Das Glöckchen im Walperbühl
Mein Großvater väterlicherseits hatte einen jüngeren Bruder, der Kaufmann war und in seinem Haus einen kleinen Lebensmittelladen unter dem Namen „Kaiser-Kaffee-Geschäft" betrieb.
An seine Frau, Tante Dortchen, erinnere ich mich auch noch, besonders aber an ihn, den „Onkel Wilhelm". Nun muss ich dazu sagen, der Großonkel verkörperte das Bild einer romantischen, nicht ganz üblichen, jedoch sehr sympathischen und angenehmen Person. Er besaß eine stattliche weiße Haarpracht, einen langen weißen Bart und einen weißen Oberlippenbart. Durch seine runden Brillengläser erblickte man ein paar gutmütige, strahlendblaue Augen, und er verstand sich auf ein gutes Erzählertalent. Eines Tages fragte ich ihn, ob er mir denn nicht einmal so eine richtige schöne Spukgeschichte von früher erzählen könne.
Einen Moment überlegte er, und dann sagte er zu mir: „Ja Maichen, se änne richtige Spukgeschichte, de fällt mich im Moment nitt in, abber ich erzähle dich se änne ahnliche, unn se aß jo an richtig passiert. Do pass mol uff ..."
Nun wies er mir einen Platz zum Sitzen an, setzte sich in seinen Lehnstuhl mir gegenüber und sah mich mit seinen blauen Augen groß und ernst an und strich wohlwollend mit der Hand über seinen weißen Bart. „Abber, dos erzähle ich dich jetzt nitt uff platt, sondern uff höchditsch:
Da waren einmal drei Holzhauer gewesen, die nun schon ein Weilchen zusammen in den Wald zogen, um Bäume zu fällen. Mit dieser Arbeit verdienten sie ihr Brot, ihren Lebensunterhalt. Und einer unter ihnen erzählte immer den anderen, was er auf seiner früheren Wanderschaft in der Fremde alles erlebt hatte. Seine Heldentaten nahmen kein Ende, vergrößerten sich im Zuhören und wuchsen wie eine Pyramide in die Höhe ..." Langsam hob er beide Hände und zeigte nach oben. Meine Augen folgten ihnen.
Nun senkte er sie wieder und fuhr fort mit dem Erzählen, während ich nicht wagte, mich zu rühren, und meine Blicke lagen auf seinem weiß umrahmten Mund: „Und die anderen beiden Holzhauer waren zuerst richtig froh und glücklich, solch einen starken und furchtlosen Gesellen tagsüber in ihrer Nähe zu wissen, und sie lauschten, während sie ihr bescheidenes Frühstück und Mittagbrot aßen und das Rauschen der Wipfel der Bäume über sich vernahmen, immer seinen ungewöhnlichen Berichten. Er schilderte, wie er einst einen wilden Eber, der in eine Falle geraten war und ein Bein verloren hatte, mit dem Taschenmesser abstach; oder wie er es in einer Herberge mit einem ganzen Dutzend Rüpel aufgenommen und sie alle in Schutt und Asche schlug und hernach als stolzer Sieger auf das Podest gekommen und vom Wirt ein ganzes Fass Bier kassierte!
Und wie er einstens sechs Einbrecher auf einmal in die Flucht geschlagen hat! Dann war da noch ein berüchtigter Räuber, der sogar Lösegeld bot, wenn er ihm die Freiheit schenke. Aber die allerschwerste Herausforderung seines Lebens sei die Begegnung mit dem schaurigen Waldgeist gewesen, welcher gleichzeitig nach allen Seiten zu schauen vermochte, und welcher so groß war wie der höchste Baum hier im Walde. Dieser sei im Verhandeln mit ihm so klein wie ein Zwerg geworden und glatt ins nächste Mäuseloch gekrochen! Hui, da fegte der Wind über den Wald, rüttelte und schüttelte an den Bäumen, dass sich ihre Kronen bogen und die Blätter herniederfielen! Den beiden Anderen wurden seine Erzählungen ein bisschen zuviel, und sie sagten bei sich, ein Mann von solchem Ausmaß und solcher Beschaffenheit, der hätte es doch gar nicht nötig, mit ihnen tagaus, tagein die schwere Arbeit zu verrichten und Holz zu schlagen. Und sie beschlossen ganz einfach, ihn einmal auf die Probe zu stellen. Am anderen Morgen trafen sie sich wie immer in aller Herrgottsfrühe an der Weggabelung, die Axt auf dem Rücken, das Vesperbrot in der Tasche und in der anderen einen kleinen Flachmann. Strammen Schrittes marschierten sie vorbei an Häusern und Feldern, hinein in den Wald, und ein jeder ging an sein Tagwerk. "Nach Luft ringend, stand auf einmal der große Held und Sieger vor ihnen und fragte mit leiser und bebender Stimme:
„Hört ihr denn auch das Glöckchen im Walperbühl?" „Nein", sagten die beiden und schüttelten mit ihren Köpfen. „Wer weiß, was du da hörst ...!" „Bestimmt, bestimmt", beteuerte dieser. Wie eine Glocke hier ins Walperbühl zu kommen vermöge, fragten die anderen und arbeiteten dessen unbeirrt weiter. Es sei ja auch nur ein leises Klingen, aber es wäre nicht ganz geheuer, meinte jener.
„Ja, ja", stimmten nun die Kumpel bei, dasselbe würden sie auch vermuten, wenn sie so etwas hören würden. Aber da er nur ganz allein des Glöckchens Klang vernehme, wäre es wahrscheinlich nur etwas, was ihn betreffe. Er solle nur wieder zurück auf seinen Platz gehen, die Axt tüchtig schwingen und Holz schlagen.
Vielleicht mache sich nur ein unsichtbarer Geist damit bemerkbar, und mit dem würde doch ein Kerl wie er allemal fertig. Möglicherweise würden sich hier im Laufe des Tages noch mehr mysteriöse, geheimnisvolle Dinge abspielen. Und was sie beträfe, sie brauchten sich überhaupt keine Sorgen und Gedanken zu machen! Sie besäßen weder Augen, um Außergewöhnliches zu sehen, noch Ohren, um Unfassbares wahrzunehmen, und in ihrem Inneren hätten sie auch noch nie Rätselhaftes verspürt!
Man könne schon von Glück sprechen, dass solch ein beherzter Bursche wie er in ihrer Mitte weile, denn er verstände es ja, alle ungewöhnlichen Mächte mit Bravour zu besiegen.
Dem Mutprotz begannen seine Beine zu schlottern, und die Arme zitterten und hingen schlaff an seinem Körper herunter.
„Ach was", sagten die anderen, so einem wie ihm könne doch überhaupt nichts passieren, der würde schon allen zeigen, wo es langgeht! Am Nachmittag setzte starker Wind ein, und des Glöckchens Klang ward schriller und lauter, sodass es durch das ganze Walperbühl hallte und schallte, und tausendfach tönte das Echo zurück. Das Läuten nahm nun überhaupt kein Ende mehr! Und der Mann von starkem Wuchs, breiter Figur und losem Mund wurde klein und kleiner mitsamt Stock, Axt und Hut! Er kroch in sich zusammen wie ein Häufchen Elend und traute sich nicht, nach rechts oder nach links zu schauen. Nun sagten ihm die anderen gar, vielleicht könne es auch eine arme Seele sein, denn wer weiß, was hier einst geschehen, und da er die Gabe des Hörens, des Sehens, Riechens und Fühlens besäße, würde sie sich sicherlich bei ihm bemerkbar machen und an ihn herantreten, um ihre Wünsche zu äußern. Oder wäre es am Ende ganz und gar der schaurige Waldgeist, welcher im Gefolge mit den anderen Geistern Rache zu üben gedenke? Ja, da fiele ihm ein, er habe vor langer, langer Zeit von einem alten Mann vernommen, welcher die Geister im Unterholz gesehen. Jene, die da kommen und die Leute in die Beine zwicken und sich an ihnen festklammern. Mit denen habe man ja seine liebe Last, um sie überhaupt wieder loszuwerden! Dann gäbe es auch noch diejenigen, die eine gar spitze Nase besäßen und damit wie verrückt zu stechen vermögen, und die in Sekundenschnelle Menschen und Tiere wie ein Sieb durchlöchern! Dann sei da noch die eiskalte Frau Lichte mit dem schneeweißen und blassen Gesichte!
Und sie beteuerten ein über das andere Mal, wie gut es doch sei, dass sie noch niemals mit diesen Geistern Bekanntschaft gemacht hatten! Deshalb müsse man unbedingt verhindern, dass sie sich hier im Walperbühl niederließen und eventuell sesshaft würden, denn dann wären sie beide brotlos! Er jedoch verstände es, mit ihnen Kompromisse zu schließen, und am Ende könnte er sie alle besiegen!
Und nun traten sie näher zu ihm heran und unterbreiteten ihm den nun folgenden Vorschlag:
Sie gingen heute Abend nach Hause, er jedoch möge sich hier im Walperbühl ein Nachtlager herrichten und als Beherrscher aller Geister, Räuber und Dämonen Ordnung und Ruhe schaffen!
Morgen früh würden sie ihn als erste beglückwünschen, so, wie es sich für gute Freunde gehöre. Und von seinem Mut und Kampfgeist, das versprächen sie ihm jetzt hoch und feierlich mit Handschlag, würden sie aller Welt künden! Daraufhin begann der Held zu zittern und zu beben, und unter Tränen gab er zu, alles erfunden und erlogen zu haben. Mit erhobenen Händen flehte er sie an, ihn nicht allein zu lassen. Kleinlaut verkündete er ihnen, es sei immer sein Wunsch gewesen, ein großer, starker und ungewöhnlicher Mann zu sein! Und es bedrücke ihn sehr, dass er all dieses nicht sei.
Er merkte es nicht einmal, als einer seiner Kumpel hinter dem Holzstoß ein Glöckchen losband, jenes Glöckchen, was zu Weihnachten regen Zuspruch findet.
Aber ab dieser Zeit war aus dem Prahlhans ein vernünftiger, normaler und brauchbarer Mensch geworden."
Nach dem Erzählen lehnte sich Onkel Wilhelm zurück, und ein klein wenig schmunzelte er auch dabei. Danach steckte er sich seine Pfeife an und blies einen blauen Rauchkringel nach dem anderen in die Luft. Mir tat es etwas Leid, dass nun die Geschichte schon zu Ende war und ich nach Hause musste. O, wie gern wäre ich da sitzen geblieben und hätte mir noch einiges mehr erzählen lassen. Wer es gewesen und wie er geheißen, das habe ich damals nicht erfragt, und darum kann mich auch keiner danach fragen! Aber vielleicht wissen das die anderen!
Und wo ist jetzt unsere Klingel? Verflixt, die hat der Wringel!
Und möchtest du die Geister im Walperbühl bezwingen, musst du zehn mit Namen zusammenbringen.
Anneliese Blacha
Quelle: Eichsfelder Spinnstubengeschichten, Duderstadt: Mecke, 2005.