Der kleine Waldfriedhof (1990)

So viele Menschen hat der kleine einsame Wald­friedhof auf dem Kuhpalais lange nicht mehr gesehen. Noch im März lag er vergessen in der Wildnis, der Weg dorthin zugewachsen, die Umrandungsmauern niedergebrochen und die Gräber teilweise vom Unkraut überwuchert. In der Sperrzone konnte keiner der Angehörigen oder Freunde die Grabstätten besuchen. Am Totensonntag und zu Weihnachten gingen die treuen Walther und Else Fuchs hinauf, wanden sich durch die Dornensträucher, befreiten die Gräber der Menschen, die ihnen so viel mitgegeben hatten vom Laub und schmückten sie mit Kränzen und Totenlichtern.

Inzwischen haben die Mitarbeiter des zum Hotel umgewandelten Schlosses den Friedhof wieder freigelegt, die Mauern aufgerichtet und den Weg von Sträuchern geräumt. Man kann sogar am Waldrand entlang mit dem Wagen bis kurz vor den Friedhof heranfahren.

Der kleine Friedhof war einst Teil des Gutsbezirkes. Die Besitzer und Pächter sowie ihre Mitarbeiter hatten die Erlaubnis, ihre Toten hier und nicht auf dem Dorffriedhof zur letzten Ruhe zu betten. Als Dr. Marseille das Schloss 1907 erwarb, ließ er den Friedhof, auf dem die Gräber eines Vorbesitzers Müller lagen, um einen Teil erweitern.

Über seiner Grabstelle erhebt sich ein Obelisk, auf dem die Daten des Gründers unserer Schule und der hier begrabenen Angehörigen eingemeißelt sind. Dr. Gustav Marseille (1865-1917), der große Pädagoge, im hessischen Homberg/Efze geboren, studierte Theologie und Philosophie, war dann an verschiedenen Schulen in Deutschland und England tätig, ehe er am 1.Januar 1908 das Landschulheim Bischofstein eröffnete und es in seinem Sinne dem Dienst jugendlichen Menschentums ausbaute. Eine Lungen- und Rippenfellentzündung, die er sich bei der Feldarbeit im strömenden Regen zugezogen hatte, beendete das Leben dieses rastlos tätigen Mannes am 6. November 1917. Begraben liegen hier auch die Eltern seiner zweiten Frau, Eduard Vohwinkel (1847-1916) und Auguste Vohwinkel geb. Pieper (1851-1918) sowie die beiden Söhne aus erster Ehe, Ernst Marseille (1902-1918), der bei einer Ferienreise zu Freunden in der Warthe bei Posen ertrank und Wolfgang Marseille (1905-1918), der kurz darauf im Krankenhaus Eschwege an der damals sehr verbreiteten Diphtherie verstarb. Der älteste Sohn Walter, der letzte Besitzer von Bischofstein ist 1975 als bekannter Psychotherapeut in München verstorben.

Dr. Wilhelm Ripke (1886-1965), in Dorpat als Sohn eines Professors geboren, mit Abitur in Petersburg und Promotion in Heidelberg im internationalen Kulturkreis aufgewachsen, war eine einmalige Persönlichkeit. Der universell gebildete und vielseitig interessierte Mann war uns ein absolutes Vorbild. Als sprachgewaltiger Interpret klassischer und moderner Literatur und als Träger von Hauptrollen unseres Theaters vermittelte er uns eine Begeisterung für das kulturelle Schaffen. Dabei war er ein naturverbundener Mensch, ein Freund der Tiere und passionierter Jäger und Heger. Schweren Herzens verließ er Mitte September 1963 Bischofstein, wo er sich nach dem Tod seiner Frau immer mehr vereinsamt fühlte. Dank der großzügigen Hilfe von Arnd v. Jagow fand er in Hannover ein neues Heim. Dort ist er am 05.03.1965 gestorben, betrauert von all seinen Schülern. Seine Urne wurde in Bischofstein unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt. Wie Jürgen Mahrenholz bei seiner Gedenkrede am Grab ausführte, hatte Ripke nicht mehr an die Wiedervereinigung glauben können und sei überzeugt gewesen, dass kein Schüler mehr an seinem Grab stehen würde. Daher änderte er in seinem Testament den ursprünglich vorgesehenen Grabspruch „Alles Getrennte findet sich wieder“ in

„Ihr glücklichen Augen,
was je ihr geseh'n,
es sei wie es wolle
es war doch so schön.“

Er ruht neben seiner Frau Hedwig Ripke verw. Marseille geb. Vohwinkel, mit der er seit 1923 in einer harmonischen Ehe in hoher geistiger Partnerschaft verbunden war. Die am 10.07.1881 in Düsseldorf geborene hatte sich ganz dem Theater verschrieben. Die Reinhardt-Schülerin war sehr erfolgreich gewesen in klassischen Rollen, ehe sie Gustav Marseille kennen lernte und von ihm für die Aufgabe begeistert wurde, junge Menschen auf den Weg ins Leben zu führen. Ohne eigene Mutterschaft umfing sie uns alle in gleicher Mütterlichkeit. Unvergessen vor allem ihre schöpferische Leistung als Führerin der Regie und Darstellerin weiblicher Hauptrollen unserer kleinen Laienbühne. Sie glaubte an das Gute im Menschen und klagte auch nicht, als ihr Alltag immer unerfreulicher wurde. Am 10. April 1954 ging ihr Lebensweg zu Ende.

Auf der anderen Seite, dem Schloss zu, findet sich die Ruhestätte der Familie Bonus. Arthur Bonus (1864-1941) und seine Frau Beate geb. Jeep (1865-1954) stammen aus Pfarrerfamilien. Nach ihrer Hochzeit 1895 erlebten sie glückliche Jahre im Pfarrhaus von Groß Mukrow/Spreewald, wo auch beide Kinder Helga und Heinz geboren wurden. Nach einem Unfall musste Arthur, erst 40-jährig, in den Ruhestand gehen. Er widmete sich fortan ganz der Schriftstellerei. Gemeinsam mit seiner Frau, die zunächst eine Ausbildung als Malerin an der Münchener Akademie erhalten hatte, machte er die skandinavische Sagenwelt und insbesondere das isländische Schrifttum in Deutschland sehr volkstümlich. Beide lebten zunächst in Dresden, später in Florenz und München, ehe sie im November 1923 nach Bischofstein gelangten, wo ihr Sohn Heinz sein Abitur abgelegt hatte. Arthur gab anfangs den Oberklassen Religionsunterricht und hielt Sonntagsandachten, während Beate die Blumen und Sträucher des Parks pflegte. Beide waren in ihrer stillen hilfsbereiten Art sehr beliebt. Schwer trugen sie am Unfalltod der Tochter Helga bei einem Fenstersturz. Arthur Bonus starb am 6. 4. 1941, Beate, die ein Buch über ihre Maler-Freundin Käthe Kollwitz verfasst hatte, übersiedelte 1952 in das Evangelische Altersheim Kloster Zella, wo sie am 22.2.1954 verstorben ist. Auch sie ruht auf dem Bischofsteiner Friedhof.

Ein anderes liebenswertes Ehepaar ist auf der Seite zum Weg hin beigesetzt, Arthur und Ella Prüger. Arthur Prüger (1862-1923) war in Bischofstein Musiklehrer, ein begnadeter ausübender Künstler und Musikpädagoge. Er besaß eine große Schallplattensammlung klassischer Werke. Seine Frau Ella überlebte ihn um 17 Jahre. Sie blieb als Hausdame im Schloss und kümmerte sich liebevoll um die jüngsten Schüler. In dem von ihr betreuten Schlafsaal sorgte sie rührend für die Kleinen und brachte sie frisch gewaschen mit einem Nachtgebet und Gute-Nacht-Kuss in den Schlaf. An ihrem Tisch lernten sie „vornehm“ essen. 25 Jahre lang blieb sie mit Bischofstein verbunden. Zuletzt war sie nach einem Schlaganfall behindert und ging am Stock durch den Garten. Ihre Blumenkästen vor dem Fenster leuchteten immer in funkelnder Pracht. Am 3.7.1940 ist sie still entschlafen. Bei der Beerdigung war ihr Sohn Walther, der zwei Jahre später als Staffelkapitän eines Stuka-Geschwaders nach über 300 Feindflügen abstürzte und ihre in Westfalen verheiratete Tochter Resi Heckmann anwesend.

Zwischen den im höheren Alter verstorbenen Bischofsteinern befindet sich auch ein Kindergrab, das von Klaus Natorp. Das am 10.6.1922 geborene erste Söhnchen des Zeichenlehrers Fritz Natorp und seiner Frau Hilde geb. Erbe verstarb einen Monat später an Keuchhusten. Der Familie wurden später noch drei Töchter geboren Christel, Gertrud und Adelheid, die ebenso wie ihre Eltern nach ihrer Übersiedlung nach Schmalkalden mit Bischofstein eng verbunden blieben.

Ein Grabstein sagt uns ehemaligen Schülern wenig. Hier fand Frau Martha Linnenkugel (1884-1950) ihre letzte Ruhestätte. Sie war die erste Heimleiterin des Erholungsheims der Gewerkschaft von 1948-1950 und im Gegensatz zu späteren Nachfolgerinnen mit Ripkes freundschaftlich verbunden.

Auch zwei Bischofsteiner Schüler liegen auf dem kleinen Waldfriedhof: Carlos Delgado y Roses, einer von zwei Söhnen, die der Hafenkommandant von Palma de Mallorca nach Bischofstein zur Ausbildung gegeben hatte. Der 14-Jährige erkrankte an einer rätselhaften fiebrigen Blutinfektion. Auch an den Göttinger Kliniken fand man die Ursache des schnellen Verfalls nicht. Er starb dort am 27. 2. 1922. Die Überführung in die Heimat wurde von den deutschen Behörden wegen der Infektionsgefahr verboten. Erst 1933 konnten die angereisten Eltern die Exhumierung durchsetzen. In einem Spezialsarg wurden die sterblichen Überreste nach Palma überführt.

Besonders tragisch ist das Schicksal des hier bestatteten Schülers W. Bischoff. Der 11-Jährige war mit wenigen Schülern, darunter Joachim Düsing, Heinrich Kegel, Georg Heuser und Eberhard Wennrich noch in Bischofstein anwesend, als die amerikanischen Truppen am 4. Mai 1945 einrückten. Beim angeordneten Sammeln von Kräutern für die Sanitätsgruppe fanden sie im Gebüsch eine Handgranate. Ahnungslos zog einer die Zündschnur, auf seinen Schrei ging alles in volle Deckung. Nur der Kleinste hatte dies nicht verstanden und wurde von einer Vielzahl von Splittern voll getroffen. Er starb noch an der Unfallstrecke. Erschütternd war, dass kurz nach dem Unglück der Vater des Jungen von Kassel angeradelt kam, um den Sohn abzuholen und ihn nun in der Schule aufgebahrt vorfand. Bei der Beisetzung auf dem kleinen Friedhof waren alle in Bischofstein Anwesenden zugegen, es fielen viele Tränen.

Inzwischen wurde es nach den Tagen des Treffens wieder still auf dem kleinen Friedhof. Die alten Buchen rauschen im Wind und werfen ihre Blätter und Früchte auf die einsamen Gräber. Und bald wird der Winter seine weiße Decke breiten über die letzte Ruhestätte einiger Menschen, die in Bischofstein ein Stück ihres Lebensweges gegangen sind.

(Quelle: „Bischofsteiner Rundschreiben“, Weihnachten 1990, S. 8-9)