Der große Tag an der Grenze (1990)

Der Tag des „Deutschen Wunders“ ist nun schon ein Jahr vorbei. Es hat sich in der Zwischenzeit so viel ereignet, an Erfreulichem und weniger Erfreulichem, an Überraschungen positiver – sowie negativer – Art, an Erinnerungen an längst vergangene Zeiten, aber auch an die große Gewissheit, dass die Talsohle und damit das Ende der deutschen Zweistaatlichkeit erreicht ist, und man nun nach 45 Jahren „Nachkriegszeit“ wieder daran gehen kann, ein einiges Deutschland aufzubauen. Ein „Paradies auf Erden“ wird es sicher auch nicht werden, wie vielleicht manche Bürger aus der ehemaligen DDR es sich in kürzester Zeit erhoffen (auch unsere Bundesrepublik hat ja immerhin 15 Jahre gebraucht, bis sie den Tiefstand von 1945 einigermaßen überwunden hatte), aber es wird sicher wieder wert sein, im anderen Teil Deutschlands zu leben. Am schwersten werden sich bei der Umstellung auf die neuen Verhältnisse die Menschen tun, die nicht mehr jung genug sind, sich den Erfordernissen schnell anzupassen, aber noch nicht alt genug, um als Rentner und Pensionär die angenehmen Dinge des zweifellos erhöhten Lebensniveaus genießen und sich daran erfreuen können.

Aber darüber sollte ich eigentlich gar nicht schreiben, sondern Günther Hangen hatte mich gebeten, vielleicht doch noch einmal über die Stunde X zu berichten, die wir ja hier in Wanfried, wie kaum in einem anderen Ort entlang der unseligen Grenze, so hautnah miterlebt haben. Der Übergang „Katharinenberg“ war ja der erste, an dem man am 12. November 1989 (dem Stichtag) in beiden Richtungen ohne Pass oder Kennkarte hin- und herüber gehen konnte. An späteren Tagen brauchte man dann wieder von der BRD in die DDR den Reisepass. Seitdem 1. Juni ist nun alles offen: ohne Grenzkontrollen und Zoll!


Und so habe ich diesen Tag erlebt:
Sonntag, 12.11.1989. Um 7:30 Uhr ging die Haustürklingel auf dem Kalkhofund als ich verschlafen runterging und öffnete (wir stehen immer am Sonntag erst um 8.30 Uhr auf), stand unten ein Offizier vom Bundesgrenzschutz Eschwege, den ich persönlich gut kannte, und fragte mich, ob er einen Kommandowagen an unsere Telefonleitung anschließen und gleichzeitig unser Licht benutzen dürfte. Auf meine Frage, was für ein Anlass mir denn die hohe Ehre seines Besuches verschaffe, sagte er nur ganz erstaunt: „Ja, haben Sie denn die 6 Uhr Nachrichten nicht gehört?“. Als ich ihm dies verneinte mit dem Hinweis, dass ich am Sonntag um 6 Uhr noch schlafen würde, klärte er mich darüber auf, dass ab Mitternacht die Grenzen geöffnet, die Straßen geebnet und ab Mittag auch die Autos fahren könnten. („Ich dachte, mich tritt ein Pferd!“)

Als ich um 9:30 Uhr (etwas verspätet) in unsere Kirche kam, sang die Gemeinde das Lied „Nun danket alle Gott“ und unsere Pfarrerin ging in der Predigt auf das heutige große Ereignis ein. Aber das eigentliche Wunder erlebten wir, als nach der Kirche uns auf halbem Weg zum Kalkhof (die meisten von Euch kennen ja den Weg) die Kapellen aus den Orten Katharinenberg und Diedorf (auch an der Grenze) begegneten, dahinter hunderte Menschen zu Fuß und alle sangen „Großer Gott wir loben dich“. Wir standen am Wegrand und uns liefen die Tränen über die Backen, ich weiß nicht, ob es Freude oder Rührung oder sonst etwas war, geschämt haben wir uns alle nicht.

Als dann noch einzelne mit Blumen (im November) auf uns zugingen und uns umarmten, da hatte man das Gefühl, etwas Einmaliges erlebt zu haben. Ich erinnerte mich an die Erzählung meiner Großmutter, die noch im Jahre 1928 den Sedanstag feierte (2. 9.1870) als das größte Erlebnis ihres damals noch jungen Lebens. Sie stammte aus dem Rheinland und erzählte, dass sich auch da wildfremde Menschen auf der Straße umarmt hätten und sie bei dieser Gelegenheit auch meinen Großvater, der in Bonn in einem Lazarett lag, kennengelernt hätte. Beides mal war der Anlass: das freudige Ende nach einem Krieg bzw. kriegsähnlichem Zustand. Der Unterschied bestand nur darin, dass es 1870/71 ein gewonnener Krieg und 1989 ein verlorener Krieg 1939/45 war. Die Gefühle der Menschen sind wohl beide Male die gleichen gewesen.

Das besondere an unserem Grenzabschnitt ist die starke Verbindung verwandtschaftlicher Art, die seit jeher zwischen dem Ostteil von Hessen und dem westlichen Thüringen, ganz besonders dem Eichsfeld bestanden hat. Wanfried – Altenburschla – Heldra waren bis zum Krieg viel stärker nach Mühlhausen orientiert als nach Eschwege, und zwischen Großburschla (DDR) und Altenburschla (BRD) war eigentlich nur die Werra, der schmale Trennungsstreifen zwischen „Vettern und Cousinen“ in beiden Orten. Der Bahnhof von Großburschla lag auf BRD-Gebiet (wurde 1945 nicht ausgetauscht).

Am Abend des 12. November bin ich dreimal mit Fußgängern aus der DDR, die nach Wanfried gekommen waren und nun nach Hause gingen, nachdem sie ihr Begrüßungsgeld abgeholt hatten, nach Mühlhausen, Heyerode und Eigenrieden gefahren. Das letzte Mal war es kurz vor Mitternacht, und ich bin dann bei vollkommener Dunkelheit über Struth schnell noch mal durch Lengenfeld gefahren. Von Bischofstein habe ich nichts mehr gesehen. Das habe ich dann einige Tage später nachgeholt und bin mit Walther Fuchs nach genau 40 Jahren wieder durch das Bischofsteiner Tor auf den Hof gegangen.

Man musste wohl alt werden und in der Jugend viel Schönes erlebt haben, um an dieser alten Wirkungsstätte mit so vielen Gefühlen des Dankes konfrontiert zu werden. Ich denke, dass es vielen von uns so ergangen ist.
 

Nun ist es, wie es früher war –
für uns noch gar nicht vorstellbar,
dass Dörfer, die im gleichen Raum,
getrennt nur durch ’nen bösen Zaun
und abgeschieden von der Welt –
man wieder in den „Armen“ hält!

Es sind genau nun 40 Jahr’ –
plus 5 – dass es hier offen war
und keiner glaubte je daran,
dass sich sobald was ändern kann.

Es ist wohl ein Geschenk von „Oben“,
drum sollen wir auch den Herren loben
und danken, wie wir’s immer tun
und heimlich fragen: Gott - was nun?

Gehabt’ Euch wohl – zum Weihnachtsfest
und neuem Jahr – wünsch ich das Best’,
dass alles in Erfüllung geht,
was Ihr Euch wünscht, mal früh – mal spät!
 

Wolfgang von Scharfenberg
(Quelle: „Bischofsteiner Rundschreiben“, Weihnachten 1990, S. 2 – 3)