Der Schampanjesmann

Der Schampanjesmann

Der Schampanjesmann ist eine auf der eichsfeldischen Höhe allgemein bekannte Gespenstererscheinung. Über denselben weiß der Volksmund zu erzählen:

Vor vielen Jahren stand auf der Westseite des Ochsenkopfberges, der in der Büttstedter Flur liegt und von dem die Leute heute noch behaupten, dass sein Inneres mit großen Wassermengen gefüllt sei, ein schönes Schloss. Der üppige Pflanzenwuchs der Umgegend mehrte den Reichtum des Besitzers von Tag zu Tag. Aber der Schlossherr, dessen Namen uns die Sage verschwiegen hat, war ein habsüchtiger Mann, der stets nur seinen eigenen Vorteil im Auge hatte, gegen Arme und Hilfsbedürftige aber immer hart und grausam war. Auf der Südseite des Heiderbergs, halbwegs zwischen dem "Reichslehen Strouth" und dem Dorfe Bickenriede lag nun zu dieser Zeit der Freihof Zoighe. Dort kehrte dazumal im Oktober des Jahres tiefe Trauer ein. Berchta, die einzige Tochter des alten Herrn von Zoighe, war auf der Wolfskutte beim Kloster Anninrod von einem Wolf angefallen worden.

Zwar hatte der Förster des Klosters das Tier noch zur rechten Zeit mit einem Speer niedergestreckt und so das Schlimmste verhütet; aber furchtbar hatte das arme Kind unter den Bisswunden der Bestie zu leiden; zumal sich ein starkes Fieber eingestellt hatte. "Hedde", sprach deshalb der Vater des kranken Mädchens zu seinem siebzehnjährigen Sohn, "Hedde, reite schnell zu meinem Bruder Axel in der Stadt zum Stein, unter der Burg zum Stein gelegen, und verkünde ihm das Geschehene; vielleicht vergisst er unsern alten Hass und kommt, um dem Kinde zu helfen." Nach kaum einer Viertelstunde stand Hedde reisefertig da, zog den Rappen aus dem Stall, ritt hinaus nach Strouth, um dann mit verhängten Zügeln nach dem Hofe seines Onkels zu reiten. Dort angelangt, schlug er dreimal mit dem Klopfer auf das Türeisen. Der Onkel öffnete und war hocherfreut, seinen Neffen vor sich zu sehen. Schnell wurde der Gast an den Herd des Hauses geführt und mit Brot und einem Stück Hirschbraten bewirtet. Hedde aber brach plötzlich in Tränen aus und berichtete über das Unglück der Schwester.

Nur auf das eifrige Zureden der Verwandten war er zu bewegen, eine kleine Stärkung zu nehmen, um dann auf seinem Hengst wieder heimzureiten. Axel, der Kräutermann – wie er in der Umgegend nur hieß – kannte alle die wunderbaren Kräuter und Pflanzen, die ein unfehlbares Heilmittel gegen Krankheiten aller Art waren, selbst gegen Gift und Zauberei. "Weib", sprach er, lass uns den alten Erbstreit vergessen. Wir wollen die Feindschaft begraben; hole schnell den Arzneischatz, ich gehe hinauf, um dem armen Kinde zu helfen." "Das ist brav, lieber Mann", entgegnete seine Frau. Schon längst hatte sie auf den Tag gewartet, an dem sich die Brüder die Hand der Versöhnung reichen möchten. Während sie das Gewünschte holte, nahm Axel aus einer Schublade fünf Kuckucksknöchelchen, warf sie empor und fing sie geschickt mit dem Rücken der rechten Hand wieder auf. Sorgfältig betrachtete er deren Lage. Noch einmal warf er die Knöchelchen empor, um sie in derselben Weise wieder aufzufangen und ihre Lage festzustellen. Dem mit dem Arzneischatz eintretenden Weibe aber rief er freudestrahlend entgegen: "Mistel und Krötenherz!" Der Arzneischatz wurde sorgfältig durchsucht und die Mistel herausgenommen; doch das Herz der Feuerkröte war nirgends zu finden. Feuerkröten gab es nur am Stuffenberge, und zwar an einer Stelle, die beim Volk "Stuffensloch" heißt.

Dorthin musste er also, um das Heilmittel zu bekommen, und eiligst machte er sich auf den Weg. Am Fuße des Berges angelangt, suchte und suchte er, aber keins der Tiere ließ sich sehen, und doch musste er das Krötenherz haben, sollte nicht das kranke Mädchen dem Tode gehören. Es hieß also für ihn: hinauf zur Bergeskuppe. Glücklicherweise fand er auch dort bald das gesuchte Tier. Mit gewandtem Griff fasste und zerlegte er es unter Aufsagen des Spruches:

"Mistel grün und Kröte rot –
Bewahrt das Mägdlein vor dem Tod."

Das Herz des Tieres verbarg er sorgfältig unter der Kleidung und eilte seiner Wohnung zu. Mittagszeit war längst vorüber und die Sonnenkugel hinter der Stuffenskuppe verschwunden, als er wieder zu Hause anlangte. Bis zum Eintritt der Dunkelheit waren es aber noch zwei Stunden, und so entschloss er sich auf Bitten seines Weibes, noch heute hinauf nach Zoighe zu gehen. In zwei Stunden hatte er schon mehr als einmal den Weg dorthin zurückgelegt; rüstig schritt er aus, schwang sich mit seinem langen Knotenstock über die Frieda, und hinauf gings in den nördlich gelegenen Hochwald. Bis zum Uhlenstein bei Bartloff war im jeder Schritt und Tritt bekannt; hatte er doch hier wiederholt seine heilkräftigen Kräuter gesammelt. Heute war’s ihm – zum erstenmal in seinem Leben – unheimlich in der Gegend; je höher er hinaufstieg, um so mehr geriet er in einen grauen Nebel, der um diese Zeit auf der eichsfeldischen Höhe nicht selten anzutreffen ist. Nur langsam kam er weiter; immer dichter und zäher, immer undurchdringlicher wurde der Dunst. Ab und zu gerieten die grauen Massen in Bewegung, schoben sich schichtweise ineinander oder ballten sich zu Klumpen, um dann wieder auseinander zu flattern. Zwei lange und bange Stunden war der Kräutermann bereits im Walde unterwegs, und immer noch nicht zeigte sich das Ende; es war ihm klar, er hatte sich verirrt. Da tönte dumpf und schauerlich des Wächters Horn aus Effelder herüber; ein Zeichen, dass die Dorftore geschlossen wurden. Er ging den Tönen nach und gelangte endlich an den Rand des Waldes.

Inzwischen hatte sich die Nacht düster über das Feld gesenkt und die Gegend in tiefes Dunkel gehüllt. Trotzdem hieß es für Axel: weiter und weiter. Wo war er nur? Weit und breit sah er weder Baum noch Strauch, rabenfinster war es, und ab und zu nur war unheimliches Eulengeschrei zu hören. Da schimmerte aus weiter Ferne ein schwacher Lichtschein. Fast hörbar schlug ihm das Herz vor freudiger Erregung. Dorthin – ich bin gerettet! Doch was war das? "Kuwitt! Kuwitt!" sauste es an ihm vorbei. "O Gott – der Leichenvogel! Er verdoppelte seine Schritte und steuerte dem Lichtschimmer zu. Immer kleiner wurde die Entfernung, immer deutlicher der Lichtschein. Jetzt stand er vor einem hellerleuchteten Schloss. Drinnen gings lustig zu. Der Schlossherr und seine Kumpane von Bischofstein und Gleichenstein hatten sich wieder einmal zum fröhlichen Zechgelage vereint, beim dem der Wein in Strömen floss.

Der Kräutermann pochte und pochte; niemand schien ihn zu hören. Endlich erschien ein Diener, und der zu Tode erschöpfte bat flehentlich um ein Stück Brot und Obdach. Doch kaum hatte dies der trunkene Schlossherr vernommen, als er auch schon den Ärmsten fortpeitschen und den Hofhund im nachhetzen ließ, der den Verirrten schrecklich zurichtete. Noch bis zur Strouther Grenze vermochte sich der Unglückliche zu schleppen, dort aber stürzte er nieder und war tot. Der Freveltat aber folgte die Strafe auf dem Fuße. In demselben Augenblicke brach ein fürchterliches Unwetter los. Der Regen floss in Strömen; schwarzes Gewölk umhüllte das Schloss; fürchterlich rollte der Donner, und flammende Blitze durchzuckten die Luft. Ein entsetzlicher Sturmwinddurchraste die Gegend, und im Inneren des Ochsenkopfberges ließ sich ein Rauschen und brausen vernehmen wie das Toben eines aufgeregten Meeres. Am anderen Morgen aber war das Schloss verschwunden, und eine große Wasserfläche bedeckte die Stelle, wo der Schlossherr seine entsetzliche Tat hatte ausführen lassen. Der Himmel hatte Gericht gehalten, und das Volk nannte den See Spon- oder Spanniersee = Gerichtssee.

Seit dieser Zeit sollen sich dort allerhand Spukgeschichten abspielen. So fährt allnächtlich von zwölf ab der Schlossherr in einer von vier schwarzen Pferden gezogenen Kutsche, der ein großer Hund nachläuft, um den See und beschließt seine grauenvolle Fahrt, indem er um ein Uhr im See verschwindet. Aber auch der Ermordete scheint seine Ruhe noch nicht gefunden zu haben. Wiederholt ist er sowohl bei Nacht wie am Tage gesehen worden, wie er von Lengenfeld kam und bei der Schampanjesbuche den Wald verließ. Von dort hält er die Richtung nach dem Spanniersee ein. Hier ruht er auf der nördlichen Seite des Sees auf einem Grenzstein in der Ruibestede, umgeht dann den See auf der Ostseite und verschwindet an der Struther Grenze. Beherzte Männer wollen ihn angeredet haben; aber nie war er zum Sprechen zu bewegen. Allgemein bekannt ist er unter dem Namen Schampanjesmann.

Noch vor einigen Jahrzehnten beschrieb ihn ein bejahrter Mann aus Büttstedt folgendermaßen:
"Der Schampanjesmann ist ein baumlanger Kerl mit schmalem, hageren Gesicht und einem Knebelbart. Den Kopf bedeckt ein dreieckiger Hut. Bekleidet ist er mit ledernen Kniehosen, schwarzen Strümpfen und blauem Wams. Darüber befindet sich ein Beiderwandsrock mit breiten Klappen. An den Füßen trägt er große Schnallenschuhe und in der Hand einen langen Knotenstock."