Der Hülfensberg die Werra grüßt ... (1957)
Schon vor Jahrhunderten bestiegen unsere Ahnen den heiligen Berg
Wie tief der Hülfensberg im Heimatbewusstsein der Eichsfelder verwurzelt ist, erfährt man am eindringlichsten im Verkehr mit abgewanderten Landsleuten. Es geht aus ihren Briefen hervor, zeigt sich aber auch gelegentlich bei den Festen der Landsmannschaften. Auf ihren Fahnen lassen die Eichsfeldervereine das Bild des Berges in Verbindung mit St. Bonifatius sticken. Und wenn ein Festredner an den Hülfensberg erinnert oder gar Aufnahmen auf die Leinwand wirft, so wird er immer beobachten, dass nicht nur Frauen mit den Tränen ringen. Sicherlich ist es auch kein Zufall, dass auf dem Umschlag der „Heimatstimmen“, der Zeitschrift des Bundes der Eichsfeldervereine, regelmäßig eine Darstellung des Hülfensberges erscheint.
1939 starb in der brasilianischen, von vielen Deutschen bewohnten Stadt Porto Alegre, der 76-jährige, aus Küllstedt stammende Jesuitenpater Gustav Hupe. Er war jahrzehntelang Professor an einem großen Gymnasium und Herausgeber der deutschsprachigen „Sonntagsstimmen“, ein bedeutender Gelehrter. Dieser große und gefeierte Mann hing mit herzlicher Liebe an der alten Heimat, ganz besonders am Hülfensberg. Viele andere Männer und Frauen mit Namen könnten wir nennen. Ergreifender als Beispiele treuer Anhänglichkeit ist jedoch die Tatsache: In Hannover lebt ein Rentner, der auf dem Eichsfeld aufwuchs, hier jedoch keine Angehörigen mehr hat. Von Zeit zu Zeit packt den alten Mann das Heimweh. Er setzt sich in einen Zug und fährt werraaufwärts am Hanstein vorbei und kommt über Eschwege bis Wanfried. Dort steigt er aus, blickt lange zum Hülfensberg hinauf und reist – zurück.
Von ungefähr kam es auch nicht, dass Franz Herwig seinen „Namenlosen“ auf dem Hülfensberg schrieb und den Helden seines Berliner Romans „Die Eingeengten“ im Angesicht des Berges sterben ließ. Und wir glauben zu wissen, dass der jüngere Dichter Franz Johannes Weinrich manche Anregung vom Hülfensberg empfangen hat. Der Eichsfelder in der alten Heimat liebt seinen Hülfensberg nicht minder herzlich. Ein Beweis ist die nicht selten mit großen Opfern und Anstrengungen verbundene Teilnahme an den Wallfahrten. Nicht den Schriften von Wolf und Löffler, nicht dem wissenschaftlichen Streit um Bonifatius, auch nicht den gutgemeinten Veröffentlichungen von Pfarrer Ludwig Osburg und Aloys Höppner oder Ostendorf und nicht den liebevollen Büchern von P. Maternus Jungmann und P. Hermann Schwethelm oder Hermann Röhrig verdankt der Berg seine gewaltige Anziehungskraft: Es ist das religiöse Erlebnis, das jeder Besuch vermittelt, nicht zuletzt auch die unbestreitbare Wahrheit, dass schon vor Jahrhunderten unsere Ahnen den heiligen Berg bestiegen haben, um dort zu danken und zu bitten.
Kein Mensch, der sich jemals mit dem deutschen Wesen auseinandergesetzt hat, wird daran zweifeln, dass der Hülfensberg bereits im Altertum eine Kultstätte gewesen ist. Lage und Form allein bürgen schon dafür. Sitzt man im Flugzeug, so ist dieser Bergkegel neben dem Rusteberg, dem ehemaligen politischen Mittelpunkt, schon sichtbar, wenn in westlicher Richtung Kyffhäuser und Harz erreicht sind. Steht der Wanderer auf den Höhen bei Kalteneber und Dieterode, auf dem Warteberge bei Heuthen-Flinsberg, auf dem Madeberg und der Kuhtrift bei Küllstedt oder auf dem Gobertrücken, immer hat er vor sich das traute Bild des Hülfensberges. Und kommt er aus dem Hessenlande, so braucht er nur einen klaren Tag, um beim Überschreiten des Hohen Meißners den eichsfeldischen Wallfahrtsort begrüßen zu können, auf den im Schwalbental ein Wegweiser zeigt. Sind Abterode und Weidenhausen durchschritten, so steht plötzlich das wunderbare Panorama der Werraberge mit der Hörne und Silberklippe, dem Greifenstein, der Keudelskuppe und der Plesse im Gesichtsfeld. Den Mittelpunkt aber bildet der Hülfensberg, von der aus dem Thüringer Land herabströmenden Werra und der eichsfeldischen Frieda umspült. Es grüßen ihn Eschwege mit den Leuchtbergen und der blauen Kuppe und das freundliche Städtchen Wanfried. Gern sind in alten Zeiten Hanseaten zum Hülfensberg gepilgert, gern die Hessen zu ihm herübergekommen. Wiederholt haben wir daran erinnert, dass die preußische Regierung schon bald nach der Übernahme des Eichsfeldes in ihren Machtbereich den „Ausländern“ die Wallfahrt verboten hat. Sie konnte freilich nicht verhindern, dass die „Ausländer“ immerfort die „Grenze“ überschritten haben.
Der Hülfensberg ist nicht nur Wallfahrtsort, er ist auch ein beliebtes Wanderziel. Er bietet schönste Ausblicke auf das Eichsfeld und ins Werratal. Karl Duval hat in poetischer Sprache darüber berichtet, P. Schwethelm u. a. folgendes gesagt: „Wenn wir das Glück haben, einen hellen Tag zu treffen, dann hat man von diesem reizenden Flecken Erde, von dem schon so viele staunend hinab- und hinausgeschaut haben in Gottes schöne Welt, eine Aussicht, wie sie sich selten unseren Augen darbietet. Um sie zu genießen, betreten wir zunächst den südlichsten Punkt, jene schmale Spitze, in die das Bergplateau ausläuft. Der erste Blick wirkt überwältigend. Wie auf einer Karte entrollt sich zu unseren Füßen die beinahe unübersehbare Landschaft. Das hell aufblitzende Silberband der Werra, das sich weithin verfolgen lässt, die schmucken Dörfer an ihren Ufern, die fruchtbaren Auen, die sie umgeben, die Gebirge in der Nähe und am fernen Horizont, das alles macht auf den Beschauer einen so erhebenden, wohltuenden Eindruck, dass er die trunkenen Augen kaum abzuwenden vermag ... Kurz vor dem (ehemaligen) Aussichtsturm (auf der Plesse über Wanfried) sehen wir die Stelle, an der am 4. Januar 1640 eine 50 Ellen hohe Steinwand abstürzte ... Über der Mitte des Karnberges entdeckt man bei klarem Wetter in blauer, verschwindender Ferne den 916 Meter hohen Inselsberg, die höchste Erhebung des nordwestlichen Teils vom Thüringer Wald ... An wenigen Tagen des Jahres kann man das Glück haben, drei Gebirgserhöhungen der Vorderrhön aufblauen zu sehen: den Bayerberg (707 Meter), die Sachsenburg und eine ihrer Ausläufer ... Zwischen Meißner und Hunsrück sind bei klarem Wetter fünf hintereinanderliegende Züge des hessischen Berglandes zu unterscheiden. Auffällig ist zunächst links von Eschwege der Große Leuchtberg mit seinem Bismarckturm, sodann in derselben Richtung, aber in weiter Ferne eine runde Kuppe: der 548 Meter hohe Alheimer. Er ist 35 Kilometer vom Hülfensberg entfernt und liegt in der Nähe von Rotenburg an der Fulda ... Fast ebenso schön, wenn auch nicht so weitreichend wie die Aussicht von der Südspitze des Bergplateaus, ist die von der Nordseite. Zeigte uns die erste vorwiegend das schöne Hessenland und einige Teile von Thüringen, so kommt nun der Eichsfelder mehr auf seine Kosten ... Links von Geismar steigt an dem Ufer der Rosoppe der kahle Iberg auf, weiter rechts schließt sich der Weinberg an ... Die ganze bewaldete Höhe ist der Westerwald; rechts erblickt man den nach Küllstedt führenden Ölstieg und den Turm der Küllstedter Kirche, soweit er aus den Bäumen hervorragt. Einen schönen Abschluss der Fernsicht bildet weiter rechts auf der Höhe die gotische Kirche von Effelder, auch der Effeldersche oder Eichsfelder Dom genannt ... In dem schönen Friedatal unterhalb der zuletzt genannten Berge liegt das langgestreckte Lengenfeld mit dem Beinamen „unter dem Stein“. Ein 27,5 Meter hoher und 234 Meter langer Eisenbahnviadukt führt, von sieben mächtigen Pfeilern getragen, mitten über den Ort und die durchs Dorf fließende Frieda ...“ Mit dem Blick auf das Schloss Bischofstein schließen wir unseren Rundgang ab.
Manches Ehepaar, das an diesen Tagen zum Hülfensberg pilgert, gedenkt des Tages der ersten Begegnung an geweihter Stätte, Verwandte und Freunde werden sich wiedersehen. In diesem Jahr wird an den Wallfahrtstagen neben einer technisch vervollkommneten Lautsprecheranlage eine weitere Neuerung, eine Wasserleitung, ihren wohltätigen Dienst leisten. Übrigens sind bei den Erdarbeiten auf dem Bergplateau nicht nur Gefäße und Scherben, sondern auch Gebeine ausgegraben worden, die auf ein hohes Alter schließen lassen.
Autor: unbekannt
(Quelle: „Eichsfelder Heimatborn“, Ausgabe vom 15.06.1957)