Der Eisenbahnviadukt von Lengenfeld unterm Stein

Nach dem siegreichen Krieg Preußens 1870/71 gegen Frankreich und der in seinem Gefolge vollzogenen Annektierung von Elsass und Lothringen sowie der Gründung des Deutschen Reichs kam es schnell zu Überlegungen, eine durchgängige, in preußischer Hand befindliche Eisenbahnlinie von der neuen Reichshauptstadt Berlin zur neuen Westgrenze des Reichs zu bauen.

Hauptanliegen dieses Vorhabens war neben der Schaffung einer Verbindung zwischen dem östlichen und westlichen Staatsbahnkomplex Preußens und der Notwendigkeit einer schnellen Verbindung zwischen Berlin und dem neuen Reichsland Elsass-Lothringen vor allem auch in der militärischen Sicherung der im Krieg gemachten Eroberungen gegen den »Erbfeind« Frankreich. In der Diskussion um diese Bahn in der Öffentlichkeit wie im Parlament wurde der letztgenannte Aspekt immer wieder hervorgehoben, weshalb diese neue Eisenbahnlinie bald im Volksmund »Kanonenbahn« hieß.

Ursprünglich sollte die Verbindung zwischen Berlin und Wetzlar auf ihrer ganzen Länge neu errichtet werden. Das unterblieb jedoch, da im Zuge der Verstaatlichung bestehender Eisenbahnlinien durch Ankauf diese mit in das »Kanonenbahn«-Konzept einbezogen wurden.

Die Entfernung von rund 800 km zwischen Berlin und Metz bzw. Straßburg brauchte so nur durch etwa 450 km neu zu bauende Eisenbahnstrecken überwunden zu werden.
Eines dieser neu zu errichtenden Streckenstücke war die Eisenbahnverbindung zwischen Leinefelde und Eschwege.

Diese 45,9 km lange Strecke wurde in den Jahren 1875 bis 1880 erbaut. Mit ihrer Fertigstellung am 15. Mai 1880 konnte die Kanonenbahn auf ihrer Gesamtlänge in Betrieb genommen werden.

Die Strecke wurde ohne Rücksicht auf lokale Verkehrsbedürfnisse errichtet. Sie verlief in Entfernungen von 2 bis 3 km von den Ortschaften in schwierigem Gelände, was sich heute hinsichtlich der Lage der Zugangsstellen zur Bahn und den aufgrund der Trassierung möglichen Geschwindigkeiten als entscheidende Nachteile herausstellt. Die Kompliziertheit der gewählten Linienführung machen allein die sechs Tunnel der Strecke und fünf größeren Brücken- und Viaduktbauten deutlich. Gerade sie machen den besonderen Reiz der Strecke aus, sind aber zugleich besondere Betriebskostenschwerpunkte wegen ihrer aufwendigen Unterhaltung.

Das für das Auge imposanteste Bauwerk ist der Eisenbahnviadukt über das Tal der Frieda und den sich in ihm erstreckenden Ort Lengenfeld unterm Stein. Er soll hier näher vorgestellt werden.

Die Linienführung der Bahnstrecke Leinefelde - Eschwege im Raum Lengenfeld unterm Stein bereitete einige Schwierigkeiten. Varianten, die Linie nördlich oder südlich des Dorfes entlang zuführen, scheiterten aus verschiedenen Gründen. Auch die Durchschneidung des eng gebauten Dorfes Lengenfeld sollte vermieden werden. Als effektivste Lösung der Überquerung des Friedatales bot sich unter Berücksichtigung der lokalen Verhältnisse der Bau eines Viadukts an.

Dieser Viadukt überbrückt die Frieda in einer Höhe von rund 24 m über der Talsohle. Er liegt in einer Steigung von 9 o/oo (1:110) und in einer Kurve von 400 m Radius. Ursprünglich waren für den Viadukt 6 Öffnungen mit je 32 m Stützweite geplant. Unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse wurden weitere zwei Öffnungen mit einer Stützweite von je 17 m hinzugefügt. Für diese Öffnungen waren 9 Brückenpfeiler zu errichten, deren Endpfeiler in beiden Richtungen durch ihre Gründung im Damm kaum als solche zu erkennen sind. Die Länge des Viaduktes beträgt insgesamt 244,1 m, seine Maximalhöhe 24,0 m. Der Überbau aus Eisen wurde für eine zweigleisige Streckenführung errichtet, jedoch wurde der Schwellen- und Bohlenbelag vorerst nur für ein Gleis gebaut. Das war auf der Gesamtstrecke so, die für einen zweigleisigen Ausbau vorgesehen wurde, der in der ersten Phase der Geschichte der Bahn aber nicht verwirklicht werden sollte.

Die Gesamtkosten für die Errichtung des Viaduktes betrugen 375.796 Mark. Davon waren 159.966 Mark Kosten für die Errichtung des benötigten Mauerwerks. Der eiserne Überbau kostete 187.912 Mark. Die Kosten pro laufenden Meter Viadukt stellten sich auf 1540 Mark. Die Ansichtsfläche des Viadukts beträgt 3690 Quadratmeter. Bezogen auf diese betrugen die Kosten pro Quadratmeter 101,9 Mark. Nimmt man die Kosten pro laufenden Meter war der Bau des Lengenfelder Viaduktes um 841 Mark billiger als der benachbarte Viadukt über das Tal der Frieda bei der Ortschaft Frieda. Hinsichtlich der Kosten pro Quadratmeter Ansichtsfläche stellte sich der Lengenfelder Viadukt um 7,90 Mark teurer. Aus heutiger Sicht hören sich die Summen, die der Bau des Viaduktes verschlungen hat, wenig an. Dem ist aber nicht so. Ein Vergleich mit einem anderen Bauwerk der Strecke soll das verdeutlichen. Der 288 m langen Entenberg-Tunnel verschlang 334.017 Mark.

Die Kosten pro laufenden Meter Tunnel stellten sich hier wesentlich günstiger als beim Viadukt. Die Maurerarbeiten für den Lengenfelder Viadukt wurden im Juni 1877 begonnen und im Herbst 1878 fertiggestellt. Im August 1879 war das imposante Bauwerk einschließlich seiner eisernen Überbauten vollendet. Mit ihm war zugleich das neue Wahrzeichen für den Ort Lengenfeld unterm Stein entstanden.

In den Jahren 1906/07 wurde die Strecke zweigleisig ausgebaut Damit bekam auch der Viadukt ein zweites Streckengleis, für dessen Aufnahme er von Anbeginn an eingerichtet war. Zwei Züge zugleich auf dem Viadukt waren allerdings ganz große Seltenheiten. Der Betrieb auf der Strecke war äußerst gering und konnte eigentlich auch ohne den zweigleisigen Ausbau problemlos bewältigt werden. Der durchgehende Verkehr von Berlin nach der Westgrenze, für den die Strecke gebaut wurde, blieb von Anbeginn von ihr fern. Sie war mit ihrer Inbetriebnahme schon überholt. Die Neigungsverhältnisse und Kurvenradien setzten dem Einsatz schneller und moderner Fahrzeuge bald Grenzen. Hinzu kam, dass die Einbindung der Strecke Leinefelde - Eschwege in den Bahnhof Leinefelde so ungünstig war, dass alle Züge von und nach Berlin, die über dieses Teilstück der Kanonenbahn fahren sollten, in Leinefelde umgespannt werden mussten.

Das zugfördernde Triebfahrzeug musste von einem Ende des Zuges auf das andere Ende umgesetzt werden Nach dem verlorenen ersten Weltkrieg musste 1919/20 auf Betreiben der Interalliierten Militärkommission das zweite Gleis auf der Strecke Leinefelde - Eschwege und damit auch auf dem Lengenfelder Viadukt zurückgebaut werden. Seitdem führt über den zweigleisig ausgelegten Viadukt wie in den Anfangsjahren nur noch ein Gleis.

In den letzten Tagen des zweiten Weltkrieges schien das Ende des imponierenden Bauwerks gekommen. Deutsche Wehrmachtstruppenteile hatten den Viadukt zur Sprengung vorbereitet, um damit die amerikanischen Truppen in ihrem Vormarsch aufzuhalten. Dank der Initiative des Lengenfelder Bürgermeisters Franz Müller und eines im Ort anwesenden Hauptmanns einer Gefangenenbewachungsmannschaft konnte die Zerstörung verhindert werden.

Der Lengenfelder Viadukt entging damit dem Schicksal, dass der Frieda-Viadukt bei dem Ort Frieda am 2. April 1945 und die Brücke zwischen den Orten Küllstedt und Büttstedt am 6. April 1945 erlitten. Beide wurden von zurückweichenden deutschen Truppen gesprengt. Zwischen Geismar und Effelder mit dem dazwischen liegenden Lengenfelder Viadukt war ein Eisenbahnstreckenstück entstanden, das von den beiden Endpunkten der Strecke nicht mehr erreicht werden konnte.

Und zwischen Effelder und Geismar war ein Zugverkehr nicht möglich. Betriebsmittel wie Loks und Wagen sowie Wartungs- und Bekohlungsmöglichkeiten für Lokomotiven waren nicht vorhanden. So blieb bis Ende des Jahres 1945 der Viadukt unbenutzt. Erst mit der Fertigstellung der Behelfsbrücke bei Büttstedt am 28. Dezember 1945 konnte die Strecke wieder über Küllstedt hinaus befahren werden.

Interessant ist noch, dass nach 1945 bis 1965 am Viadukt eine besondere Brückenwache stationiert war. Beschäftigte des Bahnunterhaltungsdienstes der Deutschen Reichsbahn hatten durch regelmäßigen Begang festzustellen, dass keine Schäden entstanden waren, die eine Gefahr für die den Viadukt passierenden Züge darstellten.

Zuletzt wurde dieser Kontrollgang nur noch vor dem ersten Zug in den frühen Morgenstunden eines jeden Tages durchgeführt. Offensichtlich spielte für diese Maßnahme die Angst vor möglichen Sabotageakten des »Klassenfeindes« eine große Rolle.

Auch ohne die Angst vor dem »Klassenfeind« war die frühmorgentliche Kontrolle, zum Teil herrschte zum Zeitpunkt dieses Kontrollganges noch tiefste Finsternis, für die damit betrauten Beschäftigten kein Vergnügen. Der Wegfall dieser lästigen Pflicht 1965 wurde von ihnen deshalb sehr begrüßt.

Mittlerweile ist die nun über 110 Jahre alte Eisenkonstruktion des Viadukts durch Korrosionsschäden und insbesondere durch Materialermüdung stark beeinträchtigt Da ein weiteres Befahren des Viadukts durch Züge mit erheblichen Risiken verbunden ist, musste mit Wirkung vom 1. Januar 1993 der Viadukt aus Sicherheitsgründen für Zugfahrten gesperrt werden. Eine grundhafte Sanierung des Bauwerks würde Kosten zwischen 15 und 20 Millionen DM hervorrufen.

Das ist marktwirtschaftlich nicht mehr vertretbar, zumal auf der auch ohne den Viadukt sehr unterhaltungsaufwendigen Strecke zwischen Leinefelde und Geismar die Verkehrseinnahmen in keinem Verhältnis zu den laufenden Aufwendungen stehen.

Nachdem Silvester 1992 am Vormittag und frühen Nachmittag zwei dampflokbespannte Sonderzüge zwischen Leinefelde und Geismar als Abschiedsfahrten noch einmal den vielen Eisenbahnfans und den Anwohnern Gelegenheiten gaben, die Gesamtstrecke zu befahren, nahte das Ende. Um 15.12 Uhr verließ der Personenzug 14380 den Bahnhof Leinefelde, um als letzter die Fahrt nach Geismar anzutreten. 17.00 Uhr von Geismar zurückfahrend, war der N 14381 der letzte den Viadukt planmäßig befahrende Zug.

Ab 1. Januar 1993 wird das Streckenstück Küllstedt – Geismar mit Bussen im Schienenersatzverkehr betrieben.

Das imposante Bauwerk des Lengenfelder Viadukts aber wird als technisches Denkmal wie als Wahrzeichen des Dorfes Lengenfeld unterm Stein noch lange vom Können und der Leistungsfähigkeit unserer Vorfahren künden.

Paul Lauerwald
(Quelle: Eichsfelder Heimatstimmen, Band 37/1993)