Der Annaberg bei Kloster Zella - Ein ehemaliger Wallfahrtsort des Obereichsfeldes

Von Franz Springmann, Siemerode

Druck und Verlag von F. W. Cordier, Heiligenstadt (Eichsfeld) 1936

Annaberg - Lageplan

Kloster Zella um 1840Unweit des altehrwürdigen Klosters Zella, dort, wo die Quellbäche der Frieda weit in das Muschelkalkmassiv der eichsfeldischen Höhe ihre tiefen, steilwandigen Täler gegraben haben und eine so reich gegliederte, malerische Tallandschaft schufen, lag auf einem bewaldeten Bergvorsprung einstmals das Wallfahrtskirchlein der hl, Anna. Jahrhunderte lang wurde hier das Gnadenbild der hl. Mutter Anna von dem kindlich frommen eichsfeldischen Volke verehrt. Weder die liberalistischen Zeitströmungen des 18. und 19. Jahrhunderts, noch die Maßnahmen der weltlichen und geistlichen Behörden vermochten, die so volksbeliebten Wallfahrten zum Annaberge zu beeinträchtigen. Auch nach der Aufhebung des Klosters 1810 blieben die Wallfahrten und Andachten dort in Übung. Erst um die Mitte des vorigen Jahrhunderts vernichtete ein unglückseliger Rechtsstreit dieses eichsfeldische Heiligtum.

Darstellung der Anna selbdrittDarstellung der Anna selbdrittÜber den Ursprung der Wallfahrt sind uns keine Nachrichten überkommen. Nach einer uralten, jeder Konventualin des Klosters bekanntgewordenen Überlieferung befand sich die Annastatue, eine „Anna selbdritt“, (siehe Abbildung auf Seite 9 dieses Büchleins) einst in der Kirche zu Elende in der Grafschaft Hohenstein. In den Wirren des Bauernkrieges wurde das holzgeschnitzte gotische Selbdrittbild nach Kloster Zella gerettet. Später ließ dann der Konvent von Zella auf der nordöstlich vom Kloster Zella gelegenen Anhöhe, dem Annaberge, eine kleine Kapelle aus Holz errichten und darin das Bildnis zur Verehrung aufstellen. Dem letzten Propste des Klosters, Pater Coelestinus Zander, der von 1794-1847 in Kloster Zella lebte, verdanken wir diese wenigen Angaben (Struther Pfarrarchiv). Der Annaberg scheint indes ein besonderes Vermächtnis zu sein, denn zur Kloster-Zeit wurden in Zella für den Wohltäter wegen des zu Ehren der hl. Anna gestifteten Grundstücks monatlich vier hl. Messen gelesen. Propst Zander berichtet, dass für die angeführte Schenkung die sog. Annenwiese als Stiftungsbeitrag gegeben worden sei. Die genaue Lage und Größe dieser Wiese ist uns unbekannt. Da jedoch von 72 fundierten Messen in Kloster Zella jährlich allein 48 für den uns unbekannten Stifter des Annaberges gelesen wurden, dürfte es sich Wohl um eine größere Stiftung gehandelt haben.

Linden auf dem Annaberg Das von hohen Linden überschattete Heiligtum auf dem Annaberge wurde bald eine beliebte Stätte des Gebetes für das tiefgläubige Volk der eichsfeldischen Höhe und der angrenzenden Täler. In den ersten Jahrzehnten nach der Reformation pilgerten selbst katholische Gläubige der Grafschaft Hohenstein zu dem ihnen so vertrauten Gnadenbilde. Von den eichsfeldischen Gläubigen wurde die Annakapelle zuerst einzeln und zu verschiedenen Zeiten besucht. Bald aber zeigte sich auch hier das im Zuge der Zeit liegende Bestreben des Volkes, unter Gebet und Gesang durch die heimatliche Landschaft zu wallfahrten. So erschienen bald die Bewohner der nächstliegenden Ortschaften Struth, Effelder, Küllstedt, Büttstedt, Bickenriede, Faulungen, Lengenfeld u. a. in geschlossener Prozession, und wie von selbst bildete sich die große Wallfahrt am Annatage heraus. Das Kloster förderte wohlwollend das volksreligiöse Bedürfnis jener Zeit. Der immer größer werdende Zustrom der Wallfahrer selbst aus den entfernteren Gegenden des Eichsfeldes veranlasste das Kloster, 1714 aus eigenen Mitteln eine größere Kapelle aus Stein zu errichten. Bei diesem Bau behielt man den bereits 1672 erbauten steinernen Glockenturm bei.

Annenkapelle - AußenansichtDie neue im Stil jener Zeit erbaute Wallfahrtskapelle war in Kalkstein, dem bodenständigen Baustein, aufgeführt. Sie bot einer Gemeinde von 600 Seelen hinlänglich Raum. Das Kloster hatte das Innere des Gotteshauses würdig ausgestattet. Betrat man die Kapelle durch das Westtor, so befand man sich zunächst unter einem niedrigen Gewölbe, das auf zwei mächtigen Pfeilern ruhte. Zur linken Hand führte in dem oben erwähnten Turm eine steinerne Wendeltreppe zur Empore und Orgel. In einer Mauernische zur rechten Seite befand sich das Gnadenbild. Hier brannten an den Wallfahrtstagen geopferte Kerzen in großer Zahl. Trat man wenige Schritte weiter vor, so stand man mitten in dem Kirchlein, umflutet vom hellen Licht, das vier größere Fenster auf jeder Seite dem Inneren reichlich spendeten. Hier waren einige Kirchenstühle, Bänke und fünf Beichtstühle aufgestellt. Zu beiden Seiten führte je eine Tür ins Freie. Der geräumige Chor war durch die Kommunionbank abgeschlossen. Zur Rechten erhob sich die Kanzel. Drei ineinander gebaute, reich vergoldete Altäre vervollständigten den Schmuck des anmutigen Gotteshauses. Annenkapelle - Innenansicht Der Hochaltar war der hl. Anna geweiht und trug als besonderen Schmuck eine holzgeschnitzte „Anna selbdritt“. Vor dem Hauptaltare befand sich ferner noch ein Antipendium aus Wolle, auf dem in Goldstickerei die hl. Sippe dargestellt war. Die hohe flache Holzdecke war mit einem Monumentalgemälde verziert. Auf blauem, mit Goldsternen übersätem Grunde waren die neun Chöre der Engel dargestellt. In dem Türmchen, dessen kupferbewehrtes Dach freundlich in das malerische obere Friedatal hinabgrüßte, hingen zwei Glocken. Besondere Erwähnung verdient die reizvolle Umgebung des Wallfahrtsortes. Uralte Linden überschatteten mit ihren weitragenden Ästen gleichsam schützend das Heiligtum. Eine mächtige Linde entfaltete vor dem Westtore ihr prachtvolles Blätterdach und bot an den Wallfahrtstagen den Andächtigen, die in dem Kirchlein keinen Platz mehr fanden, willkommenen Schutz vor den brennenden Strahlen der Julisonne. War der Andrang der Beichtenden zu groß, errichtete man zwischen je zwei Linden einen Notbeichtstuhl; und ich glaube, dass dieser Umstand die Gemüter zu ganz besonderer Andacht stimmte. Der Kapellenhof war gegen die Umgebung durch eine halbhohe Mauer abgegrenzt. Auch der nach dem Kloster zu liegende Hopfengarten war mit einer Mauer umgeben. Der Wald trat von drei Seiten dicht an die Kapelle heran. Nur im Norden weitete sich eine große, der eichsfeldischen Höhe angehörende Hutung aus, die selbst der größten Volksmenge hinreichend Platz bot. Dort stand das Haus für die Geistlichen, heute noch Nonnenhaus genannt, Schäferhaus, Schafstall und Scheune.

Im Nonnenhaus war an den Wallfahrtstagen auch noch nach der Aufhebung des Klosters der Geistlichkeit und dem Küster im 1. Stock ein Zimmer eingeräumt.

Ein Kreuzweg von 7 Stationen, auch 7 Fälle genannt, führte vom Kloster auf dem heutigen Wirtschaftswege zur Wallfahrtskapelle.

Neben dem Hülfensberge war der Annaberg unter den eichsfeldischen Wallfahrtsorten in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts am meisten besucht. Besonders am Feste der hl. Anna zogen die Gläubigen des Obereichsfeldes mit wehenden Fahnen, unter Gesang und Gebet durch die herbe Höhenlandschaft nach dem stillen Heiligtum. Doch lassen wir hier den Struther Chronisten, Lehrer Gatzemeyer, in seiner anschaulichen Schilderung zu uns sprechen:

„Wenn man an den Wallfahrtstagen in der Frühe vom südlichen Rande des Annaberges in das von dem herrlichen Klosterwalde eingeschlossene, reizende Friedatal hinabschaute, und dabei durch die belaubten Bäume des Waldes den Gesang der noch ankommenden Prozessionen und dazu auch noch auf dem Berge selbst die schönen alten, mitunter lange nicht gehörten, hier aber üblichen Muttergotteslieder aus der Brust der vielen Andächtigen erklingen hörte, begleitet durch das erbauliche Geläute der Glocken, so hatte das gläubige Gemüt einen Genuss, den kein weltliches Vergnügen zu bereiten imstande ist.“

In welch’ freudiger Stimmung mag wohl das fromm-gläubige Volt der Höhendörfer Struth und Effelder in den ersten Maitagen, wenn ein zarter, grüner Hauch über Wald und Flur den nahen Frühling ankündigte, zum Annaberg gepilgert sein! Nach langen, trüben und harten Wintertagen, nach monatelanger zermürbender Arbeit am Webstuhl und Spulrad begrüßten diese schlichten Menschen mit dankerfülltem Herzen diesen besinnlichen Ausflug ins Hochland der Seele.

Forsthaus auf dem Annberg Der Gottesdienst auf dem Annaberge war teils kasuell, teils an bestimmte Tage des Jahres geknüpft. Am 1. Mai wurde dort das Patrozinium mit Hochamt und theophorischem Umgang feierlich begangen. Für die Gemeinde Struth fand an diesem Tage der Pfarrgottesdienst in der Annakapelle statt. Einem alten Verspruche gemäß wallte am 3. Mai die Gemeinde Effelder zum Annaberge und opferte dort im Hochamte eine Wachskerze. Am Dienstag vor Pfingsten opferte Struth beim feierlichen Gottesdienst ebenfalls eine Kerze. In der Kreuzwoche erschienen am Montag die Bittprozessionen von Effelder, Büttstedt, Bickenriede und Struth auf dem Annaberge. Seit 1788 wurde am Mittwoch in der Bittwoche für die Gemeinde Struth, die abermals in Prozession erschien, ein „hohes Amt“ gelesen, wofür dem Pfarrgeistlichen 10 Sgr. aus der Kirchenkasse als Stipendium gegeben wurden. Am Vigil- und Festtage der hl. Anna war der Wallfahrtsort das Ziel vieler Prozessionen. Um 4 Uhr in der Frühe begann bereits die Austeilung der hl. Kommunion. In den frühen Morgenstunden wurde ununterbrochen Beichte gehört und in angemessenen Zwischenräumen die hl. Kommunion ausgeteilt. Dann wurden Frühmesse und Hochamt zelebriert. Nach der Predigt ordnete sich die häufig nach taufenden zählende Volksmenge zur feierlichen Prozession, die ihren Weg über die Driften bis zu dem im Westen angrenzenden Wald nahm und dann ins Wallfahrtskirchlein zurückkehrte. An neun nach dem Annatage folgenden Dienstagen wurde für die Gemeinde Struth in der Annakapelle das hl. Messopfer gefeiert. Bei günstigem Wetter war dort auch noch am Feste des hl. Martinus Gottesdienst.

Schäferei auf dem Annaberg mit LandarbeiterwohnungenWährend des Winters wurde das hochwürdigste Gut in der Kapelle nicht aufbewahrt. Allein auch dann war das Kirchlein nicht verwaist. Auch an den übrigen Tagen des Jahres, insbesondere des Sonntags nach dem Mittagsgottesdienste, fanden sich die Gläubigen von Struth und Effelder zum Gebet dort ein. Am Tage der Erstkommunion gingen die Kinder von Struth mit ihren Angehörigen hinunter zum Kloster, beteten gemeinsam den Kreuzweg und ließen den schönsten Tag ihres Lebens in einer Andacht im Wallfahrtskirchlein ausklingen. Am Palmsonntage fand sich ebenfalls die Gemeinde Struth dort ein, betete den Kreuzweg und hielt eine Andacht in der Annakirche. Pfarrer und Küster gingen dann nicht mit. Auf Wunsch seiner Pfarrkinder brachte der Struther Geistliche zu jeder Jahreszeit auf dem Annaberge das hl. Messopfer dar. Häufig ließen sich Struther Brautpaare an dieser Gnadenstätte trauen. Es ist doch etwas Köstliches und Großes um diesen tiefen Sinn der Mutter-Anna-Verehrung, der sich hierin offenbart. St. Anna ist ja die Patronin der Ehe und der Mütter, heiliges Symbol der Mutterfreude und des Mutterglückes. Auch das Sakrament der Taufe wurde dort häufig gespendet.

Nach der bekannten Regierungsverfügung im Jahre 1830, derzufolge Wallfahrten an den Werktagen verboten wurden, trat auch in der Gottesdienstordnung auf dem Annaberge eine Änderung ein. Am 1. Maisonntage wurde das Patrozinium gefeiert und zugleich der Opfertag der Gemeinde Effelder begangen. Am Mittwoch in der Bittwoche wurde wie bisher das gestiftete Amt für die Gemeinde Struth gehalten. Die große Wallfahrt am Annatage fand am Sonntag nach dem 26. Juli statt. An den neun Dienstagen nach Annatag war auch fernerhin Gottesdienst auf dem Annaberge.

Ein großer Verehrer dieses Heiligtums war kein Geringerer als der Bekennerbischof Konrad Martin. Als Professor in Bonn verbrachte der spätere Bischof von Paderborn oft seine Ferien in seiner eichsfeldischen Heimat. Häufig war er dann Gast seines Studienfreundes, des Pfarrers Leineweber in Struth. Bei dieser Gelegenheit stattete er stets dem Annaberge seinen Besuch ab. Öfters feierte er dort das hl. Messopfer an den neun Dienstagen nach Annatag und hielt dann immer zur großen Freude der Andächtigen eine erbauliche Predigt.

Mit dem Gottesdienst auf dem Annaberge war der jeweilige Propst des Klosters betraut. An den Wallfahrtstagen leisteten der Klosterkaplan, der seit 1702 auch zugleich Kaplan von Struth war, und die benachbarten Geistlichen Aushilfe. Die Kultuskosten trug das Kloster, ebenso wurden von dort die fehlenden Paramente und notwendigen gottesdienstlichen Gerätschaften gestellt. Der Lehrer von Struth versah damals den Küsterdienst in Struth, Kloster Zella und auf dem Annaberge.

Am 7. Juni 1810 vernichtete das Dekret des Königs Hieronymus von Westfalen Kloster Zella. Die Mühlhäuser Kaufleute Heinrich Wilhelm Röbling und seine Enkel Askan und Wilhelm Lutteroth erstanden das Kloster mit seinen ausgedehnten Waldungen und Ländereien für 60.000 Taler und übernahmen es am 7. Juni 1811. Die Nonnen verließen schweren Herzens das stille Friedensspring. Nur Propst Zander und Kaplan P. Edmund Teitzel, beide Professen des Klosters Gerode, blieben zurück. Beiden war neben einer bescheidenen Pension das Wohnrecht im Kloster auf Lebenszeit eingeräumt. P. Teitzel wurde Pfarrer von Struth, behielt aber seinen Wohnsitz im Kloster.

Die neuen Herren des Klosters überließen die Bewirtschaftung des Gutes dem Amtmann Chr. Herzberg, einem Neffen des Propstes. Dem Chor der altehrwürdigen Klosterkirche wurde der kirchliche Charakter belassen. Dort feierte der hoch betagte Propst mit seinem Ministranten, dem Bruder Gottfried OFM aus dem Kloster Worbis das hl. Opfer (vergl. Duval). Der übrige Teil der Kirche wurde Wagenremise und durch eine Bretterwand abgeteilt.

Durch die Aufhebung des Klosters erlitten die Wallfahrten auf dem Annaberge keine Beeinträchtigung. An Stelle des zu Klosterzeiten dort amtierenden Propstes trat der jeweilige Pfarrer von Struth.

Die Annakirche wurde früher vom Konvent in Zella in „Bau und Besserung“ gehalten und befand sich bei der Aufhebung des Klosters in einem guten baulichen Zustande. Stürme und Unwetter verursachten in den nächsten Jahrzehnten erhebliche Beschädigungen am Dach und an den Fenstern. Da für die Unterhaltung dieses Kirchengebäudes kein besonderer Fonds vorhanden war, wurden die Kosten der notwendigen Reparaturen von milden Gaben bestritten. Meistens war es der Pächter Herzberg, der die Rechnungen stillschweigend beglich. Aber auch die neuen Besitzer ließen 1816 einige Ausbesserungen an der Kirche vornehmen, erklärten jedoch dabei ausdrücklich, dieses aus freiem Willen getan zu haben, ohne dadurch die Unterhaltungspflicht des Gebäudes anzuerkennen.

Ein tragischer Unglücksfall am 29. Juli 1832 gibt uns Kunde von dem bedenklichen baulichen Zustand der Kirche. Infolge des häufigen Läutens beim Eintreffen der einzelnen Prozessionen lösten sich in der Nähe des Turmes einige Ziegel des Kirchendaches, die ein 13-jähriges Mädchen aus Struth tödlich und einige andere Wallfahrer leichter verletzten. Die Besitzer des Klosters, selbst Zeugen des Unglücksfalles, sahen sich hierdurch nicht veranlasst, die sehr notwendigen Instandsetzungsarbeiten einzuleiten. Die sehr armen Gemeinden der Höhe aber waren außerstande, größere Geldmittel hierfür bereitzustellen. So war denn das Heiligtum dem allmählichen Verfall preisgegeben.

Der Innenhof des Klosters Zella um 1900Eine weit größere Gefahr als durch die Witterungsunbilden erwuchs dem Wallfahrtskirchlein durch die Gutsbesitzer in Kloster Zella. Um seine Eigentumsrechte an der Kapelle zu sichern, wandte sich der Gutsbesitzer am 13. Juni 1837, also 27 Jahre nach der Aufhebung des Klosters, in einer Eingabe an das Bischöfliche Kommissariat in Heiligenstadt und verlangte die Ausstellung eines Reverses des Inhalts, dass die in dem gedachten Kirchengebäude verrichteten gottesdienstlichen Handlungen nicht vermöge eines Rechts vorgenommen würden, und dass ihm das an diesem Gebäude zustehende Eigentumsrecht anerkannt werde. Röbling berief sich auf den am 21. und 22. Mai in Kassel abgeschlossenen Kaufkontrakt. Im Artikel 1 desselben heißt es nämlich: „Es verkauft das Königliche Westfälische Gouvernement Kassel an den Herrn Heinrich Röbling und an seine Herren Mitläufer hiermit erb- und eigentümlich das bisherige durch das in vidimirter Abschrift sub A dem Kontrakte beigefügte Königliche Dekret vom 7. Juni 1810 aufgehobene, im harz Departement, Distrikt Heiligenstadt belegene Frauenkloster Zelle nebst sämtlichen dazugehörigen Grundstücken, Gebäuden und allem, was daran band-, wand-, nied- und nagelfest ist, auch Äcker, Gärten, Wiesen, Angern, Huden, Triften, Weiden, Zehnten, Mühlen, Teichen, Holzungen, beständigen und unbeständigen Gefällen und überhaupt mit allen Pertinenzen und Gerechtsamen, so wie solche das zeitherige Kloster besessen hat.“

Die Annakapelle war in dem Vertrage nicht namentlich aufgeführt. Die bischöfliche Behörde in Heiligenstadt nahm darum an, dass die Annakapelle als eine Wallfahrtskirche der gesamten Gläubigen des Eichsfeldes damals vom Verkauf ausgeschlossen worden sei. Die erforderliche Überzeugung für diese Annahme ließ sich jedoch nur aus den Verkaufsprotokollen schöpfen. Da diese auf dem Kommissariate nicht vorlagen, bat man am 7. Juli 1837 die Regierung in Erfurt um Auskunft. Die Antwort blieb aus. Die inzwischen auf Anordnung der geistlichen Behörde in Heiligenstadt vom Dekanatsverweser Krebs, Effelder, angestellten Ermittlungen blieben ergebnislos. Selbst Propst Zander wusste hierüber nichts Bestimmtes anzugeben.

Wiederholt drängte der Gutsbesitzer Heinrich Röbling (seit 1838 durch den Ankauf der übrigen Anteile alleiniger Besitzer des Klostergutes) auf die Ausstellung der geforderten Erklärung, und drohte schließlich am 30. August 1839, die Kapelle zu einem andern Zwecke zu verwenden. Da sich die Regierung auf die wiederholte Anfrage ausschwieg, sah sich der Kommissarius gezwungen, die Gutsherrschaft in Kloster Zella abschläglich zu bescheiden und aufzufordern, sich jedes Eingriffes in die bis zum 15. Juni 1837 unbestrittene Benutzung der Wallfahrtskirche bis zur endgültigen Regelung zu enthalten. Wenige Tage später, am 27. März 1843, begab sich der Schwiegersohn Röblings, Emil Lutteroth, zum Annaberge und ließ sich den Kapellenschlüssel aushändigen, der seit altersher bei den Bewohnern des Annaberges aufbewahrt wurde. Diese besorgten das Öffnen und Schließen der Kapelle und ermöglichten den Gläubigen jederzeit den Besuch des Heiligtums. Ohne Wissen des Struther Geistlichen war während des letzten Winters die Annakirche zeitweilig von dem nichtkatholischen Schafmeister durch Lagerung von Holz und Stroh und Trocknen der Wäsche missbraucht worden. So bot sich denn Lutteroth beim Öffnen der Kapelle ein wenig erfreuliches Bild. Entrüstet erklärte er, die Kirche sei ein Gotteshaus und solle auch als solches behandelt werden. Zu den Gottesdiensten im Mai des Jahres 1840 ließ die Gutsherrschaft unaufgefordert die Kapelle zeitig öffnen.

In diese Zeit fällt ein Ereignis, das wenig zur Entspannung des Verhältnisses zwischen der geistlichen Behörde und der Gutsherrschaft in Zella beitragen konnte. Am 13. Juli 1840 ließ Röbling seine Enkelin Sophie Lutteroth durch den protestantischen Pastor Meyer aus Höngeda in der Wallfahrtskapelle trauen, Das hierzu erforderliche Simultaneum war von der bischöflichen Behörde nicht eingeholt worden. Das Kommissariat protestierte gegen diese Beschränkung und Verletzung der bisher unbestrittenen Rechte der St.-Annenkirche. Der Struther Pfarrer Breitenbach folgte aus naheliegenden Gründen darum nicht der sehr freundlich gehaltenen Einladung Röblings zu der Trauung. Der Gutsherr in Zella sah in der Haltung der geistlichen Behörde einen Eingriff in seine wohlerworbenen Rechte an der Annakirche und gab darum beim Herannahen des Annatages 1840 dem Kommissariate seine entschiedene Absicht zu erkennen, die Benutzung der Kapelle zu gottesdienstlichen Handlungen künftig zu verwehren, wenn nicht der Pfarrer von Struth schriftlich um Öffnung der Kapelle bitte. Das Kommissariat lehnte das Ansinnen "Rohlings ab und bat die landrätliche Behörde in Wühlhausen um polizeiliches Einschreiten gegen die eigenmächtige und widerrechtliche Besitzstörung. Der landrätliche Kommissarius von Wintzingeroda-Knorr bestimmte Röbling in einer Unterredung, den Schlüssel unter der Versicherung der sofortigen Rückgabe nach dem Annenfeste dem Landratsamte zu überlassen. Unter der gleichen Bedingung wurde der Kapellenschlüssel dem Struther Pfarrer ausgehändigt. Dieser aber verweigerte auf Grund einer amtlichen Anweisung seiner geistlichen Behörde die Rückgabe des Schlüssels nach dem Annentage.

Am 11. August 1840 eröffnete die Regierung in Erfurt dem Kommissariate in Heiligenstadt, dass der Kaufvertrag über das Kloster Zella nichts von einem Mitverkauf der Annakirche enthalte. Diese Auskunft bestärkte natürlich die geistliche Behörde in ihrer bisherigen Haltung; sie sah sich veranlasst, den Pfarrer von Struth mit der Wahrung aller bisherigen Rechte an der Annakirche besonders zu verpflichten. Als der Pfarrer an einem der 9 Dienstage den Gläubigen auf dem Annaberge bekannt gab, dass nunmehr die Wallfahrt zum Annaberge für alle Zeiten gesichert sei, war die Freude übergroß. Ein Mann aus Bickenriede erklärte sich spontan bereit, 100 Taler für die Instandsetzung der Kirche zu stiften.

Die verweigerte Rückgabe des Schlüssels sollte indes noch unangenehme Weiterungen nach sich ziehen. Durch das Landratsamt in Mühlhausen erhielt die Regierung in Erfurt Kenntnis von dem Vorfall und verfügte am 24. August 1840 die sofortige Rückgabe des Kapellenschlüssels an das Landratsamt in Mühlhausen. Sie missbilligte insbesondere die Haltung des Pfarrers Breitenbach der landrätlichen Behörde gegenüber, deren amtliches Einschreiten man zunächst in Anspruch genommen, dann aber die schuldige Folgsamkeit verweigert habe. Das Kommissariat verlangte indes, dass der Schlüssel bis zur endgültigen Regelung wie bisher auf dem Annaberge in Verwahrung gegeben werde. Es hielt auch den Vorschlag der Gutsbesitzer, den Schlüssel Propst Zander auszuhändigen, für angemessen. Der hochbetagte Ordenspriester lehnte jedoch ab, weil das Kommissariat von ihm verlangte, nie den Schlüssel ohne Wissen des Struther Pfarrers und dann nur gegen eine Empfangsbestätigung an die Gutsherrschaft oder andere Personen auszuliefern.

Wir verstehen die Haltung des Propstes. 30 Jahre hatte zwischen ihm und den protestantischen Gutsherren, die ihm den Chor der alten Klosterkirche zur Feier des hl. Messopfers überlassen hatten, ein wirklich gutes Einvernehmen bestanden. Die Regierung in Erfurt wies überdies alle ihr in der Schlüsselfrage unterbreiteten Vorschläge zurück und ließ, da Pfarrer Breitenbach selbst dieser Aufforderung nicht nachkam, den Schlüssel am 19. September 1840 durch den Landrat von Mühlhausen auf der Pfarrei in Struth einfordern. Entgegen der Regierungsverfügung, demzufolge der Schlüssel wie früher auf dem Annaberge aufbewahrt werden sollte, nahm die Gutsherrschaft diesen in Verwahrung und ließ auf die jeweilige Bitte des Pfarrers die Kapelle öffnen.

Gleichzeitig nahm die Regierung Stellung zu dem umstrittenen Gebrauch der Annenkirche und erklärte: Es sei nicht statthaft, ein solches Recht aus Eigentumsverhältnissen abzuleiten. Es könne ferner gar nicht bezweifelt werden, dass die genannte Kirche wirklich in das Eigentum der Käufer übergegangen sei, denn in dem Kaufvertrage sei das Kloster mit sämtlichen Grundstücken den Käufern übereignet worden. Die Regierung verwies weiter auf den Artikel 5 des Kaufvertrages, in dem die vom Verkauf ausgeschlossenen kirchlichen Gerätschaften namentlich aufgeführt waren. Wenn jedoch der Kaufvertrag in dieser Hinsicht eine andere Auslegung erfahre, so erübrige sich das dadurch, dass die Annenkirche andernfalls in das Eigentum des Domänen-Fiskus übergegangen sei. Dieser aber beanspruche keine Rechte an der Kapelle, während dieses von den Katholiken des Eichsfeldes geschehe, die weder eine Kirchengesellschaft, noch moralische Person bildeten. Nach Ansicht der Regierung hatte die Anerkennung der Eigentumsrechte der Besitzer des Klostergutes an der Kirche auf dem Annaberge nicht ohne weiteres zur Folge, dass die Fortdauer oder Einstellung der Wallfahrten und Gottesdienste in der Annenkapelle lediglich der Willkür der Gutsherrschaft überlassen blieb. Zur Klärung dieser Frage verlangte sie darum zuverlässige Nachrichten über den Ursprung der Wallfahrtskirche, den Gebrauch derselben zur Klosterzeit und nach der Aufhebung desselben, die Zahl der Wallfahrer und deren Beheimatung, Ferner wurde ein Bericht mit eingehender Begründung darüber gefordert, „inwiefern der fortdauernde Gebrauch der Kapelle als Wallfahrtskirche einem geistlichen Bedürfnisse entspreche oder auch nur religiösen Zwecken förderlich erachtet werden könne, da in der Regel Wallfahrten weder dem sittlichen noch dem bürgerlichen Gedeihen der Teilnehmer ersprießlich seien.“

Aber auch der Gutsbesitzer in Zella wurde durch die Regierungsverfügung vom 24. August 1840 angewiesen, den bisher üblichen Gebrauch der Kirche unangetastet zu lassen. Die Regierung erklärte u. a., die Annenkapelle könne, selbst wenn sie tatsächlich Eigentum des ehemaligen Klosters gewesen sei, nur mit der darauf haftenden Bestimmung, wonach sie dem öffentlichen Kult geweiht sei, in das Eigentum des Käufers übergegangen sein. Es stehe darum der Gutsherrschaft nicht frei, den Gottesdienst zu behindern, der mit Erlaubnis der Regierung an bestimmten Tagen stattfinde.

Röbling aber nahm das volle Eigentumsrecht an der Kapelle für sich in Anspruch. Da ihm dieses durch die Anweisung der Regierung streitig gemacht wurde, erhob er am 4. Mai 1841 Klage dahin, den Königlichen Fiskus zu verurteilen, das unbedingte Eigentumsrecht des Klägers an dem Kirchengebäude auf dem Annaberge und die uneingeschränkte Dispositionsbefugnis desselben darüber anzuerkennen. Die Klagegründe stützten sich hauptsächlich auf den Kaufkontrakt vom 21. und 22. Mai 1811. Auf Grund dieses Vertrages behauptete der Kläger, die Annakirche sei kein Pertinenzstück, sondern vielmehr ein Teil des Klosters selbst gewesen und sei von jeher bis zur Aufhebung des Klosters ausschließlich von den Klosterinsassen benutzt worden. Ferner lasse die Erbauung der Kapelle aus Mitteln des Klosters erkennen, dass dieses Gebäude unzweifelhaft Eigentum desselben gewesen sei. Das Kirchengebäude auf dem Annaberge sei darum durch den Kauf in sein freies Eigentum übergegangen. Als für seine Eigentumsrechte sprechend führte Röbling weiter an, dass die Kapelle von der Gutsherrschaft bzw. den Pächtern in den Zeiten, an denen kein Gottesdienst in dem Gebäude gehalten wurde, zu ökonomischen Zwecken benutzt worden sei. Namentlich seien Kartoffeln und andere Feldfrüchte, sowie ökonomische Gerätschaften darin aufbewahrt worden. Diese Angaben beruhten auf Unwahrheit. Nach der eidlichen Aussage des langjährigen Verwalters Blank waren vor dem oben erwähnten Missbrauch des Gotteshauses durch den Schafmeister ein einziges Mal in höchster Not etwas Bohnen darin aufbewahrt worden, die aber nicht dem Gutspächter, sondern den Dreschern gehörten. Der Kläger glaubte endlich Eigentumsrechte auf die Kapelle daraus herleiten zu können, dass er das sog. Nonnenhaus auf dem Annaberge ohne Widerspruch zu einer Försterwohnung eingerichtet habe.

Für den Königlichen Fiskus ließ sich die Regierung zu Erfurt, Abteilung für die Verwaltung der diversen Steuern, Domänen und Forsten auf die Klage ein und behauptete betreffs ihrer Legitimation zur Sache, dass unter dem Königl. Fiskus nur der Domänenfiskus verstanden werden könne. Dieser aber habe niemals dem Kläger weder das volle Eigentumsrecht, noch ein dasselbe beschränkendes Recht in Anspruch genommen. Die von Röbling in der Klage aufgestellten Behauptungen seien dem Domänenfiskus unbekannt und unerheblich. Die Anweisung vom 24. August 1840 sei von der landespolizeilichen Behörde ausgegangen, also ganz polizeilicher Natur, gegen die der Rechtsweg nicht beschritten werden könne. Die Regierung bat darum, die von Röbling erhobene Klage abzuweisen, da es an jeglichem Klagegrunde fehle. Dieses geschah auch.

Der Kläger hielt jedoch an seinem Antrage fest. Das Oberlandesgericht in Halberstadt wies jedoch in seiner Sitzung vom 7. Juni 1842 den Gutsherrn mit seinem Klageantrage unter Tragung der Kosten ab. –

Inzwischen war der Gutsbesitzer Heinrich Röbling gestorben. Seine Erben, insbesondere sein Schwiegersohn Emil Lutteroth und dessen Sohn Wilhelm erhoben gegen diese Entscheidung Einspruch und setzten die Aufnahme des Verfahrens von neuem durch. Der II. Senat des Königl. Preußischen Oberlandesgerichts in Halberstadt hielt den Rechtsweg gegen die bekannte Regierungsverfügung von 1840 für zulässig und begründet. Die Regierung bestritt dieses und erhob den Kompetenzkonflikt. Das Oberlandesgericht forderte daraufhin durch Beschluss vom 25. August 1843 die Regierung auf, den Kompetenzkonflikt nach Par. 2 des Gesetzes vom 11. Mai 1842 zu erledigen. Die Zurücknahme erfolgte dann schließlich auf Anweisung des zuständigen Königlichen Staatsministeriums. Am 24. Dez. 1844 hob das Oberlandesgericht das Urteil vom 7. Juni 1842 auf und wies den Prozess zur ersten Instanz zurück.

Die Regierung nahm aber die in ihrer Verfügung ausgesprochene Behauptung: Die Kapelle sei nur mit der auf dem Gebäude lastenden Bestimmung, wonach sie dem öffentlichen Kult geweiht sei, nicht zurück. Es wurde deshalb die Beweisaufnahme rücksichtlich der klägerischen Behauptungen verfügt. Die Klagegründe der Röblingschen Erben sind bekannt. Die verklagte Regierung führte in ihrer Rechtsausführung, die sich im Wesentlichen auf die Berichte des Kommissariats stütze, u. a, an: Der Verkauf der Annenkirche habe nur mit der Berechtigung geschehen können, die auf dem Gebäude ruhe. Die Kapelle sei von jeher als Wallfahrtskirche der Katholiken des Eichsfeldes angesehen und behandelt worden. Darum könne der Käufer die Kapelle nur mit dieser Last erworben haben. Außerdem beanspruche die Gemeinde Struth das Benutzungsrecht der Kirche in der Zeit vom 1. Mai bis Michaelis. Bekanntlich war die Annenkapelle in dem Kaufvertrag nicht namentlich aufgeführt. Die Regierung bestritt nunmehr, dass die Kirche überhaupt mitverkauft sei, denn der Gebrauch des Kirchengebäudes als Wallfahrtskapelle für die ganze Gegend spreche gegen den eigentümlichen Besitz des Klosters zur Zeit der Säkularisation. Es sei ferner unwahrscheinlich, dass das Kloster noch eine zweite Kirche außerhalb der Klostermauern zu seinem ausschließlichen Gebrauch besessen habe. Man müsse vielmehr annehmen, dass die Kapelle den religiösen Zwecken benachbarter Gemeinden diente und dazu eigens erbaut worden sei.

Die Regierung verwies weiter auf die ehemalige Klosterkirche. Unzweifelhaft sei dieses Kirchengebäude Eigentum des Klosters gewesen. Trotzdem habe man es für nötig gehalten, ausdrücklich am Schlusse des Kaufvertrages zu erwähnen, dass dieses Gebäude dem Käufer als Eigentum mitüberlassen werde. Hätte man 1811 beabsichtigt, die außerhalb der Klostermauern gelegene Annakirche den Käufern als Eigentum zu überlassen, sei es doppelt notwendig gewesen, deren Erwähnung in den Vertrag aufzunehmen. Aus der angeblichen Verwendung der Kapelle zu landwirtschaftlichen Zwecken könne keineswegs ein Eigentumsübergang hergeleitet werden. Außerdem seien die klägerischen Behauptungen durch nichts bewiesen. Ferner rechtfertige das Schicksal des Nonnenhauses nicht die daraus gezogenen Folgerungen, da das betreffende Haus in keinem juristischen Verhältnisse zu der umstrittenen Kirche stehe. Das Oberlandesgericht in Halberstadt schloss sich der Ansicht der Regierung an und erkannte in seinem Urteil vom 18. Juni 1846: „Die Kläger haben hiernach gegen den Fiskus nichts beigebracht, was ihren Klageantrag zu begründen geeignet wäre. Sie müssen darum unter Verurteilung in die Kosten mit ihrem erhobenen Klageantrage zurückgewiesen werden und zwar schlechthin, weil die früher angenommene Möglichkeit eines anderweitigen Anspruches rücksichtlich des vorliegenden Objektes nach der gegenwärtigen, über das Recht selbst stattgefundenen Erörterung und Entscheidung fortfällt.“

Die Kläger gaben sich aber mit diesem Urteilsspruch nicht zufrieden, und setzten die Wiederaufnahme des Verfahrens durch.

Während des schwebenden Prozesses wussten die Gutsbesitzer in Zella mit nie erlahmender Wachsamkeit ihre Rechte an der Annenkirche zu wahren. Ein Formfehler in dem Schreiben des Struther Pfarrers im Frühjahr 1843 – das „bittliche Ersuchen“ wurde vermisst – gab dem Gutsbesitzer Veranlassung, die Kapelle nicht zu öffnen in der Bittwoche. Die erregte Volksmenge verschaffte sich daraufhin gewaltsam Einlass. Lutteroth ließ die Verletzung seines Hausrechtes polizeilich ahnden. Wiederholt versuchte die Kirchengemeinde Struth die dringend notwendigen Reparaturen am Kirchengebäude auf eigene Kosten ausführen zu lassen, wurde aber stets durch die Gutsherrschaft daran gehindert. Anzeichen einer beabsichtigten Störung des Gottesdienstes auf dem Annaberge mehrten sich im Jahre 1847. Emil Lutteroth war es nämlich gelungen, die Wiederaufnahme des Prozesses durchzusetzen. Die Gutsherrschaft suchte nun Konflikte herbeizuführen, scheinbar, um in dem schwebenden Prozess für ihre an der Kapelle beanspruchten Rechte kräftigere Beweismittel zu bekommen. Kurz vor dem Annenfeste 1847 ließ Lutteroth durch die landrätliche Behörde im Mühlhäuser Kreisblatt Nr. 30 das „Publikum“ auffordern, am Annatage die Zellischen Driften zu schonen. Seit undenklichen Zeiten erfolgte der theophorische Umgang außerhalb des Kapellenhofes auf den besagten Driften, ferner führte außer dem sehr steilen Eselstieg vom Friedatale aus nur ein Weg über diese Hutungen zum Annaberge. In den letzten Oktobertagen des gleichen Jahres schaffte der Verwalter Achilles durch Strafgefangene eine größere Anzahl Getreideböcke in die Kapelle, in der sich noch das hochwürdigste Gut befand. Dieses geschah offenbar, um die in den Klagegründen von Lutteroth aufgestellte Behauptung, die Kapelle sei in der gottesdienstfreien Zeit des Jahres von jeher zu ökonomischen Zwecken gebraucht worden, zu beweisen.

Die für Struth so folgenschweren Ausschreitungen, die in der Nacht vom 24. zum 25. März 1848 zur Erstürmung und Plünderung des Klosters Zella führten, verschärften das ohnehin gespannte Verhältnis zwischen dem Dorfe und der Gutsherrschaft. Unverständlicherweise nahm Pfarrer Leineweber den in Zella entwendeten Kapellenschlüssel längere Zeit in Verwahrung. Es fehlte nun nicht an Widersachern, die den Geistlichen bezichtigten, den revoltierenden Haufen durch hetzerische Reden aufgewiegelt zu haben. Pfarrer Leineweber konnte indes seine Unschuld dartun. In Wirklichkeit hatte er vom Fenster aus das unsinnige Beginnen getadelt und zu verhindern gesucht, wofür man ihm die Fensterscheiben an der ganzen der Straße zugekehrten Hausfront einschlug.

Kloster Zella um 1910Wenige Wochen später, am 19. April 1848, entschied der II. Senat des Oberlandesgerichts in Halberstadt den Prozess zugunsten Lutteroths. Das Schicksal wollte es, dass die Kläger wichtige, bisher unbekannte Urkunden beizubringen vermochten. Nach diesen stand einwandfrei fest, dass die Kirche auf dem Annaberge unter den gleichen Bedingungen veräußert worden war wie die Klosterkirche in Zella. Durch die Säkularisation des Klosters war auch der Annakirche als Zubehör desselben die Eigenschaft eines kirchlichen Gutes genommen und in ein weltliches, d. h. jeder Veräußerung unterworfenes Privatgebäude umgewandelt worden. Bei den beiden Urkunden handelt es sich um Originalverfügungen des Domänendirektors Reiche. Am 11. Juni 1811 forderte Reiche den Kommissariatsassessor Würschmidt auf, die in einem beigefügten Verzeichnis aufgeführten kirchlichen Gerätschaften der Klosterkirche und auch der Annenkirche in Empfang zu nehmen. In diesem Inventarium waren auch die Gegenstände der Annenkirche namentlich angegeben. Nicht benannt waren die beiden Glocken und die kleine Orgel. Diese reklamierte Direktor Reiche in seiner zweiten Verfügung vom 10. März 1816 beim Landratsamt in Mühlhausen unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die frühere Urkunde. Beide Urkunden harrten im Privatarchiv des Gutsherrn Emil Lutteroth der Wiederentdeckung. Der Pfarrer von Struth selbst gab die Veranlassung zur Auffindung der beiden Schriftstücke. Im Frühjahr 1847 verließ nach Ablauf der Pachtzeit Friedrich Herzberg, ein Bruder des leider zu früh verstorbenen Amtmannes Chr. Herzberg, Kloster Zella.

Das alte Klostergut wurde nun durch einen Verwalter bewirtschaftet. Die Klosterkirche führte man jetzt gänzlich profanen Zwecken zu. Das ehrwürdige Gotteshaus erlitt seine größte Schmach: es wurde Schweinestall. Da beanspruchte Pfarrer Leineweber, Struth, die bisher im Chor der Kirche befindlichen Kirchenstühle, darunter den Äbtissinnenstuhl. Diese waren nach der Urkunde vom 17. September 1811 der Kirche in Struth geschenkt worden. Wilhelm Lutteroth verweigerte zunächst die Herausgabe der Stühle, weil diese nicht in das Verzeichnis der vom Verkauf ausgeschlossenen Gerätschaften aufgenommen waren, gab aber später die Stühle frei. Dieser neue Streitfall veranlasste Lutteroth, sein Archiv einer genauen Durchsicht zu unterziehen, und dabei stieß er auf die beiden Urkunden.

Wider Erwarten konnten die Wallfahrten und Andachten auch in diesem Jahre auf dem Annaberge ungehindert stattfinden. Angesichts der großen Erregung unter der Bevölkerung der Höhendörfer, namentlich der Ortschaft Struth, wagte es Lutteroth nicht, die Vollstreckung des Urteilsspruches auf privatem Wege zu vollziehen. Er bat darum im Dezember 1848 die Regierung in Erfurt, die Bischöfliche Behörde vom Ausgang des Rechtsstreites zu unterrichten und durch diese den Pfarrer in Struth mit geeigneten Verhaltungsmaßregeln zu versehen. Die Gutsherrschaft schickte sich nun an, die Eigentumsrecht an der Annakapelle in vollem Umfange in Anspruch zu nehmen und suchte durch die Regierung die Entfernung der Glocken, Orgel und der anderen kirchlichen Gegenstände aus der Annakapelle zu erreichen.

Die Regierung aber wünschte die Erhaltung der Wallfahrtskirche. Der gleiche Wunsch beseelte die eichsfeldischen Katholiken. Darum wandte sich der spätere Kommissarius Zehrt am 14. Dezember 1848 an Lutteroth mit der Bitte, von der Profanierung der Annakapelle abzusehen und die allen Eichsfeldern so vertraute Wallfahrtskirche dem öffentlichen Gottesdienste nicht zu entziehen. Wie zu erwarten war, knüpfte der Gutsherr die fernere Benutzung der Kirche an sehr harte Bedingungen. U. a. wünschte er die Wallfahrten und Gottesdienste in der Annakirche auf den ersten Maisonntag, einen der Bittage und auf den Annatag zu beschränken. Ferner sollte der theophorische Umgang künftig nicht mehr auf die Driften ausgedehnt werden. Der Gutsherr wünschte weiter, dass der Gottesdienst auf dem Annaberge dem Pfarrer von Effelder übertragen werde, wenn es sich bewahrheitete, dass der Pfarrer von Struth bei der Demolierung des Klostergutes durch Reben die Bevölkerung aufgereizt habe.

Lutteroth behielt sich den Widerruf dieser Erlaubnis ausdrücklich vor und stellte es der geistlichen Behörde anheim, die Wallfahrten gegebenenfalls schon jetzt nach Struth zu verlegen, da er angesichts der bevorstehenden Ablösung der Weidegerechtsame des Klostergutes in den Fluren von Struth und Effelder jede Drift zur Ernährung seiner Herden benötige und dann das Zertreten des Grases an den Wallfahrtstagen nicht mehr gestatten könne. –

Pfarrer Leineweber war über den Stand dieser Verhandlungen in Unkenntnis geblieben. Er forderte darum seine Gemeinde in den ersten Maitagen 1849 von der Kanzel auf, sich zur üblichen Maiandacht auf dem Annaberge einzufinden. Lutteroth protestierte gegen dieses Vorgehen, ließ aber doch die Kapelle öffnen, weil „der Geistliche dem Volke Hoffnung davon gemacht habe“. Er ersuchte den Pfarrer bezüglich des Gottesdienstes am Annaberge rechtzeitig schriftlich um Öffnung der Kapelle nachzukommen. In diesem Jahre unternahm Lutteroth eine große Reise und übergab darum den Kapellenschlüssel dem Justizrat Danner in Mühlhausen. Dieser händigte den Schlüssel auf die schriftliche Bitte des Struther Pfarrers bereitwilligst aus und erklärte sich bereit, unter den üblichen Bedingungen auch zu jeder anderen Zeit die Kapelle öffnen zu lassen. So konnte 1849 die Annakirche ungehindert benutzt werden. Das Generalvikariat in Paderborn lehnte jedoch die Annahme der Bedingungen Lutteroths ab und beauftragte das Kommissariat in Heiligenstadt, unverzüglich zu prüfen, ob der seitherige Mitgebrauch der Kapelle durch die Gemeinde Struth nicht auf Grund der Verjährung mit rechtlichem Erfolge beansprucht werden könne.

Im folgenden Frühling führte eine Unvorsichtigkeit des Struther Pfarrers zu neuen Schwierigkeiten. Dieser zeigte dem Gutsherrn in Kloster Zella lediglich an, dass am 5., 6., 8. und 12. Mai in der Annenkirche Gottesdienst sei und bat um rechtzeitige Öffnung des Gotteshauses. Lutteroth führte sich durch die Form des Schreibens beleidigt und beschwerte sich beim Kommissariat und bat, den Pfarrer von Struth die Beachtung der von ihm gestellten Bedingungen zur Pflicht zu machen. Andernfalls drohte er die Erlaubnis zur Abhaltung des Gottesdienstes zurückzuziehen. Das Kommissariat erwiderte daraufhin dem Gutsherrn, dass vor dem Abschluss der in dieser Angelegenheit schwebenden Verhandlungen zwischen der Bischöflichen Behörde in Paderborn und der Regierung der Struther Geistliche nicht mit anderen Unterweisungen versehen werden könnte. Da im Vorjahre einmal aus der erregten Volksmenge vor der verschlossenen Kirche Verwünschungen und Drohungen laut geworden waren, hielt es Lutteroth für angebracht, beim Landratsamte in Mühlhausen um polizeilichen Schutz zu bitten.

Nach Überwindung mancherlei Schwierigkeiten gelang es der geschickten Vermittlung des Landrats von Mühlhausen, von Lutteroth die Freigabe der Kapelle unter den früheren Bedingungen bis zum 1. Mai 1851 zu erwirken. Pfarrer Leineweber wurde von diesem Abkommen durch Lutteroth benachrichtigt. Trotzdem holte er die Erlaubnis um Öffnung der Kapelle nicht ein, zog aber in Prozession am 3. Mai zum Annaberge. Die Kirche war natürlich verschlossen. Es wurde eine Maiandacht unter freiem Himmel gehalten, Pfarrer Leineweber hatte noch dazu die Unvorsichtigkeit begangen, den Brief Lutteroths von der Kanzel zu verlesen. Dieses war bei der herrschenden Erregtheit der Gemüter umso weniger zu billigen. Empört erstattete Lutteroth beim Landratsamt Anzeige. Noch einmal gelang es dem Landrat zu vermitteln. Nach diesem Zwischenfall wurden die Wallfahrten und Andachten 1850 ohne Störung gehalten. Durch die jüngsten Streitigkeiten sah sich der Landrat doch veranlasst, dem Kommissariate zu eröffnen, dass er den Gutsbesitzer Lutteroth in seinem anerkanntem Rechte mit allem ihm zu Gebote stehenden Mitteln schützen werde, wenn nicht bis zum vereinbarten Zeitpunkt ein Abkommen getroffen sei; er ersuchte ferner, den Pfarrer Leineweber für alle ungesetzlichen Folgen, die sich aus dem Vorlesen des Briefes ergeben könnten, zur Verantwortung zu ziehen.

Die geistliche Behörde verharrte auch da noch in ihrer ablehnenden Stellung gegenüber den Vorschlägen der Gutsherrschaft in Zella und entgegnete auf eine diesbezügliche Anfrage des Landrates, dass nach den bisherigen Ermittelungen der Kirchengemeinde Struth ein unabhängiges wirkliches Recht zur freien Benutzung der Annakapelle für den jährlichen Gottesdienst seit urdenklichen Zeiten zustehe, und dass sie dieses Recht nicht freiwillig aufgeben werde. Daraufhin erwirkte Lutteroth durch den Landrat in Mühlhausen bei der Regierung in Erfurt die Zurückziehung der polizeilichen Anweisung vom Jahre 1840. Ferner wurden der Gutsherrschaft die zum Schutze ihres Eigentums erbetenen Polizeikräfte gewährt.

Die Regierung stellte nun auch der geistlichen Behörde anheim, die fernere Benutzung der Annakapelle durch eine gütige Einigung mit den Eigentümern oder aber durch eine gerichtliche Entscheidung baldigst zu erlangen. Am 27. April 1851 verkündigte Pfr. Leineweber die herkömmliche Maiandacht auf dem Annaberge und bat auch am folgenden Tage Lutteroth um Öffnung der Kirche. Wenige Tage später wurde der Struther Pfarrgeistliche durch das Landratsamt angewiesen, die Gemeinde über die rechtliche Lage bezüglich der Benutzung der Annenkirche aufzuklären und zur Vermeidung von Ausschreitungen geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Bereits einige Tage vorher waren die Schulzen von Struth und Effelder mit entsprechenden Anweisungen von Mühlhausen aus versehen worden. Der Struther Schulze Döring erklärte darauf dem Pfarrer, dass die Gemeinde nicht in Prozession nach dem Annaberge gehen werde. Ganz anders aber dachte die Struther Bevölkerung, unter der sich die Erregung bis zur Siedehitze steigerte, und es bedurfte nur eines geringfügigen Anlasses, um eine ähnliche Katastrophe wie in den Märztagen 1848 herbeizuführen.

Der Himmel aber wusste das Schlimmste zu verhüten. In den frühen Morgenstunden des 4. Mai ging auf der Höhe ein gewaltiger Regen nieder, sodass die Prozession zu Hause blieb. Bereits um 7 Uhr waren zwei Gendarmen in strömendem Regen durch das Dorf zum Annaberg geritten. In Mühlhausen stand eine Abteilung Ulanen in Alarmbereitschaft. Der Tag der großen Annenwallfahrt kam immer näher; wiederum bat der Pfarrer Leineweber um Öffnung der Kapelle. Die Antwort blieb aus. Entgegen der Regierungsverfügung war die Wallfahrt in Struth und einigen anderen Orten verkündigt worden. Lutteroth erstattete sofort Anzeige beim Landratsamt in Mühlhausen. Abermals wurden dort polizeiliche Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Auf Bitten seiner aus Struth stammenden Landarbeiter ließ sich Lutteroth dann doch bewegen, die Annakirche am Wallfahrtstage zu öffnen. Es sollte die letzte Annenwallfahrt sein. Hierdurch ermutigt, bat Pfarrer Leineweber auch um Öffnung der Kapelle an den neun Dienstagen. Lutteroth jedoch lehnte jetzt schroff ab.

Wider Erwarten kam Lutteroth im Frühling 1852 der Bitte des Struther Pfarrgeistlichen um Öffnung der Kapelle am ersten Maisonntag bereitwillig nach und erklärte, auch fernerhin in gebührender Form abgefassten Gesuchen nicht entgegen zu sein, wenn das Kommissariat anliegenden Revers ausstelle und von der Regierung in Erfurt genehmigen lasse. Die gewünschte Erklärung lautete: „Das Bischöfliche Geistliche Kommissariat erkennt hiermit wiederholt das unbedingte Eigentumsrecht des Gutsbesitzers Wilhelm Lutteroth in Kloster Zella an den Kirchengebänden auf dem St.-Annaberge bei Zelle und dessen unbedingte Dispositionsbefugnis darüber, und zwar dergestalt an, dass es demselben nicht um Friedensleben willen, sondern von Rechtswegen frei- und zusteht, Kirchengemeinden die gedachten Kirchengebäude behufs Abhaltung des Gottesdienstes ebenso gut vorzuenthalten, als ihnen die Benutzung zu diesem Zwecke auf vorgängige Bitte zu gestatten.“

Ein herbschöner Maisonntag war auf der Höhe angebrochen. In hellen Scharen eilten die Gläubigen zum Annaberge, dessen Linden sich mit dem ersten Grün schmückten. Zum letzten Male sollte an diesem Tage in der altehrwürdigen Kapelle das hl. Opfer gefeiert werden. Wohl niemand der Anwesenden ahnte das nahe Ende der vielhundertjährigen Wallfahrt.

Die geistliche Behörde lehnte am 24. Mai die Ausstellung der Erklärung ab. Sie wollte eben den dauernden, bedingungslosen Besitz der Kirche gesichert wissen und nur ein dahin lautendes Abkommen treffen. Tatsächlich aber war durch das bekannte Urteil vom Jahre 1848 die Kapelle als Privateigentum der Gutsherrschaft erklärt und damit auch deren Willkür ausgeliefert. Alle Bemühungen der Struther, in diesem Jahre die Annenwallfahrt in der Annakirche zu feiern, waren vergeblich. Lutteroth erklärte, er habe jetzt keine Lust mehr, die bedeutenden Reparaturkosten zu zahlen. Um jeder aus dieser Unterlassung herzuleitenden Verantwortlichkeit enthoben zu sein, untersagte er die Benutzung der Annakirche zu gottesdienstlichen Feiern ein für alle Mal. Eine gütige Verständigung wäre hier am Platze gewesen. Wahrscheinlich wäre es der geistlichen Behörde durch persönlichen Einsatz gelungen, die Wallfahrtskapelle für das Eichsfeld zu retten. Stattdessen setzte man seine Hoffnung auf die bereits angestrengte Besitzstörungsklage, der Kirchengemeinde Struth.

Unzweifelhaft war der nahe Wallfahrtsort auf dem Annaberge für das religiöse Leben des Dorfes Struth von großer Bedeutung. Während des Kirchenneubaues in Struth fand der Pfarrgottesdienst von 1794 bis 1797 auf dem Annaberge statt. Vielfach wurde die Annakirche auch als Nebenkirche von Struth angesehen. Diese Ansicht ließ sich jedoch durch Urkunden nicht beweisen. Zur Entkräftung dieser Auffassung werden von der Gegenpartei häufig Äußerungen des hinlänglich bekannten liberalen Kommissarius Würschmidt zitiert. In seinem Bericht vom 18. Februar 1818 betr. „die Bestimmung gewisser Einkünfte zur Unterhaltung der des Gottesdienstes wegen beibehaltenen Kirchen der unter französischer Herrschaft aufgehobenen Stifter und Klöster“ heißt es wörtlich: „Auf dem sog. Annaberge bei Zella, wo das Kloster eine Schäferei hatte und Öconomie trieb, liegt zwar eine kleine Kirche, in der aber für die Strüther niemals ein feierlicher Gottesdienst gehalten wurde. Sie diente hauptsächlich der Privatandacht der Nonnen, ausgenommen am St.-Annatage, wo viele Wallfahrer aus der ganzen Gegend daselbst zusammenströmen. Ob die westfälische Regierung beim Klosterverkaufe die Beibehaltung dieser Kirche ausbedungen habe, ist aus Unkunde des Kaufkontraktes nicht bekannt. […] Sie ist hingegen keine Pfarrkirche, somit entbehrlich, auch umso weniger wünschenswert, als die Wallfahrten im Allgemeinen genommen die ächte Geistesandacht hindern, Vorurteile und Aberglauben begünstigen und die Sittlichkeit bei solchen Gelegenheiten mitunter verletzt wird.“

Indes nahm die Kirchengemeinde Struth auf Grund der Verjährung das Mitbenutzungsrecht der Kapelle für sich in Anspruch und berief sich in der Klagebegründung auf die seit alters her ausschließlich für die Gemeinde Struth bestehenden Gottesdienste und Andachten, insbesondere auf die seit 1788 bestehende Messstiftung. Die Klage wurde jedoch unter Hinweis auf das Urteil des Oberlandesgerichts zu Halberstadt am 19. März 1853 als unbegründet zurückgewiesen, ebenso der hierauf erhobene Einspruch. Auch die beim Königlichen Appellationsgericht zu Halberstadt eingebrachte Beschwerde hatte keinen Erfolg.

Nach diesem unerwarteten Ausgange des Prozesses beschritt die Gemeinde Struth auf eigene Faust den einzig möglichen Weg zur Erhaltung der Wallfahrtskapelle, indem sie persönliche Verhandlungen mit dem Gutsherrn anknüpfte. Dieser erklärte sich bereit, die Kapelle an den Wallfahrtstagen freizugeben und auch angemessen instand setzen zu lassen, wenn die geistliche Behörde den gewünschten Revers ausstelle. Wiederholt bat der Kirchenvorstand von Struth das Kommissariat, der Forderung Lutteroths nachzugeben. Am 3. Februar 1855, fast zwei Jahre nach dem unglücklichen Prozess der Struther Kirchengemeinde, berichtete die geistliche Behörde in Heiligenstadt an das Generalvikariat in Paderborn über den letzten Prozess und bat zugleich um Verhaltungsmaßregeln bezüglich des Reverses.

Schon am 10. Februar entschied das Generalvikariat, dass die verlangte Erklärung nicht auszustellen sei. Hierüber herrschte in Struth große Bestürzung. Am 14. April begab sich Pfarrer Leineweber zu der entscheidenden Besprechung nach Zella. Hier händigte er Lutteroth die Verfügung des Kommissariates aus, welche die Ablehnung des Reverses erneut aussprach. Der Gutsherr bat sich einige Tage Bedenkzeit aus. Aber bereits am folgenden Tage eröffnete er dem Geistlichen in Struth, dass er auf Grund der Bischöflichen Entscheidung die Annakapelle nie wieder öffnen werde und forderte die Räumung derselben innerhalb vier Wochen. Nochmals wandte sich der Kirchenvorstand in Struth in einem Gesuch an Lutteroth, vergebens. Auch Pfarrer Leineweber versuchte diesen nun zu bestimmen, die Annakapelle den Katholiken des Eichsfeldes zu schenken. Leider vermochte sich der Gutsherr aus allzu menschlichen Überlegungen nicht zu diesem hochherzigen Entschluss aufzuschwingen, durch den er sich in den Herzen des eichsfeldischen Volkes ein immerwährendes Denkmal errichtet hätte.

Bischof Konrad MartinAm 30. April 1855 verfügte dann das Kommissariat die Räumung der Kapelle. In Struth zögerte man lange damit in der Hoffnung, Lutteroth doch zur Freigabe des Gotteshauses zu bewegen. Allein alle Besprechungen zeitigten nur ein negatives Ergebnis. Der Gutsherr bestand nach wie vor auf die Ausstellung des Reverses. Auf die dringende Bitte des Struther Kirchenvorstandes berichtete der Kommissarius nochmals an das Generalvikariat in Paderborn. Der Bekennerbischof Dr. Konrad Martin, dem man scheinbar erst jetzt diese Angelegenheit zur Entscheidung unterbreitete, wünschte die Wallfahrtskapelle um jeden Preis dem Eichsfelde zu erhalten und verfügte die sofortige Ausfertigung des Reverses. Überdies wandte er sich in einem privaten Schreiben an den Pfarrer Leineweber in Struth und legte diesem mit seiner ganzen oberhirtlichen Sorge nahe, alles daran zu setzen, um die volksbeliebte Wallfahrtskirche zu retten.

Leider kam das energische Eingreifen des Bischofs zu spät. Wilhelm Lutteroth konnte sich nun nicht mehr zur Annahme der Erklärung entschließen. Er erklärte dem Pfarrer Leineweber, er wolle gelegentlich noch einmal mit seinem hochbetagten Vater darüber sprechen, ohne dessen Einwilligung er aus kindlicher Pietät nichts unternehmen wolle. Sein Vater aber werde dagegen sein, weil er sich noch zu sehr beleidigt fühle, da ihm das Kommissariat die Trauung seiner Tochter in der Annakapelle habe verweigern wollen, und er so viele Prozesskosten habe bezahlen müssen.

Nach einer mündlichen Überlieferung soll Lutteroth die Absicht gehabt haben, die Kapelle dem Bischof Konrad Martin persönlich als Geschenk zu übergeben. Im Jahre 1857 firmte der Bischof von Paderborn in Struth. Durch die katholischen Arbeiter hatte Lutteroth hiervon erfahren. In der Hoffnung, dass der hohe geistliche Würdenträger auch Kloster Zella mit seinem Besuch beehren würde, hatte der Gutsbesitzer umfangreiche Vorbereitungen getroffen. Der bischöfliche Besuch blieb aus uns unbekannten Gründen aus. In diesem Jahre brechen auch die uns überkommenen Urkunden ab.

Die kirchlichen Gerätschaften nahm Lutteroth nicht in Anspruch; Struth behielt das Gnadenbild, das bereits 1854 nach dort überführt worden war. Die „sieben Fälle“ bekam Kaplan Schäfer in Lengenfeld, der diesen Stationsweg von Hildebrandshausen zum Hülfensberg errichten ließ.

Das einst so anmutige Heiligtum stand jahrelang verlassen da. Eine Stätte des Gebetes und der Andacht war vernichtet; noch immer aber rauschten die hohen Linden die alten Weisen.

Kloster-Verwalter Keuthan Im Jahre 1869 kam Lutteroth in ernste wirtschaftliche Schwierigkeiten. Er war gezwungen, das Klostergut an den Kaufmann Weiß aus Langensalza zu verkaufen. In seiner Verbitterung holte Lutteroth damals zum letzten Schlage aus, der das Schicksal der Annakapelle endgültig besiegelte. Bevor der Kaufvertrag abgeschlossen wurde, vereinbarte Lutteroth mit dem Käufer, zuvor noch die Kapelle abreißen zu lassen. Man beauftragte mit den Abbruchsarbeiten den damaligen Pächter Keuthan. Dieser erhielt dafür für das gesamte Material und 400 Taler, die Käufer und Verkäufer zu gleichen Teilen trugen. Die katholischen Arbeiter von Struth mussten ihr trautes Wallfahrtskirchlein, an das sich vielleicht ihre schönsten Jugenderinnerungen knüpften, blutenden Herzens abreißen. Lassen wir hier den Struther Chronisten Gatzemeyer zu uns sprechen: „Bevor aber die mit dem Abbruch beauftragten Arbeiter zum Abbruch des Gotteshauses Hand anlegten, und die Glocken aus dem Turme nahmen, baten sie sich bei Herrn Keuthan die Erlaubnis aus, noch einmal die Glocken läuten zu dürfen. Es wurde ihnen gestattet, und so läuteten sie nach der Weise, wie man nach katholischem Brauch hinläutet. Herr Keuthan, zwar nicht Katholik, wandte sich beiseite und Tränen der Rührung bemerkte man in seinen Augen.“

Die Klosterwaldungen kaufte der Fiskus, einen kleinen Teil erwarb die Gemeinde Effelder.

Der über die Grenzen des Eichsfeldes hinaus bekannte Pfarrer Gerhardy kam dem Ersuchen Lutteroths, Altäre, Kommunionbank, Kanzel und Glocken aus der Kapelle zu entfernen, nicht nach. Er erklärte, seine Hand zur Vernichtung des Heiligtums nicht reichen zu wollen. Dechant Spieß ließ endlich die Kapelle räumen und alle Gegenstände nach Lengenfeld unterm Stein schaffen. Eine Glocke erhielt Dieterode, die andere das Kloster der Barmherzigen Schwestern in Heiligenstadt. Es ließ sich bisher nicht mit Sicherheit feststellen, wohin die übrigen Einrichtungsgegenstände gelangten, sie scheinen größtenteils in auswärtige Museen abgewandert zu sein. Wilhelm Lutteroth starb wenige Jahre später, verarmt und verbittert.

Die Wallfahrten und Andachten wurden in den ersten Jahrzehnten nach dem Verlust der Wallfahrtskirche in der Struther Pfarrkirche fortgesetzt Bischof Dr. Konrad Martin von Paderborn förderte dieses nach Kräften und erwirkte auf seiner Romreise im Frühjahr 1859, auf der ihn u. a. Pfarrer Leineweber von Struth begleitete, beim Heiligen Vater, dass jedem Christgläubigen bei der Verehrung der hl. Mutter Anna am Annentage und während der Oktav in der Struther Pfarrkirche die Gewinnung eines vollkommenen Ablasses ermöglicht wurde. An den nach dem Annentage folgenden neun Dienstagen konnte ein Ablass von 7 Jahren und 7 Quadragenen gewonnen werden. Mit welcher Liebe und Verehrung aber die Struther Bevölkerung an dem Annaberg hing, zeigte sich so recht beim Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870. Die zu den Fahnen eilenden Krieger Struths stellten sich unter den besonderen Schutz der hl. Anna und gelobten vor ihrem Auszug feierlich in der Kirche die Errichtung der noch heute beliebten Anna-Bruderschaft, die am 13. März 1872 vom Bischof Konrad Martin die feierliche Genehmigung erhielt.

Der Zustrom der Wallfahrer nach Struth ließ von Jahr zu Jahr nach. Viele Ortschaften stellten gar bald ihre Wallfahrten ein. Als letztes Dorf entsandte Effelder bis kurz nach dem Weltkriege am Annentage eine Prozession nach Struth. Die kirchlichen Feierlichkeiten werden in der Struther Kirche bis auf den heutigen Tag begangen, allein Wallfahrer von auswärts sind sehr selten geworden. Die Ursache ist leicht zu ergründen. Es fehlte eben dem wallfahrtsfrohen eichsfeldischen Volke jenes altehrwürdige, stimmungsvolle Heiligtum auf dem weltfernen Annaberge.

Ich habe die angenehme Pflicht, an dieser Stelle Herrn Rittmeister a. D. von Fries, Kloster Zella, für die bereitwilligst zur Verfügung gestellten, bisher auf dem Eichsfelde unbekannten Bilder der St.-Annenkapelle (Außen- und Innenansicht) aufrichtig zu danken.

Franz Springmann

Kloster Zella um 1900

Quellen:

Kommissariatsarchiv Heiligenstadt:

  • 1. Acta betr. die Kirche auf dem Annaberge bei Struth. (Rep. Fach 208 Nr. 8).
  • 2. Acta betr. den Prozess wegen der St.-Annenkapelle bei Struth. (Rep. Fach 208 Nr. 9).
  • 3. Acta betr. Rechnungen des Klosters Zella. (Rep. Fach 278 Nr. 10).
  • 4. Acta specialia betr. Geschichtliches über Kloster Zella. (Rep. Fach 278 Nr. 3).
  • 5. Acta specialia betr. Besitzungen, Gerechtsame Patronatsrechte über Effelder, Struth, Silberhausen des Klosters Zella. (Rep, Fach 278 Nr. 9).

Pfarrarchiv Struth:

  • 6. Acta betr. die Kirche auf dem Annaberge.
  • 7. Nolte: Ortschronik von Struth, umfassend die Zeit von 1800-1837.
  • 8. Gatzemeyer: Schul- und Ortschronik von Struth.
  • 9. Kirchenrechnungen von Struth 1760-1870.

Literatur:

  • Knieb: Zur Geschichte des Klosters Zella. Unser Eichsfeld, 4. Bd. S. 13-22, 58-74
  • Duval: Eichsfeld.