Der letzte Zehntschnitter (1959)
Ich hab in der Jugend einen Schnitter gekannt,
ein leinener Kittel war sein Gewand.
Einfach und schlicht hat er gelebt
und hat die Frucht für ein Zehntel gemäht.
Als Erster am Morgen, als Letzter im Feld
hat er Garben gebunden, in Reihen gestellt.
Von der Arbeit gebeugt, schwielig die Hand –
so hab ich den alten Schnitter gekannt,
der als Letzter im heimischen Feld
für Zehntel gemäht — er war ein Held!
Reif wogt das Getreide auf den Feldern des oberen Friedatales und es knistert in der sengenden Glut der Julisonne. Im reifenden Haferfelde, am Berghange, blüht der Rittersporn und auf steinigen Stellen wuchert gelber Klappertopf. Zwischen Roggenhalmen und blühenden Kornblumen leuchtet blutroter Klatschmohn. Auf einzelnen Schlägen der Südseite stehen schon die ersten Roggenstiegen. Ich lausche in die reifende und blühende Flur – doch von nirgendwo erklingt mehr der in meiner Jugendzeit so viel gehörte und beliebte Wachtelruf. Die Wachtel ist in unserem Tale ausgestorben. Meine Gedanken umfangen in alter Erinnerung an frühere Zeiten der Ernte auch das Bild eines alten Schnitters, dem ich im achtungsvollen Gedenken diese meine Zeilen widme:
War Erntezeit, dann schritt der alte Vetter Franz – so nannten wir den Alten – mit geschulterter Sense, am Gurt die mit Wasser und Wetzstein gefüllte Wetzetute hängen, dem Felde zu, um im Zehntschnitt zu mähen. Dieses war eine Art Akkordarbeit, die nicht gegen Geld sondern für den zehnten Teil der gemähten Frucht geleistet wurde und etwas besseren Lohn als den üblichen Tagelohn brachte.
War ein Stück gemäht und aufgestellt, so kam der Gutsherr, zählte die Stiegen ab und steckte auf jede zehnte einen Busch. Diese gehörte dem Schnitter. Damit der Schnitter aber nicht im Voraus bestimmen konnte, welcher Haufen sein war, begann das Abzählen nicht am Ende der Reihe beim ersten Haufen, sondern es konnte auch beim zweiten, vierten usw. beginnen, was sich jeweils nach dem Arbeitgeber richtete. So konnte er verhüten, dass der Zehnthaufen nicht größer als die anderen wurde. Inzwischen ist ein halbes Jahrhundert vergangen, als man den letzten Lengenfelder Zehntschnitter zu Grabe trug. In der Nähe seiner Wohnstatt, die heute auch nicht mehr ist, ruht er auf dem Dorffriedhof. Der Schnitter Tod hat auch ihn, der in seinem Leben so unzählige Getreidehalme gemäht hatte, zur Mahd genommen.
Doch ein Halbjahrhundert stand nicht still. Wissenschaft und Technik brachten auch auf dem Gebiet der Landwirtschaft Fortschritt und Neuerungen. Die Motorisierung feiert auch hier ihren Sieg. Der Lärm der Traktoren tönt über die Felder.
Der letzte heimische Zehntschnitter aber schläft ruhig unter dem Heimaterde deckenden Hügel.
Heinrich Richwien
(Quelle: Lengenfelder Echo, Ausgabe 7/8 1959)