Das Silberflügelchen
Wieder einmal war das Christkind da gewesen, und es hatte tatsächlich dem kleinen Heinrich das lang ersehnte Schaukelpferd und dem Schwesterchen Anna den Puppenwagen gebracht!
Mit hellster Freude bestaunten die Kinder ihr Geschenk, wagten sich dann zaghaft heran und nahmen hernach mit einem lauten „Juchhe“ alles in Empfang, wenn da nicht noch etwas Geheimnisvolles gewesen wäre:
Ein großer, viereckiger Brief lag dabei! Darin war ein hellblauer Briefbogen mit ganz vielen kleinen Sternen, und auf dem stand in schillernder und glänzender Schrift geschrieben:
„Wenn Ihr aber nicht gehorcht und nicht lieb seid, dann kommt ‚Silberflügelchen’ – und holt alles wieder ab."
Wer kann einem schon das Kind zeigen, welches bereit wäre, die Sachen vom Christkind wieder zurückzugeben? Nein, das Kind gibt es nicht! Und schon gar nicht, wenn das Christkind die sehnsüchtigsten Wünsche erfüllt hat!
Demzufolge gab es nur eines, sich alle Mühe zu geben und zu gehorchen, wenn Vater und Mutter etwas sagten! Heinrich hörte immer schlecht, und nun konnte er seit letzten Weihnachten bedeutend besser hören, und abends, wenn er sich auszog und zu Bett gehen wollte, dann legte er sogar seine Kleidungsstücke ganz ordentlich über den Stuhl.
Anna weinte leicht. Nun passierte es nicht mehr so häufig. Vergaß sie sich und war sie eben im Begriff, mit ihrem kläglichen „Hu, hu, hu ...“ loslegen zu wollen, dann vernahm sie alsbald Heinrichs warnende Stimme: „Anna, höre sofort auf, sonst kommt das Silberflügelchen und holt den Puppenwagen wieder ab!“
Anna schüttelte dann heftig mit dem blonden Lockenkopf – und schon kehrte Ruhe ein.
Früher hatte sie immer heftig protestiert, wenn es Spinat zu essen gab. Komischerweise aß sie nun auch Spinat, geduldig öffnete sie ihr Mäulchen und schob Löffelchen für Löffelchen hinein.
Schweigend sahen sich Vater und Mutter an und lächelten still. So verging die Zeit, das Frühjahr, der Sommer und der Herbst, und die Adventszeit der neuen Weihnacht rückte näher heran.
Eines Abends fanden die Kinder unten auf der letzten Treppenstufe ein buntes Stück Papier. Darin waren zwei Zuckerkringel eingewickelt und daneben stand:
„Einen Gruß vom Silberflügelchen für die braven Kinder.“ Heinrich und Anna strahlten über das ganze Gesicht und waren nun noch um einiges artiger. An fast allen Tagen im Advent fanden sie etwas auf der untersten Treppenstufe. Nur mit dem Schreiben, da hatte es das Silberflügelchen nun nicht mehr. Es kam still und lautlos und tat irgendetwas, ein klitzekleines Geschenk, auf oder in ein kleines Papierstück. Sie träumten sogar von ihm, wie es mit seinen silbernen Flügelchen durch die Lüfte flatterte und sich vor ihrem Haus sachte niederließ, die Tür leise öffnete und lautlos bis zur Treppe schlich ... Ach, wie war das schön!
Die Eltern beglückte die Freude der Kinder, und sie begrüßten deren Entwicklung, die ohne viele Worte kleine Untaten ablegten und sich sogar weniger davon zulegten. Und es tat allen Leid, als die Adventszeit vorüber und von einem lieb gewordenen Freund, wie dem Silberflügelchen, Abschied genommen werden musste. In stiller Erwartung erhofften und ersehnten sie sein Wiederkommen. Und pünktlich zum ersten Advent war es wieder da, das Silberflügelchen!
Die Kinder konnten es zwar nicht sehen, aber es existierte in ihrer Vorstellung als geheimnisvolles, zur Weihnachtszeit gehörendes Wesen, und das spürten sie.
Als Heinrich und Anna erwachsen waren und ihre eigenen Familien gegründet hatten, siehe da, da fand das getreue Silberflügelchen auch den Weg zu ihren Kindern. Sogar Nachbars Kindern stattete es einen kurzen Besuch ab und bescherte ihnen auch dort irgendetwas.
Bei wem es nun noch nie gewesen und wer diese Zeilen gelesen und die stille Botschaft empfangen, der kann und darf in Zukunft auch mit dem lieben Besuch des Silberflügelchens rechnen. Bedingung ist allerdings, den Eltern zu gehorchen und ganz artig zu sein! Liebe Kinder tun das doch! Und die Weihnachtsgeschenke, die will doch normalerweise auch kein Kind wieder herausrücken! Oder?
Anneliese Blacha