Das Jahr 1848 auf dem Südeichsfelde

In dem Jahre 1848 ging durch ganz Deutschland eine Bewegung, die sehr verhängnisvoll zu werden drohte. Wie auf einen Ruf stand überall die Bevölkerung auf, um von der Regierung die Gewährung ihrer Forderungen zu erzwingen. Das Volk verlangte Mitregentschaft, Preßfreiheit, Volksbewaffnung und dergl.

Die Bewegung ging von Baden aus und pflanzte sich über Hessen-Darmstadt und Württemberg nach dem Norden und dem Osten fort. In kurzer Zeit flammte der Aufruhr in allen deutschen Gauen.

Nur in den abgelegenen Gebieten, so auch auf dem Eichsfelde, blieb es noch ruhig, weil der Aufruhr seine trüben Wellen noch nicht hierher geschlagen hatte. Der zündende Funke mußte entweder hineingetragen oder hereingeholt werden.

Pulver und Stroh hatte sich genug angehäuft. Unter den Bauern und dem ärmeren Volke gährte es schon lange. Man war aufgebracht gegen die weltliche und besonders gegen die geistliche Behörde. Wie gesagt, es fehlte nur an dem Funken.

Der Hanskasper von Struth fuhr auf seinem Wägelchen mit der Mähre nach Nordhausen, um dort Branntwein zu holen. Ganz vergnügt war er am Morgen von seinem Dorfe fortgefahren und gelangte gegen Mittag vor den Mauern der Stadt an.

Es war an einem Werktage. Aber wie erstaunte er, als er sah, daß niemand heute arbeite. „Na, was is denn hier los, wollt ihr denn heute nicht arbeiten?“, frug er einen Trupp junger Leute, die Arm in Arm daher schwankten.

„Du dummer Bauer, was verstehst du davon. Fahre nach Hause und füttre deine Kühe.“

Das war dem Hanskaspar doch zu viel. Er hatte schon die Peitsche fester gepackt und wollte sie dem kühnen Sprecher um die Ohren knallen. Doch besann er sich bald eines besseren, da er die drohenden Mienen der jungen Leute sah. Er schob sein kurzes Pfeifchen von dem linken Mundwinkel in den rechten und sagte ihnen, daß er grad so dumm doch nicht sei.

„Na, na, das will ich doch noch sehr bestreiten", hub ein anderer an, „sonst müßtest du doch wissen, daß sich ganz Deutschland erhebt. Oder hast du während der ganzen Zeit geschlafen?"

„Nee, das nicht, aber unser Dings das liegt ja so weit ab, da kriegt man ja nichts zu sehen und zu hören, außerdem, wenn man mal hinauskommt."

„Woher bist du?" schrieen alle.

„Vom Eichsfelde."

„Ihr dummen Eichfselder", lachten alle. „Komm nachher in den „Stern“, da wollen wir dich aufklären, wenn es dir auf einige Groschen nicht an-kommt." Und damit trabten sie weiter.

Der Kasper war nachdenklich geworden. Er ahnte ja so etwas von dem, was vorging. Zu Hause war es ja ähnlich und was im Dorfe im kleinen war, das herrschte in der Stadt im großen. Er schlug auf seinen Klepper und fuhr weiter. Aber immer wieder dachte er an die jungen Leute, die ihm begegnet waren. Deshalb besorgte er seine Geschäfte so schnell wie möglich, um in das bezeichnete Gasthaus zu kommen.

Heute schien alles zu ruhen, niemand verspürte Lust zur Arbeit. Der „Stern" war mit Leuten dicht angefüllt. Als der Hanskasper in die Stube trat, schrieen ihm vier Kehlen ein „Willkommen" zu und luden ihn zu einem Sitze in ihrer Mitte ein. Wäre es in seinem Dörfchen gewesen, nimmermehr hätte er sich unter solche Kumpane gesetzt. Aber hier war er ja fremd und konnte sich deshalb schon etwas erlauben. Zudem war er Gastwirt. Wenn er nach Hause kam, dann wußte er seinen Gästen etwas neues zu erzählen und bei dem Erzählen tranken sie gern. Außerdem blieben sie länger sitzen und besprachen das Gehörte. So hatte der Wirt sein Profitchen. Er sah sich jetzt noch einmal um und ließ sich nieder.

Nun gaben sich die Vier die größte Mühe, dem Bauern begreiflich zu machen, wie es nötig sei, daß sich das Volk erhebe. Was die Regierung nicht freiwillig gäbe, müsse man sich ertrotzen. Zudem hätten die Fürsten dem Volke viel versprochen, bis jetzt aber noch nichts gehalten. In Baden, Württemberg, Hessen, ja selbst im fernen Ostpreußen habe sich alles erhoben und von den Fürsten bereits alles erlangt, was es verlangt hätte. Das wäre schon ein Fortschritt und es käme noch weiter.

Der Bauer saß ganz steif da, stierte in sein Glas mit einem Gesichte, als solle er zum Könige ausgerufen werden und nickte zuweilen gewichtig mit dem Kopfe, als wolle er sagen: „Stimmt alles auffallend.“ Als er von den Plänen hörte, antwortete er: „Ja, so habe ich mir das auch gedacht, und wenn ich nach Hause komme, will ich den Übrigen alles erzählen, was ich hier gehört habe. Dann soll es aber den Förstern und Pfaffen nicht gnädig ergehen." Wie das steife Blut des Bauern nur so in Wallung geraten konnte. Wenn ihn seine Frau so gesehen hätte, dann wäre sie aus Angst vor ihm fortgelaufen. Über die gewöhnliche Zeit blieb er sitzen und als er sich erhob, merkte er, daß es in seinem Hinterstübchen nicht mehr ganz richtig war. Er verabschiedete sich von den sauberen Kumpanen, hatte die Ehre, die Zeche zu bezahlen, drückte allen noch einmal die Hand und ging.

Hinter sich hörte er lautes Lachen, doch dachte er nicht im entferntesten daran, daß es ihm gälte.

Er spannte an und sagte zu seinem Klepper: „Nun aber mal ein bißchen los", und fort gings im Galopp, daß der Mähre die Knochen klapperten. Spät in der Dämmerung kam er zu Hause an. Aus der Wirtsstube drang Helles Licht auf die Straße, weil sich die Gäste noch alle bei ihm befanden. Sie wollten hören, ob der Wirt nichts neues mitbringe. Doch der Kasper war in seiner Artfein schlauer Kunde. Ganz langsam brächte er sein Pferd in den Stall und trat dann mit gewichtigen Schritten und ernstem Gesichte in die Gaststube.

„Du kommst ja heute spät."

„Ja, habe mich etwas verspätet."

„Bringst du was neues mit."

„Au, sehr viel. Könnte euch davon erzählen bis Morgen früh und wäre doch nicht fertig. Hab's euch schon oft gesagt, andere sind nicht so dumm wie wir."

„Erzähle, erzähle", schallte es aus allen Kehlen.

Der Wirt wischte sich die Stirne ab. „Kinder, ich bin für heute kaput. Kommt morgen wieder. Dann will ich euch erzählen, wie ganz Deutschland sich erhebt gegen die Pfaffen und die Regierung. Wir sind Dämel gegen die." Die Struther zogen komische Gesichter. So was. Einige Schwarzseher wollten es schon lange vorausgesehen haben, daß es so kommen würde.

Am folgenden Abend, als kaum die Dämmerung hereinbrach, war das Gasthaus bis zum Ersticken angefüllt von jung und alt. Alles wollte die Neuigkeiten aus der Stadt hören.

Hanskasper lachte; denn er machte dabei ja sein Geschäftchen. Er und seine bessere Hälfte hatten den ganzen Abend die Hände voll Arbeit, um die durstigen Gäste zu befriedigen. Zwischendurch hielt er seine „Volksreden", natürlich kam es ihm auf einen Mund voll nicht an, sodaß die Zuhörer sich wunverten, wie es komme, daß sie noch auf der Erde seien. In den Pausen, die Kasper machte, sprachen sie sich nach ihrer Ansicht aus, ballten die Fäuste und nahmen sich vor, so bald wie möglich sich auch zu erheben. Was die andern konnten, das konnten und wollten auch sie.

Der Bauer ist eine absonderliche Natur. Willenlos läßt er sich lange Zeit knechten, tut Frondienste und zahlt Abgaben. Dabei ist es ihm noch ganz wohl, er wünscht sich nicht einmal ein besseres Leben- ' Beginnt es aber irgendwo zu spuken, gleich ist er dabei. Das Joch, das er lange Zeit freiwillig getragen hat, wirft er mit Gewalt ab, frei will der Mann sein. Hat doch der liebe Gott den Bach, die Wiesen und die Wälder für alle geschaffen. Hat er doch nie gesagt: „Den Wald will ich dem Adel geben, ebenfalls die Jagd und Fischerei; das schönste Gelände bekommt der reiche Gutsbesitzer. Was dann noch übrig bleibt, das sollen die armen Leute haben, da das Schlechteste für sie noch viel zu gut ist."

So ähnlich mochte das Volk in Struth und in den andern Ortschaften des Südeichsfeldes denken, als es sich gegen die Obrigkeit erhob. Was es ja eigentlich wollte, das wußte es selber nicht. Es wollte eben ein bischen Krakehl machen und den „Pfaffen“ und den andern Leutchen zeigen, was es könne. Ein kleines Nebenflüßchen der Werra ist die Frieda oder Friede. Ihren Namen trägt sie nicht mit Unrecht, da sie durch ein schönes, friedliches Tal dahinwallt. Jedoch das lauschigste Fleckchen Erde liegt da, wo sie in einem starken Strahle aus dem Gestein tritt. Wer einmal zur schönen Frühlingszeit von Struth nach Lengenfeld hin gewandert ist, der wird nach ungefähr zwanzig Minuten in den Wald eingetreten sein. Eine steile Schlucht hinab wird ihn der Weg geführt haben.

Das wollte dem Volke nicht behagen, es bäumte sich auf. Trotz des Verbotes ging es in den Wald und – wurde bestraft. Lange Zeit trug es die Fesseln, die es sich selber angelegt hatte, bis ihm endlich die Stunde der Erlösung ge­kommen schien im Jahre 1848.

Von Struth aus war die Stimme des Aufruhrs auch in die andern Dörfer des Südeichsfeldes ge­drungen und hatte in allen Herzen ein Echo gefunden.

Am folgenden Tage sollte ein Umzug in Struth sein und ein jeder, der nicht mit in den heiligen Kampf wollte, sollte geprügelt werden. Darauf sollte sich ein jeder bewaffnen und dann wolle man zhm Kloster Zella ziehen, um sich dort Respekt zu verschaffen.

Ein großer Volkshaufen bewegte sich noch am selbigen Tage nach dem Kloster hin. Von allen Seiten her kamen Neugierige herzu, um zu sehen, wie die Sache verlaufen würde.

Auch in Effelder hatte sich ein Aufrührer ein Häuflein kräftiger Leute gesammelt und kam herbei, um an dem „guten Werke" zu helfen.

Der Gutsherr mochte bereits etwas gemerkt haben; denn er hatte mit seiner Familie das Weite gesucht. Die Dienstboten verriegelten in aller Eile die Tore, als sie die fanatischen Bauern heran­ziehen sahen. Der Förster aber, der nichts Gutes ahnte, suchte sein Heil auf dem Heuschober. Er versteckte sich in die unterste Schicht, damit er beim etwaigen Durchsuchen des Heues nicht etwa ange­stochen werde.

Derweil war der Volkshaufen vor das Tor ge­kommen und verlangte mit Ungestüm, der Herr möge sich zeigen. Aber niemand ließ sich blicken. Das Volk wartete noch ein Weilchen und schritt dann dazu, das Tor einzuschlagen. Nach einiger Mühe war es ihm gelungen und nun gings hinein in den Hof, vom Hofe zunächst in die Ställe und von hier in die Wohnräume.

Aus den Ställen wurde das Vieh entlassen. So ist ja mancher Mensch — am liebsten rächt er sich an unvernünftigen oder leblosen Wesen. Um das Kloster herum standen sie und ermunterten diejenigen, die im Kloster waren, durch ihr Geschrei. Laut hoben sie es hervor, daß sie jeden, der aus den Mauern fliehen würde, mit dem Dreschflegel totschlagen wollten. Immer mehr Volk drängte sich auf den Hof und suchte zu zertrümmern, was ihm eben in den Weg kam. So sehr war es in den Taumel geraten, daß es nicht einmal merkte, daß sich die Knechte und Mägde ebenfalls unter ihm befand. Das arme Vieh, das auf dem Hofe stand und nicht wußte wo ein und aus, bekam Schläge und sprang zwischen die Menschen. Diese erhoben ihre Waffen und scheuchten das Vieh wieder nach der andern Seite des Hofes. So ging es hin und her. Daß es dabei nicht so ganz leise abging, kann man sich denken. Welche Angst wird Wohl der arme Förster ausgestanden haben? Einige waren sogar über ihn hinweggelaufen. Er be­fürchtete nicht, daß man ihn finde, wohl aber, daß man das Gebäude in Brand stecke. Allmählich ent­fernte sich der Lärm aus seiner Nähe und zog sich nach der Südseite, nach den Wohnungen und Vorratsräumen hin. Es wurde den Aufrührern leicht, die Türen zu öffnen und so in alle Räume einzudringen. Was sie fanden, das wurde zer­trümmert. Die Würste und Speckseiten aber wurden buchstäblich „zum Fenster hinausgeworfen." Die Untenstehenden fingen die Sachen auf und — warfen sich mit Bratwürsten.

Den meisten Prosit aus dem Aufruhre hatten die Faulunger. Von Alters her kennt man sie auf dem Eichsfelde als die Einfältigen. Damals aber bewiesen sie, daß sie nicht so dumm waren, wie man bisher gemeint hatte. Sie sammelten, soviel sie konnten, die herausgeworfenen Würste und Speck­seiten und schleppten sie nach Hause. Es sollen so viele Würste gewesen sein, daß sie sechs Wochen davon zu leben hatten.

Die herausgeworfenen Mustöpfe (soweit sie ganz blieben) wurden von den Effeldern nach Hause getragen. Sie interessierten die Faulunger nicht so sehr, weil sie von der Sorte zu Hause genug hatten. Was die Lengenfelder nach Hause getrieben haben, weiß man nicht. Wahrscheinlich haben sie es nicht in alle Welt hinausposaunt.

Als alles im schönsten Trubel drin war, erscholl plötzlich der Ruf: „Die blauen Jungens kommen.“ Ein treuer Bürger von Struth war im Auftrage des Ortsvorstehers nach Langensalza geritten und hatte Hilfe erbeten.

Kaum hatten sich die Soldaten sehen lassen, als auch schon der Haufen auseinanderstieb. Aber keiner hatte es eiliger als die Anführer der Rotten. Der Struther wurde durch Verrat gefangen ge­nommen. Der aber von Effelder entkam und hielt sich drei Wochen im „Walperbühl“ (einem Walde) auf und bekam täglich von seiner Schwester Speise gebracht. Doch bald fühlte er sich nicht mehr sicher. Man war ihm auf die Spur gekommen; deshalb soll er sich nach Amerika aufgemacht haben.

Als ein Glück können wir es bezeichnen, daß das Militär einschritt. Sonst wäre das schöne Gut eingeäschert worden. Wie mag sich wohl der Jägersmann gefreut haben, als er sich endlich wieder aus seinem Verstecke hervorwagen konnte. Nach jenem Vorfalle soll er sich auf und davon gemacht haben. Ganz sicher wird es ihm nicht wieder in den Sinn gekommen sein, nach dem Eichsfelde Ver­langen zu tragen.

Nicht nur beim Kloster Zella ging es toll her, sondern auch in den umliegenden Ortschaften. So sollen sich die Bewohner von Lengenfeld bewaffnet haben, um dem Bäcker die Tür einzuschlagen. Dann sollen sie vor die Pfarrei gerückt sein. Der Geistliche aber soll schon vorher das Dorf verlassen haben. —

Was in diesen Zeilen geschrieben steht, haben wir noch aus dem Munde derer erfahren, die den Skandal miterlebt haben. Es sei hier ausgezeichnet, damit es nicht verloren gehe.

Paul Steinach
(Quelle: „Aus der Heimath“ – Halbmonatsschrift zur Heiligenstädter Zeitung (Kreis-Anzeiger). Ausgaben vom 15.04. und 01.05.1904)