Das Gnadenbild im Klüschen Hagis
Eines schönen Frühsommertags zog ein Schäfer mit seiner Herde das Tal unterhalb der Burg Gleichenstein hinauf. Es war nicht die beste Weide, auf die er seine Tiere führte, aber immerhin wurden sie satt. Wasser gab es auch ein wenig, weit entfernen konnten sich die Schafe nicht und so führte er sie gerne an diesen Ort. Am Ende der Wiesen, dort, wo der Wald das Tal abschloss, wo der steile Anstieg auf die Höhe begann, machte er Halt.
Er stand oben unter dem Waldrand und schaute, wie die Herde sich zerstreute. Die Hunde würden schon aufpassen, dass keines der Tiere sich entfernte. Er kannte seine treuen Helfer. Langsam kam er von der Höhe herunter und setzte sich auf seinen Lieblingsplatz. An der westlichen Talseite, an halber Höhe des Hanges, gab es ein kleines Plateau, auf dem verstreut etliche Sandsteinquader lagen. Einen dieser Steine hatte er sich als Sitzplatz auserwählt.
Von dort aus konnte er die Wiesen überblicken, hatte die Herde unter Kontrolle und konnte den Hunden seine Befehle zurufen. Als Alteingesessener kannte er die Vergangenheit der Ländereien, auf die er seine Herde führte, kannte die Menschen, die in der Gegend wohnten und wusste um ihre Sorgen. Er war einer von ihnen und litt wie sie unter Blitz und Hagelschlag, unter Sturm und Unwetter und freute sich mit ihnen, wenn es mit dem Wetter wunschgemäß ging und die steinigen Äcker die Erwartungen auf die Ernte nicht enttäuschten.
Er wusste auch, dass an der Stelle, an der er sich befand, einmal ein kleines Dorf gestanden hatte. Neuenhagen sollte sein Name gewesen sein. Die Bewohner hatten sich wohl ihren Lebensunterhalt als Angestellte, Dienstboten und Landarbeiter auf der Burg Gleichenstein verdient. Später, als die Burg Gleichenstein ihre Bedeutung als Festung verlor, waren die Leute in die umliegenden Dörfer gezogen und die kleine Siedlung verfiel. Diese Stelle, die er sich als Sitzplatz erwählt hatte, trug einmal die kleine Kirche der vergangenen Siedlung und die herumliegenden Steine waren sicher noch die letzten Zeugen dieser Zeit.
Von Zeit zu Zeit unterbrach er den Fluss seiner Gedanken, erhob sich und überblickte die Herde. Soeben hatte er festgestellt, dass mit den Tieren alles in Ordnung war. Er setze sich nicht sofort nieder, sondern schaute zu den Bergen hinauf. Ein prächtiger Tag war heute. Klarblau spannte sich der Himmel über das Tal, die Strahlen der Sonne fielen herein und ließen das junge Grün der Buchen hell aufleuchten. Zufrieden nickte er vor sich hin und wandte sich dem Tale zu.
Eine Lichtfülle war das heute, wie man sie selten in diesem Waldtale hat! Plötzlich stutze er. Was war das? Ein Bündel Sonnenstrahlen hatte einen Weg durch die Baumkronen gefunden und ließ irgendetwas Glänzendes aufblitzen, das ein Stück von ihm entfernt im Grase lag. Neugierig ging er darauf zu und blieb erstaunt stehen: Dort lag ein Bild, ein geschnitztes Bild, wie es auf den Altären in den Kirchen steht. Herrlich war es angemalt, golden und blau und rot leuchteten die Farben.
Er hob das Bildnis auf, trug es zu seinem Platz und stellte es auf einen der herumliegenden Steine. Das Bild der schmerzhaften Mutter Gottes stand da vor ihm. Sitzend war die dargestellt. Auf ihren Knien lag ihr toter Sohn, das Liebste, was sie hatte, steif, Arme und Beine hingen herab, als gehörten sie nicht zu ihm. Der Kopf der Mutter war leicht nach vorn geneigt, voller Schmerz schienen die Augen ins Leere zu starren. Ihre linke Hand umschloss eine Hand ihres Sohnes, als könnte sie noch nicht begreifen, was da geschehen war. Von ihrem Kopf aber gingen goldene Strahlenbündel aus, die dieser schmerzerfüllten Gestalt doch etwas Hoheitsvolles gaben. Auf diesen goldenen Strahlenkranz waren vorhin die Strahlen der Sonne gefallen und hatten so die Aufmerksamkeit des Mannes geweckt.
Der hatte das Bild nun eingehend betrachtet, kannte aber nicht. Es stammte aus keiner der Kirchen in der Umgegend. Die Figuren, die dort standen, waren einfach, meist von den Bauern selbst geschnitzt und vor allem nicht so prächtig angemalt. Erst jetzt überlegte er, wie das Bild hierher gekommen sein könnte: Er fand keine Erklärung. Am späten Nachmittag, als er die Herde heimwärts trieb, nahm er das Bildnis mit und brachte es zum Pfarrer, der es in der Pfarrkirche auf einen Altar stellte. Das seltsame Geschehnis sprach sich schnell herum und die Leute kamen und wollten die Mutter Gottes sehen.
Am nächsten Morgen, der Schäfer wollte zu seiner Herde, war große Aufregung im Dorf: Das Bildnis war aus der Kirche verschwunden. Zwar stutzte der Finder, aber es blieb ihm keine Zeit für lange Gespräche, denn seine Tiere warteten. Die Herde weidete weiterhin im Tal wie am Tag zuvor. Er versorgte seine Schafe und wollte zu seinem angestammten Platz zurückgehen. Wie alle anderen Anwohner des Dorfes Wachstedt hatte auch er sich seine Gedanken über das Verschwinden des Bildes gemacht. „Aber was soll’s“, sagte er sich, „wie gewonnen, so zerronnen!“ Im Hinaufgehen warf er noch einen Blick auf die Stelle, an der er das Bildnis gefunden hatte und dann sollte die Sache für ihn erledigt sein.
Doch glaubte er seinen Augen nicht zu trauen: Dort lag wieder etwas im Grase. Schnell ging er hinüber und wusste nicht, was er sagen sollte. An der gleichen Stelle wie gestern lag die Pietà. Wieder nahm er das Bild auf und stellte es auf den gleichen Stein wie am Tag zuvor. Abends nahm er es wieder mit heim und brachte es dem Pfarrer. Der war äußerst erstaunt. Er nahm den Schäfer mit sich und berichtete, dass er im Laufe des Tages gehört habe, in Mühlhausen, in der Obermarktkirche, sei ein Bild der schmerzhaften Mutter gestohlen worden und der Beschreibung nach könnte es nur das gefundene sein.
Wieder wurde das Bild in der Kirche aufgestellt, um es später der Obermarktkirche zurückzugeben. Am dritten Morgen ging der Schäfer früh zur Herde. Der Himmel hatte sich bezogen und es sah nach schlechtem Wetter aus, er wollte daher den Weideplatz wechseln. Wie erstaunt war er jedoch, als er auch an diesem Morgen das Bildnis am gleichen Platz fand wie an den Tagen zuvor. Eilig trieb er die Herde an einen sicheren Ort, nahm das Bildnis und brachte es in die Kirche.
Dort hatte man das Fehlen schon bemerkt. Verständlicherweise war die Erregung der Bewohner groß. Jeder stimmte der Meinung des Pfarrers zu: Auf natürliche Weise konnte das Bild nicht in das Tal unterhalb des Gleichensteins gekommen sein, hier war ein Zeichen, das Bildnis sollte hier, wo es wiederholt gefunden wurde, bleiben. Nun gab es kein langes Überlegen! So schnell, wie es ihnen möglich war, errichteten die Wachstedter an dem Ort, an dem vor vielen Jahren einmal die Kirche des kleines Ortes Neuenhagen gestanden hatte, eine Kapelle und stellten das Bildnis der Schmerzensmutter darin auf.
An der Stelle aber, an der das Bild dreimal gefunden wurde, brach eine Quelle hervor, die man den Klüschenborn nannte. Noch bis in unsere Tage hinein galt dieser Born als Heilquelle und noch heute trinkt jeder Wallfahrer, der das kleine Heiligtum in dem stillen Tal besucht, gern von dieser reinen, klaren Quelle.