Der „Eichsfeld-Express“ (1991)

Im Tagesablauf unseres Bischofsteiner Erlebens hatte die am Schloss vorbeiführende Bahnstrecke eine besondere Bedeutung. Wir kannten genau den Zeittakt der vorbei ratternden, laut bimmelnden Züge und wussten immer, was die Stunde geschlagen hatte: z. B. „nur noch eine halbe Stunde bis zum Mittagessen!“

Abends wurde die Gleisstrecke bis zum Entenberg­Tunnel – der „Bischofsteiner Ku-Damm“ unterhalb des „Kuh-Palais“ – ein beliebter Bummelplatz vorm Zubettgehen.

Bei der Rückkehr aus den Ferien begrüßte die Mehrzahl der von Leinefelde her kommenden Schüler mit lautem Geschrei ihre am Bahnübergang oberhalb des Schlosses wartenden, schon vorher aus der Gegenrichtung eingetroffenen Kameraden. Sie warfen ihnen ihre Koffer zu, um dann unbeschwert, leichten Schrittes vom Lengenfelder Bahnhof zum Schloss hinaufzusteigen.

Die Strecke Leinefelde – Eschwege wurde in der Zeit von 1875 – 1880 erbaut. Sie war Teil der „Kanonenbahn“ von Berlin nach Metz, die zusätzlich zu dem meist in Ost-West- und Nord-Süd-Richtung errichtetem Bahnnetz eine besondere strategische Maßnahme zur schnelleren Landesverteidigung des Reiches darstellte. Außerdem wollte man in wirtschaftlich benachteiligten Landesteilen eine strukturelle Verbesserung einleiten.

Der Bau der Strecke durch das Eichsfeld stellte eine technische Meisterleistung dar. Sechs Tunnel mit einer Gesamtlänge von 3.560 Meter mussten in das Gestein gebrochen (der Entenbergtunnel war mit 288 m einer der kürzesten) und das Friedatal in Lengenfeld durch ein Viadukt von 27,5 m Höhe und einer Länge von 240 m überbrückt werden. Am 15. Mai 1880 fuhr der erste Zug von Leinefelde nach Eschwege-Niederhone. Lengenfeld erhielt 1886 eine Haltestelle, der heutige Bahnhof wurde 1908 erbaut.

Der Bahnkörper war zweigleisig ausgebaut. Ein Gleis musste aber nach dem Ende des 1. Weltkrieges entsprechend eines besonderen Artikels des Versailler Vertrages wieder abgebaut werden.

In der Endphase des 2. Weltkrieges wurde auch diese Bahn durch Kampfhandlungen betroffen. Am 2. April 1945, 12.45 Uhr fuhr der letzte Zug aus Lengenfeld nach Leinefelde. In der gleichen Stunde wurde weiter westlich die Bahnbrücke über die Frieda nördlich des gleichnamigen Dorfes (zwischen den Stationen Schwebda und Großtöpfer) von zurückgehenden deutschen Truppen gesprengt.

Dem Lengenfelder Viadukt war das gleiche Schicksal bestimmt. Pioniere füllten die Sprengkammern und bereiteten alles zur Sprengung vor. Der Lengenfelder Bürgermeister Müller beschwor aber den Einheitsführer der letzten deutschen Einheit – einen Hauptmann, dessen Name unbekannt ist –, diesen Befehl mit Rücksicht auf das Leben der einheimischen Bevölkerung nicht auszuführen. So blieb die Brücke erhalten, als die deutschen Soldaten Lengenfeld in der Nacht zum 3. April verließen. Am Nachmittag des 4. April besetzten dann amerikanische Kampftruppen das Dorf und Schloss Bischofstein.

Seit dem Besatzungswechsel am 1. Juli 1945 und dem Niedergehen des Eisernen Vorhangs ist nur noch das Notwendigste an der Bahnstrecke vorgenommen worden. Immerhin verkehrten werktags noch fünf Zugpaare von Leinefelde bis Geismar. An Sonntagen und nach 17 Uhr ruhte der Bahnbetrieb.

Mancher von uns hat in den ersten Nachkriegsjahren mit Hilfe der Züge Bischofstein erreicht, um von dort in dunkler Nacht die Grenze zu überschreiten. Aber bald schon machten scharfe Kontrollen die Benutzung der Bahn unmöglich und die dichte Sperrung der „Friedensgrenze“ diesen Weg aussichtslos.

Noch heute wird die Strecke bis Geismar befahren. Eine Verlängerung nach Eschwege durch Wiederaufbau der zerstörten Friedabrücke hinter Großtöpfer ist aber angesichts der Unrentabilität derartiger Nebenstrecken nicht geplant.

Die große Lengenfelder Bahnbrücke – Wahrzeichen des Dorfes – knarrt bedrohlich, wenn ein Zug langsam darüber fährt. Die sonst alle fünf Jahre übliche Generalüberholung unterblieb. Die Stahlkonstruktion ist stark verrostet, der Betrieb gefährlich. Es wird erwogen, den Betrieb einzustellen. Heimatfreunde schlagen vor, einen Traditionszug (Hobbybahn) als Touristenattraktion zu erhalten. Vielleicht wird unser Bischofstein noch einmal Endstation dieser Linie.

(Quelle: „Bischofsteiner Rundschreiben“, Weihnachten 1991, S. 15-16)