Die Bahnhofstraße im Wandel der Zeit
Am 15. Mai 1880 wurde die Bahn Leinefelde – Eschwege in Betrieb genommen. Einige Jahre später wurde auf dem Kirchberge beim Eisenbahnbrückenanfang für Lengenfeld eine Haltestelle errichtet. 1908 wurde der jetzige Bahnhof gebaut. Seitdem wurde der Hohl- und Feldweg vom Kichberg zum Bahnhof als Bahnhofstraße benannt. Nach der Kennzeichnung der Stra0en mit Straßenschildern wurde auch der untere Straßenteil am Kirchberge vom Hause Karl Köniig (Post) bis Haus Thrien als Bahnhofstraße bezeichnet.
Wie sah das Straßenbild um die Jahrhundertwende und in den nachfolgenden Jahren aus?
Die Mehrzahl der Häuser im unteren Straßenteil waren kleine Fachwerkhäuser mit Lehmwänden. Eins stand da, wo heute die Post steht. Ein anderes, welches neben dem Grundstück von Alois Morgenthal stand, wurde abgerissen. Die Häuser von A. Morgenthal und Michael Bode wurde ausgebessert und aufgestockt. Der Platz hinter den Stallungen von Karl Hildebrand war ein Obstgarten, an den sich bis zur Schänke ein Schräghang anreihte. Durch Anfüllen entstand der jetzige ebene Platz vor der Schänke. Da, wo heute der Tanzsaal steht, war einst der Dorfanger. Ich habe ihn nicht mehr gekannt; doch soll er noch wenige Jahre nach 1900 dort gewesen sein. Die Angerlinde hatte einen Durchmesser von ¾ Meter. Eine andere, die am Westende des Angers stand, hatte einen Stammdurchmesser von 1 ½ Meter.
Der Hang an der anderen Straßenseite, gegenüber der Schänke, war mit vielen hohen und dicken Fichten bewachsen. Darauf horsteten viele Elstern. Ein alter Birnbaum (Fühlinger Gaalbeeren) überragte mit hohem Wuchs Holunder- und Haselnussecken. Seine Früchte wurden nie gepflückt. Massenweise lagen sie im Herbst am Hang und auf der Straße. Was die Schulkinder nicht auflasen, fand Verwendung zur Schweinemast. An derselben Straßenseite, neben der noch allein stehenden Linde, breitete noch eine andere ihre Äste über Hang und Straße.
Von zwei Seitentreppen aus führte im geraden Aufstieg eine breite Steintreppe zur Kirche empor. Wegen Verbreiterung der Straße musste sie umgebaut werden. Von der oberen Linde, den Hang herab bis zum Eingang der Pfarrei, führte eine etwa 2 ½ Meter breite Steintreppe. Sie wurde abgerissen und als Ersatz der schräge Weg angelegt. Zur gleichen Zeit wurde auch der steile hang unter der Lindenreihe mit Birken bepflanzt. Imkerfreunde pflanzten als Bienenweide noch einige Akazien dazwischen. Vor einigen Jahrzehnten stürzte ein voll beladener, mit zwei Pferden bespannter Bierwagen aus Mühlhausen rückwärts von der höchsten Stelle bei der oberen Linde den Hang herab. Der Kutscher konnte sich noch durch frühzeitiges Abspringen retten. –
1908 gingen an Sonn- und Feiertagen ältere Frauen noch in Eichsfeldertracht die Straße hinauf zur Kirche. Noch mehrere Jahre später begegnete man noch vielen Frauen, die noch den weiten eichsfeldischen Kattunmantel trugen. Der Platz vor dem Hause Hedderich war noch ein Stück des alten Grabens. Als man 1907 die westliche Kirchenseite wegen eines Mauerrisses erneuerte, wurde das Grabenstück mit der ausgeschachteten Erde, altem Mörtel und Steinen zugefüllt. Während der Zeit der Bauarbeiten an der Kirche diente u.a. der Saal der Gemeindeschänke als Notkirche.
Auf dem Hofe von K. König steht noch ein zweites kleines Häuschen. Das Thriensche Haus (damals Hahn) ist eines der ältesten Häuser Lengenfelds. Es wurde 1648 gebaut.
Auf dem Gelände (der Rasen), wo heute das Kriegerdenkmal steht, standen zwei alte Birnbäume, sortenmäßig Katzenköppe und Zippelbeeren genannt. Ein Soldat, von Beruf Bildhauer, der als Kriegsverletzter im hiesigen Krankenhaus gepflegt wurde, hat während seiner Genesungszeit die Steine zum Denkmal behauen.
Auf der Stelle des Hauses von August Otto stand ein kleines Haus. Der Besitzer war Michael Wissenbach. Im angrenzenden ehemaligen Obstgarten baute sein Sohn Andreas sein jetziges Haus.
Auf angrezender Höhe steht das Geburtshaus des Heimatdichters Adam Richwien. Hier schaffte und wirkte er. Hier schrieb er seine Gedichte, Elegien, Novellen, Skizzen und das Buch „Dorfheimat“. Von hier aus trug man ihn im September 1928 zu Grabe. Am 25. April 1958, an seinem 69. Geburtstage, wurde ihm zu Ehren eine Gedenktafel am Hause angebracht. Wegen des hoch gelegenen Standortes wird dieses Haus im Volksmunde „die Spitze“ genannt. Ehemals war es von hohen Birnen-, Äpfel- und Wildkirschenbäumen umgeben. Der Hang zur Straße war mit dichten Holunder-, wilden Schneeball- und anderen wild wachsenden Hecken bewachsen. Zwei mächtige Wildkirschenbäume überschatteten die Straße. Die Mauer am Straßenrande wurde in den ersten Nachkriegsjahren des ersten Weltkrieges gebaut. Von diesem so idyllisch gelegenen Hause an war die jetzige obere Bahnhofstraße nur ein Hohlweg. An beiden Seiten standen Heckenrosen und Schwarzdornhecken.
Nachdem der Bahnhof gebaut war, wurde der Hohlweg verbreitert und in einen besseren Zustand gebracht. Bei diesen Arbeiten musste der Bildstock (erbaut 1757) zurückgesetzt werden. Neben diesem Bildstock standen eine Linde und ein Kirschenbaum. An der hinteren Wand der Nische war eine Eisenplatte mit aufgemaltem Kreuzigungsbild angebracht. Die Statuen sind erst vor einigen Jahrzehnten in die Nische gestellt worden. Wer den Bildstock errichten ließ, ist nicht bekannt. Das Grundstück, worauf er steht, gehörte 1900 dem Schmiedemeister Adam Simon. Die Annahme, dass einer seiner Vorfahren der Bauherr gewesen sein soll, kann nicht stimmen, denn die Simons sind erst um 1800 in Lengenfeld ansässig. Das eiserne Nischengitter wurde erst 1957 von dem jetzigen Besitzer des Grundstücks, Malermeister K. Weiland, angebracht. Auch die Anlage vor dem Bildstock hat er angelegt.
In meiner Jugendzeit waren auf dem Felde an der Straßenseite noch die Überreste einer Tongrube zu sehen. Wie mir von einem alten Lengenfelder erzählt wurde, hat dort die ehemalige Ziegelhütte (jetzt Hof Gustav Hildebrand) noch in den 1880er Jahren den Ton zur Herstellung von Ziegelsteinen geholt.
Im Juni des Jahres 1905 wurde mit den Bauarbeiten am Krankenhaus begonnen. Zu den ersten Schwester vom Orden des heiligen Franziskus, die einzogen, gehörte auch die lange Zeit im Krankenhaus wohnende Schwester Harlindis. Der erste Lengenfelder Kindergarten wurde von den Schwestern im Hause eingerichtet und betreut.
Im Jahre 1928 wurde das Krankenhaus durch einen Neuanbau vergrößert. Anstelle eines Fichtenzaunes wurde 1957 an der Straßenfront vor dem Hause eine Mauer gebaut. Das Krankenhaus war das erste neue Gebäude der oberen Bahnhofstraße. 1908 folgte der Bahnhof. Im ersten Jahre nach seiner Erbauung war von dem Gastwirt Hugo Richardt im Warteraum IV. Klasse eine Ausschankstelle eingerichtet worden. Als nächste Gebäude folgten das Hotel und Restaurant zum Bahnhof, die Häuser Schwehr, Weidemann und Nikolaus Fischer. Alle anderen Häuser sind nach 1925 gebaut worden.
Wie überall nimmt auch der Verkehr auf unserer Bahnhofstraße ständig zu, so dass sie mit ihren unübersichtlichen Kurven im unteren Straßenteil bald nicht mehr dem Verkehr genügen wird. Es wäre daher wünschenswert, dass man bald mit dem Bau der geplanten neuen Bahnhofstraße beginnt.
Heinrich Richwien
(in: Lengenfelder Echo, Nr. 7/1959)