vor allem aber das grause Geschick, das ihnen beschieden, – dies alles veranlasst sie in ihrem schrecklichen Gefängnisse zu den wüstesten Schlägereien. Jedem war der in wenigen Stunden erfolgende Tod gewiss. War ihnen doch mit Donnerstimme angekündigt worden, dass alle ohne Ausnahme den Tod in den schäumenden Wellen der Werra finden sollten. Darüber Heulen und Zähneknirschen, – ein wahres Mord- und Wehgeschrei. Hatte sich das vordere Häuflein abgetobt, dann fing das Hintere von neuem an; konnte das Hintere nicht mehr pusten, dann fingen die vorderen an. Der Riese bot alle seine Kräfte auf.

Schon einmal lief er Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren, denn zu toll machten ihm die „Mitreisenden“ zu schaffen. Eine noch größere Sorge erfüllte des Riesen Herz, als er merkte, dass die unruhigen Geister den Sack zu zertrampeln gedachten, um so sich ihrer Fessel zu entledigen. Angst- und schweißbeladen kommt er der Werra näher. Schon sieht er den Spiegel von weitem winken, der ihm die kühlende Labung, den Ungehorsamen aber das tiefe Wellengrab bringen soll. Nur noch einige Schritte! Doch da! Welch ein Schreck! Kaum hat er seinen Fuß vor die „Löre“ (örtliche Flurbezeichnung) gesetzt, da zerplatzt der Wergsack auf der Schulter. Das vordere Häuflein fällt nach Süden den Abhang hinab, das Hintere rutscht in den „Kirmsengraben“ (Flurname bei Döringsdorf).

Allein steht der Riese auf einsamer Höhe, die zerplatzte Hülle zu seinen Füßen. Die so glücklich dem Tode Entronnenen stieben nach allen Winden. Der Riese hat das Nachsehen und muss von dannen troddeln. Nachdem die Luft auf der Löre rein ist, da finden sich alle Unglücklichen wieder ein. Beide Häuflein erbauen an der jeweiligen Unglücksstätte ein Denkmal zum Danke für ihre Rettung. Zwar ist die Säule durch die Jahrtausende in Trümmer gesunken; doch Kinder und Kindeskinder sind nach der Stätte gewallt und haben sich hier sesshaft gemacht. Döringsdorf und Bebendorf künden uns so ihre Entstehung.

Lehrer Röhrig (erstmals im Eichsfelder Sonntagsblatt, 1921)
(Quelle: Obereichsfeldische Sagen, in: Eichsfelder Heimatborn, Band 3, ausgewählt von Roderich Wirbitzky. Druck und Verlag von F. W. Cordier, Heiligenstadt/Eichsfeld, 1924)
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