Der letzte Bischofsteiner Schüler (1946)

Als Schüler, der die Heimschule Schloss Bischofstein nur ein halbes Jahr besucht hat, steht es mir an sich nicht an, einen Beitrag zum „Rundschreiben“ zu leisten. Wenn mich Günther Hangen dennoch dazu bewogen hat, so mag dies damit gerechtfertigt sein, dass ich der letzte Bischofsteiner gewesen bin und erst im Sommer des Jahres 1946 Schloss Bischofstein verlassen habe. Zum Verständnis meiner nachfolgenden Ausführungen kann ich schon hier darauf hinweisen, dass mein Vater als Soldat eingezogen war und meine Mutter mit meiner jüngeren Schwester und mir seit dem Kriegsausbruch in Gleiwitz (Oberschlesien), der Heimat meiner Eltern, gelebt hatte. Ich bin zu Beginn des Schuljahres 1944/1945 in die 4. Klasse (Klassenlehrer: Siegfried Neue) in Schloss Bischofstein eingeschult worden.

Die Zeit dort bis zur Auflösung der Heimschule ist mir nicht leichtgefallen. Als verwöhnter und verweichlichter „Sohn aus gutem Hause“ fand ich mich plötzlich in der rauen Atmosphäre der im nationalsozialistischen Geist geführten Schule wieder. Die überstrenge, oft jedes mitfühlende Verständnis ermangelnde Führung durch die Heimleitung und der nicht immer durch Kameradschaft geprägte Umgangston unter den Schülern, der sich hin und wieder in brutalen Prügelszenen entlud, gehören zu den negativen Erinnerungen.

Andererseits sind die damals als lästig und überflüssig angesehenen Aufgaben und Lasten (z. B. Betten beziehen, und „bauen“, Stuben in Ordnung halten, Knöpfe annähen, Schuhe putzen und Küchendienst leisten) ebenso als Erziehung zum späteren Leben anzusehen wie das Erfordernis, sich gegen ältere und kräftigere Mitschüler durchzusetzen.

Von einem geregelten Schulunterricht konnte in dieser Zeit hier keine Rede sein. Wegen häufiger Ernteeinsätze im Dorf und einiger Schanzeinsätze von Lehrern am Westwall fielen viele Unterrichtsstunden aus. Bis zur Auflösung der Schule war ich „bei schwachen Kräften ausreichend bemüht“ (so das Zeugnis vom 26.03.1945), die Versetzung zu erreichen. Dazu sollte es jedoch nicht mehr kommen.

Der sich abzeichnende Zusammenbruch des Dritten Reiches hatte schon die Mehrzahl der Mitschüler bewogen, die Osterferien zu nutzen und sich nach Hause abzusetzen; dieses Bestreben hatte auch nach der Besetzung Thüringens durch die Amerikaner angehalten. So kann es nicht verwundern, dass der Befehl eines einrückenden Kommandos zur Räumung der Schule am 19. April 1945 nur noch einen kleinen Personenkreis betraf. Unter Leitung des Schuldirektors „Bobbi“ Schmidt brachten wir Übriggebliebenen nicht nur unsere persönliche Habe, sondern auch Matratzen und Essensvorräte in das Schulgebäude im Dorf, das uns nun Heimstatt wurde. In ausgeräumten Klassenzimmern wurden die Matratzenlager errichtet. Dank der mitgebrachten reichlichen Vorräte litten wir keine Not, jedoch lastete die Ungewissheit der Zukunft über uns aus Schloss Bischofstein Vertriebenen und drückte auf die Stimmung.

Eines Tages eröffnete mir Schuldirektor Schmidt, dass er beabsichtige, mit dem Rest der Schüler in Richtung Westen aufzubrechen; ich könne mich ihm anschließen, obwohl ich ja kein Ziel habe, das ich anlaufen konnte. Die mir angebotene Alternative war, in Lengenfeld beim Lehrer Georg Leister in dessen Wohnung im Schulgebäude zu bleiben. Dieser habe sein Einverständnis erklärt. Nach reiflicher Überlegung entschloss ich mich zu Letzterem, denn wo hätten mich meine Eltern sonst suchen sollen. Beim Abschied von den Aufbrechenden am 8. Mai 1945 heulte ich erbärmlich, denn nun war ich Vierzehnjähriger allein auf mich gestellt. Wochenlang lebte ich bei dem Lehrer, der sich sehr um mich gekümmert und mir Mut zugesprochen hat, dass ich sicherlich bald abgeholt werden würde. Ob er wirklich daran geglaubt hat – bei diesen chaotischen Zuständen in dieser Zeit und bei dem ungewissen Schicksal meiner Eltern?

Aber das so lange Ersehnte trat ein: Eines Tages kamen über Landstraßen zu Fuß (die Eisenbahnverbindung nach Lengenfeld bestand ja nicht mehr) meine Mutter und Schwester mit einem Handwagen, der die gerettete Habe enthielt, und erlöste mich aus meiner misslichen Lage. Wir bekamen dann neben anderen Flüchtlingen in dem zwischenzeitlich wieder freigegebenen Schloss Bischofstein die aus zwei Zimmern bestehende Lehrerwohnung gegenüber den Schlafsälen als Bleibe zugewiesen.

Dort lebten wir, manchmal in Nachbarschaft mit russischen Soldaten, die vorübergehend in den Schlafsälen Quartier bezogen hatten, bis Juni 1946. Dann überschritten wir bei Nacht die Demarkationslinie und schlugen uns durch die Wälder nach Wanfried durch, um mit meinem Vater, der aus Kriegsgefangenschaft nach Kassel entlassen war, zusammenzutreffen. Dass es ein Abschied von Schloss Bischofstein für 44 Jahre sein sollte, hätte ich mir damals nicht träumen lassen.

Eberhard Wennrich
(Schüler der Internatsschule Bischofstein von 1944 – 1945)
(Quelle: "Bischofsteiner Rundschreiben", Weihnachten 1990, S. 16)

Nachtrag:
Dr. Eberhard Wennrich besuchte anschließend bis zum Abitur 1952 die Wilhelmschule in Kassel. Er ist dort heute (1990) Vorsitzender Richter am Hessischen Finanzgericht.