Der Hülfensberg (1925)
Solang‘ der Hülfensberg geehrt,
solang‘ zu ihm die Pilger zieh'n.
Solange wird des Eichsfelds Kraft,
sein Ruhm, sein Stolz, sein Glaube blüh‘n.
Dr. Iseke
Mit diesen Worten beschließt der Dichter des Eichsfeldes sein Gedicht – über unsere alte Wallfahrtsstätte, den Hülfensberg, das Wahrzeichen unserer schönen Heimat, unseres Glaubens, unserer völkischen Eigenart und Zusammengehörigkeit.
Gerade im verflossenen Jahr hat sich um seine Geschichte wieder der Kampf der Meinungen erhoben. Immer noch wird bestritten, dass der hl. Bonifatius auf ihm die Donareiche gefällt habe, wenngleich jetzt schon seine Anwesenheit dort von allen Sachverständigen zugegeben wird. Wir wollen diesem Kampfe keine neue Streitschrift hinzufügen, sondern wir wollen versuchen, die alten Überlieferungen wachzurufen und da, wo die trockene geschichtliche Untersuchung versagt, uns auf die Sage verlassen.
Aus uralter Zeit klingt undeutlich, von der Sage umsponnen, schon früh durch geschichtliche Urkunden bestätigt, Kenntnis von ihm zu uns Kindern einer späten Zeit. Bereits in der germanischen Frühzeit unseres Volkes spielte der Hülfensberg als religiöser Versammlungsort und wohl auch als Beratungsstätte des Thüringervolkes eine hervorragende Rolle. Auf ihm fanden heidnische Opferfeste statt, hier stand als Zeichen des Heidengottes Thor oder Donar, der von unseren Thüringer Vorfahren als ihr Stammvater verehrt wurde (Thüring heißt Thorssohn), ein großes Abbild seines steinernen Hammers. Hier standen die heiligen Eichen, aus deren Rauschen die Heidenpriester versuchten, dem Volke und dem Einzelnen Zukunft und Schicksal zu deuten. Hier wurde aber auch strenges Gericht gehalten und Übeltäter als Sühne für ihre Meintat dem Tor auf dem Altarsteine geopfert. Hier mag auch manch' Thüringer Handelsmann – denn wir wissen, doch schon im 2. Jahrhundert nach Christi die Thüringer als einziger Germanenstamm weithin bis nach Staken Handel trieben – bevor er mit „Reff und Arbeitsdrang“ die gefährliche Reise ins Südland antrat, Thor um Schutz und Hülfe angefleht und nach glücklicher Rückkehr sein Dankopfer dargebracht haben.
Vielleicht entschieden sich auch hier auf dem Hülfensberge die Thüringer, die von den Franken geforderte Unterwerfung abzulehnen und ihre Freiheit im blutigen Kampfe zu verteidigen. Die Entscheidungsschlacht zwischen Thüringern und Franken im Jahre 531 n. Chr. brachte nun die erste große Veränderung in den Zuständen unserer Heimat hervor, von der wir Genaueres wissen. Die Thüringer wurden besiegt, kamen unter fränkische Botmäßigkeit und ihr Land wurde bereits jetzt teilweise mit fränkischen Ansiedlern durchsetzt. Zugleich aber, und das ist wohl das Wichtigste, gelang es jetzt glaubenseifrigen Missionaren, Iren und Schotten, ins Thüringerland zu kommen und das Christentum zu predigen. Aber jeder dieser Missionare ging mehr oder weniger auf eigene Faust vor, es fehlte ihnen sowohl die Unterstützung der weltlichen Macht wie auch ganz besonders die der kirchlichen Zentralgewalt: die besondere Sendung durch den Papst. So gelang es ihnen nicht, die neu missionierten Bezirke mit der schon in Süd- und Westdeutschland bestehenden Organisation der Kirche dauernd zu verbinden. Hinzu kam noch, dass ein Teil der Iroschottenmissionare selbst nur eine oberflächliche Ausbildung in der christlichen Lehre empfangen hatte. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich, nachdem erst das ganze Volk das Christentum angenommen hatte, in die neue Lehre bald wieder heidnische Gebräuche mischten und bald drohte das Heidentum, das Christentum völlig zu ersticken. So wissen wir, dass ums Jahr 700 das ganze Eichsfeld als christlich galt und 30 Jahre später nur noch 3 Männer als Christen durch Bonifatius befunden wurden.
In diese Zeit des Übergangs vom Heidentum zur christlichen Religion fällt die Entstehung des Dämons Stuffo, der auf dem Hülfensberg hausen sollte und nach dem der Berg jahrhundertelang Stuffensberg hieß. Die Missionare hatten, wie es allgemein üblich war, die bisherigen Kultstätten der Heiden, um ihnen den Übergang zum Christentum leichter zu machen, in Verehrungsstätten für christliche Heilige umgewandelt. So wurde aus Thors Heiligtum eine Verehrungsstätte für den heiligen Christophorus; denn Thor entsprach dem lateinischen Herkules und dieser wurde im Christentum dem heiligen Christophorus gleichgesetzt. Beim Rückfalle in das Heidentum wurde nun aus dem heiligen Christophorus, indem man die Silbe „Christ" fortließ, ein Stoffo oder Stuffo und dieser wurde jetzt hier als Götze verehrt.
Da erschien, vom Papste beauftragt, der heilige Bonifatius auf dem Eichsfelde. Ihm gelang, was anderen vor ihm nicht geglückt war, die dauernde Christianisierung des Eichsfeldes. Er wurde in seiner Tätigkeit unterstützt durch die Frankenherrscher, die jetzt auch eine neue Welle fränkischer Siedler auf das Eichsfeld sandten. Bonifatius besuchte den Stuffenberg und zerstörte dort das heidnische Heiligtum Stuffos.
Bestritten ist noch immer, ob er die Eichenfällung hier oder bei Hofgeismar vorgenommen habe. Neben zahlreichen Gründen historischer Natur hat unser Hülfensberg die lebendigere Tradition für sich. Hier sind die Überlieferungen aus der Heidenzeit, hier aber auch solche aus der christlichen Epoche. Es wird noch heute der Erdspalt gezeigt, in den der Dämon von Bonifatius gebannt sei: das Stuffensloch. Weitere Erinnerungen an ihn sind der Bonifatius-Born und der Bonifatiusweg. Nach den dankenswerten Forschungen des hochv. Herrn Prälaten Osburg sind wir jetzt sogar in der Lage, mit ziemlicher Bestimmtheit die Wege anzugeben, die St. Bonifatius gewandelt ist. Ja, es lässt sich nach seinen Forschungen vermutlich sogar noch der alte Opferstein nachweisen, der jetzt als Trittstein im Geismar‘schen Gerichtshause gebraucht wird. Über diesen Stein wird von alten Leuten erzählt, es dürfe auf ihm nichts Unrechtes geschehen – Hinweis auf seine frühere Verwendung als Altarstein – und kein Vieh auf ihm geschlachtet werden – das christliche Verbot des Opferns auf ihm –. Man sagt zur Begründung dieser Gebote, auf ihm habe Bonifatius geruht. Auch das Zeichen Thor – Stuffos, das in der Heidenzeit auf dem Hülfensberge aufgerichtet war, den steinernen Hammer – will der Prälat Osburg entdeckt haben in dem uralten Kreuz bei der 12. Kreuzwegstation. Er glaubt, dass man dem Hammer eine notdürftige Kreuzform gegeben habe und stützt sich darauf, dass der rechte Kreuzarm ganz kurz ist. Seine Ansicht hat einen sehr hohen Grad von Wahrscheinlichkeit für sich, haben wir doch gerade auf dem Eichsfelde noch viele solcher Überreste des alten Heidenkultes. Und die Eichenfällung? Nun, im 14. Jahrhundert schon hat man in die Wand der Kirche auf dem Hülfensberge einen Eichenklotz eingemauert.
Schon damals muss also die Tradition der Eichenfällung bestanden haben. Vermutlich stammt der Eichenstamm aus einer von Bonifatius auf den Hülfensberg erbauten Holzkapelle, wie ja auch bei der Eichenfällung, wie wir wissen, aus dem Holz der Donarseiche eine solche von ihm errichtet sein soll. Nehmen wir den Hülfensberg als Schauplatz der Eichenfällung ruhig an und mögen sich dann über die Frage, wie es kommt, dass statt der von Bonifatius dem hl. Petrus geweihten Kapelle später eine dem göttlichen Erlöser, dem St. Gehülfen geweihte Kirche auf dem Hülfensberge sich befindet, die Gelehrten weiter streiten, uns scheint für diese Frage der Veränderung des Kirchenpatrons das 2. große historische Ereignis in der Geschichte des Hülfensberges eine Motivierung zu bieten, nämlich der Besuch Karls des Großen auf dem Hülfensberge.
Nach einem Siege über die heidnischen Sachsen erschien Karl der Große im Glanz seiner Herrschermacht auf dem Hülfensberge, um hier Gott für den Sieg zu danken. Ein fränkischer Edeling Heiso, auf den das jetzt ausgestorbene Adelsgeschlecht v. Kerstlingerode seinen Ursprung zurückführte, trug ihm ein prachtvolles silbernes Kreuz voran, das er der Kirche auf dem Hülfensberge schenkte, und das in späterer Zeit ein Gegenstand hoher Verehrung wurde. Leicht möglich mag es erscheinen, dass dies Kreuz und die Verehrung, die es genoss – es kamen schon früh damals die Wallfahrten zum Hülfensberge auf – der Grund wurde, weshalb bei einem völligen Neubau der Kirche ums Jahr 1000 nunmehr diese dem göttlichen Erlöser geweiht wurde. So mag das alte Petruspatrozinium in Wegfall gekommen ein. Während das Kreuz jetzt verschwunden ist, erinnert noch an den Besuch des großen Kaisers Karl sein zur Hohenstaufenzeit in die Kirche eingemeißeltes Kopfbild. Seit dieser Zeit führt auch der Hülfensberg seinen jetzigen Namen als Berg des göttlichen Erlösers. Damals waren die Wallfahrten zum Hülfensberg schon zu einer großen Bedeutung gekommen. 1361 musste die zu klein gewordene Kirche, die schon um ca. 1200 einmal vergrößert wurde, gänzlich erneuert werden. Einen wie großen Umfang die Hülfensberg-Wallfahrten angenommen hatten, davon haben wir durch einen glücklichen Zufall Kunde. Als man einen allen Opferstock zerschlug, fand man in den Holzspalten Münzen, die aus der Zeit von 1100 bis 1200 stammten und von Pilgern damals geopfert waren. Es waren Brakteaten aus den Hansestädten, Pommern, Stargard, Münster, Minden, Saalfeld lind Hall in Schwaben. So weit ging damals also schon der Ruf des Hülfensberges. Den Höhepunkt erreichten die Wallfahrten in den Pestjahren nach 1349. Wie stark der Opfersinn und wie groß die Zahl der Wallfahrer war, geht daraus hervor, dass im Jahre 1360 der Pfarrer von Geismar, ein Herr v. Hagen, obwohl ihm nur ein geringer Teil der Wallfahrerspenden zukam, doch aus ihnen 30.000 Goldgulden hinterließ und damit das Karthäuser-Kloster St. Salvatoris in Erfurt gründen und dotieren konnte.
Um 1500 scheint man infolge der Wallfahrer von der Nord- und Ostseeküste, den „Seeländern“, die seinerzeit eine St.-Wilgefortisstatue gestiftet hatten, in den Irrtum verfallen zu sein, den Kreuzkult zu einem solchen der hl. Wilgefortis oder hl. Kümmernis umzudeuten. So schwächte sich allmählich die Verehrung des hl. Kreuzes ab. Zu dieser Zeit errichtete man auf dem Hülfensberge auch eine Begräbnisstätte, ein Beinhaus, und es galt für einen Vorzug, gewürdigt zu werden, dort seine letzte Ruhestätte zu finden.
In den Leiten der Unruhen der Reformation blieb der Hülfensberg zwar noch von Wallfahrern besucht, aber die Nöte des 30-Jährigen Krieges brachten in der Folge die Wallfahrten zum Erliegen, bis sie in der Neuzeit wieder auflebten.
Wie der Hülfensberg in germanischer Frühzeit die Haupt-Opferstätte für unsere Vorfahren war, wie sich an ihm die ersten christlichen Traditionen für unsere Heimat knüpfen, wie er in der Zeit der Pest, Kriege und schweren Not als Leitstern mit seinem Kult des göttlichen Erlösers übers Eichsfeld leuchtete, so möge er auch heute, in wiedrum schwerer Zeit, ein Ort der geistlichen Erbauung und eine Mahnung sein, treu und einig zur Heimat und zum Vaterlande zu stehen.
G. Seeboth, Hauptmann a. D., Berlin
(Quelle: „Mein Eichsfeld“, Jahrgang 1925, S. 22 – 26)