Der Hülfenberg bei Geismar (1868/1871)
An der südlichen Grenze des Eichsfeldes zwischen den Städten Mühlhausen und Heiligenstadt liegt ein Berg, der in der ganzen Gegend durch seine Höhe sichtbar und an seinem bebauten Gipfel kenntlich ist. Dies ist der St. Hülfenberg. Zu ihm geschehen alljährlich an bestimmten Tagen aus der Nähe und Ferne zahlreiche Wallfahrten, da einer solchen besonders wunderthätige Wirkungen in schweren Krankheiten zugeschrieben werden. Der bequemste Weg, der zu ihm heraufführt, geht von Geismar aus; an der Nordseite des Berges sind auf dem ganzen Wege Stationen (Bildstöcke, worauf die Leidensgeschichte Jesu abgebildet ist) angebracht, vor denen die Pilger beten. An eben dieser Stelle entspringt ein klarer, reiner, stets ausfließender Quell, der Hülfenbrunnen; weiter oben aber links am Wege nach dem Dorfe Düringsdorf findet sich die Quelle des Bonifaciusbrunnens vor, die aber kein reines Wasser hat. Auf der den Gipfel des Berges einnehmenden Fläche steht nach Mitternacht zu eine Kirche, eine Kapelle und ein Haus zum Obdache der nöthigen Personen. Die Kirche ist, wie auch ihr Anblick lehrt, nicht auf einmal erbaut worden. Ihr ältester Theil ist die sogenannte Bonifaciuskapelle, die als das Chor der Kirche angesehen werden kann; linker Hand in derselben befindet sich das Bild der heil. Märtyrin Wilgefortis, einer bärtigen Jungfrau. Nach einigen Chronisten hätte in heidnischen Zeiten der Götze Stuffo auf diesem Berge gestanden (nach dem der Berg Stufenberg genannt worden sei), das Bild desselben sei um 724 von Bonifacius zerstört worden und Letzterer habe an dessen Stelle eine Kapelle erbaut. Dies ist ebensowenig richtig, als was Andere sagen: der Berg habe seinen Namen Karl dem Großen zu danken, denn dieser habe, nachdem er die Sachsen an der Werra bei Treffurt geschlagen, mit seinen Hauptleuten den Stufenberg erstiegen und Gott gedankt, wobei er ausgerufen: »Hier hat uns Gott und sonst Niemand geholfen«. Davon sei der Berg Hülfenberg genannt worden und Karl der Große habe auf ihm eine Kapelle erbaut. Diese Sage ist aber eine Verwechselung mit dem Berge Osnegg bei Detmold in Westphalen, denn hier, und nicht an der Werra, schlug Karl die Sachsen. Allerdings hieß dieser Berg hier zuerst Stufenberg und später erst »Sente Gehülfin Berg«, allein dieser Name ist entweder aus dem lateinischen Mons Sancti Salvatoris verderbt oder kommt von dem erwähnten Bilde der heil. Wilgefortis (sanctum auxilium [heilige Hülfe] genannt) her. Jedenfalls gehen aber die Wallfahrten dahin bis zum Jahr 1360 zurück. Wie anderwärts war es auch hier der frommen Pilger Gewohnheit, der Kirche Geschenke zu machen, welche in derselben aufgehängt wurden und häufig Gegenstände aus Wachs waren; so sah man daselbst Krücken, Köpfe, Arme und Füße aus Wachs, aber es waren auch andere kostbarere Weihgeschenke hier, die meistens aus Braunschweig und Hildesheim hierher gekommen sein mögen. Ueber die hier gethanen Wunderkuren existiren von den Jesuiten im Jahre 1576 angelegte Tagebücher, allein auch die Lutheraner wissen deren zu berichten, und namentlich sind dadurch mehrere der Letztern bestimmt worden zur katholischen Kirche überzutreten.
Im Jahre 1606 wurde ein Mann, Namens Andreas Spillner, zu Ecklingerode im Duderstädtischen beim Mergelgraben vom herabstürzenden Erdreiche ganz verschüttet. Als seine Frau die traurige Kunde des Geschehenen erhielt, fiel sie auf die Kniee und that das Gelübde, sie wolle, wenn ihr Mann lebendig herausgegraben werde, mit ihm eine Wallfahrt nach dem Hülfenberge thun. Nach zwei Stunden fand man den Verschütteten endlich, zwar lebend, aber dergestalt verstümmelt und zerquetscht, daß ihn der Arzt verloren gab. Nur allmählig erholte er sich wieder und schleppte sich mittelst der Krücken und in Begleitung seiner Frau zu Pfingsten nach dem Hülfenberge, wo er beichtete und communicirte. Darauf fühlte er bald eine solche Stärke in seinen Gliedern, daß er ohne Krücken in einem Tage gesund nach Hause gehen konnte.
Ein anderer Jesuit sah 1621 einen fremden Mann mit Krücken in die Kirche des Hülfenberges kommen und dieselben im Kirchengewölbe aufhängen. Er rief ihn zu sich und frug den Mann, der in seinen besten Jahren, stark und wohlgebildet war: warum er jene Krücken mitbringe. Der Fremde antwortete darauf, daß er seit zwei Jahren nicht habe auf seine Füße treten können und bereits alle Hoffnung aufgegeben, je wieder gesund zu werden, als er zu einer Wallfahrt nach dem Hülfenberge aufgefordert worden sei. Er habe sie gethan, sei gesund geworden und wolle nun zum Geschenke zwei Füße von Wachs neben seinen Krücken hier aufhängen. Der Mann hieß Heinrich Fell und war aus dem Fürstenthum Fulda gebürtig.
Johann Georg Theodor Grässe
(Quelle: Sagenbuch des Preußischen Staates 1 – 2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 433 – 434)