Das Fräuwechen von England
Fährt man auf der Nebenstrecke der Deutschen Reichsbahn von Leinefelde nach Geismar, so kommt man kurz vor der Endstation auf einer 45 Meter hohen Brücke über das Dorf Lengenfeld unterm Stein. Schon von weitem sieht man das Gebäude des "Schlosses", das heute als Urlauberheim dient. Gleich hinter dem Schloss erhebt sich ein steil ansteigender, bewaldeter Bergzug, von dessen vorspringender, kahler Kuppe sich eine herrliche Aussicht auf die abwechslungsreiche Landschaft bietet. Besonders zieht der Hülfensberg mit seiner Wallfahrtskirche den Blick des Betrachters immer wieder auf sich. Auf der Höhe des Bergzuges steht eine Linde von beachtlichem Ausmaß. Sie bezeichnet die Stelle, wo in alter Zeit die Burg Stein oder Bischofstein gestanden hat. Überreste sind nicht mehr vorhanden. Nur einige Wälle und Gräben erinnern noch immer daran, dass einmal ein Bauwerk hier gestanden hat. Ursprünglich führte die Burg den Namen Stein. Sie war schon frühzeitig im Besitze der Landgrafen von Thüringen und kam zu Anfang des 14. Jahrhunderts durch Kauf an den Erzbischof von Mainz. Nach und nach trat dann an die Stelle des Namens Stein die Bezeichnung "Bischofstein". Auf dem Schlosse hatten Burgmänner (Vögte) ihren Sitz, denen die Verwaltung des Amtes Stein oblag, zu dem 15 Dörfer gehörten. Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges hatte die Burg stark zu leiden. Nach dessen Beendigung zerfiel sie nach und nach. Zu Anfang des 18. Jahrhunderts wurden die Mauerüberreste zum Aufbau des neuen Amtshauses, des jetzigen "Schlosses Bischofstein", verwandt. Nach der Sage hängt die Zerstörung der Burg Bischofstein zusammen mit der auf dem Obereichsfeld allgemein bekannten Geschichte vom "Fräuwechen (Frauchen) von England", die so lautet:
Der König von England (oder nach anderen ein englischer Feldherr) kam, von einem einzigen Diener begleitet, auf das Eichsfeld. Von der Nacht überrascht, gelangte er in das Dorf Flinsberg und da es dort an einem Wirtshaus mangelte, kehrte er bei dem Küster ein, der gerade das Tauffest seines Kindes feierte und obwohl es schon spät war, noch mit mehreren seiner Gäste beim Becher saß. Der gastfreie Küster lud den König freundlich ein, sich an der Tafel niederzulassen und dieser ließ sich auch nicht lange bitten und fühlte sich in dem fröhlichen Kreise bald wohl. Unter den Gästen befand sich aber auch der Vogt vom Bischofstein, ein böser, geldgieriger Mann, der bald merkte, dass der Freund viel Gold und Edelsteine mit sich führte, wodurch seine Habsucht geweckt wurde. Er erkundete sich daher im Laufe des Gespräches nach der Zeit, zu welcher der König aufzubrechen und nach der Richtung, welche er einzuschlagen gedenke. Am anderen Tage legte er sich zur bezeichneten Stunde mit einigen seiner Leute bei Ascherode in einen Hinterhalt und stütze, als der Erwartete endlich herankam, aus seinem Versteck hervor und tötete ihn. Der Diener, welcher an der Seite seines Herrn sich tapfer gewehrt hatte, wandte, als er denselben stützen sah, eiligst sein Pferd und floh. Der Ritter und seine Knappen verfolgte den Flüchtling zwar noch eine Weile, ließen aber bald von ihm ab, da sie die erbeuteten Schätze näher betrachten wollten. Sie plünderten den Erschlagenen aus, warfen ihn in einen Brunnen und zogen jubelnd nach dem Bischofstein.
Als die Gattin des Ermordeten von dem Tod des geliebten Mannes erfuhr, weinte und klagte sie sehr, doch bald drängte der Gedanke, ihren Gatten zu rächen, alle anderen Gefühlte in den Hintergrund. Sie sammelte ihre Getreuen um sich, fuhr über das Meer und gelangte, von ihrem Diener geführt, endlich auf das Eichsfeld. Der Diener wusste ungefähr, aber nicht mehr ganz genau die Stelle zu finden, wo sein Herr ermordet worden war, ja, er konnte sich nicht einmal auf den Namen des Ortes besinnen, bei welchem die Untat geschehen war. Nur soviel war ihm noch erinnerlich, dass er auf "rode" geendet hatte. Auf diese Angabe hin zerstörte das "Fräuwechen von England" - so nennt man noch heute diese Rache übende Frau - alle Dörfer der Gegend, welche auf "rode" endete. Endlich erfuhr sie jedoch, wer der eigentliche Mörder gewesen sei und rückte vor die Burg Bischofstein. Der Bischofsteiner lachte aber nur über das Fräuwechen von England und alle seine Anstrengungen, die Burg zu erobern, wunderte sich aber doch über die Kühnheit der jungen Frau, die sich häufig bis dicht unter die Mauer des Schlosses wagte. Man hinterbrachte ihm jedoch, dass der silberne Schuppenpanzer, den die Heldin trage, gefeit sei. Und nun lud er eine ebenfalls gefeite Kugel, welche von Silber und nicht viel größer als eine Erbse war, in sein Geschoß, zielte dabei auf seine Gegnerin und durchbohrte ihr Herz durch, so das sie lautlos zu Boden viel. Da gab es unter ihren Dienern und Kriegern viel Jammern und Klagen. Sie sammelten sich um den Leichnam, bestatten ihn mit großen Ehren und setzten einen Denkstein auf die Gruft, der die "Frauenruh" genannt wurde. Dann aber stürmte sie in wilder Wut die schwindelnde Höhe zur Burg hinauf, eroberte diese, schlugen alles nieder, was sich widersetzte, und stürzten die Mauern ein.
Der genannte Denkstein hat um die Mitte des vorigen Jahrhunderts noch an seinem Platz gestanden. Der Eigentümer des Bodens ließ ihn wegnehmen. Der untere Teil ist heute noch eingemauert in dem Wohnhause der ehemaligen alten Schmiede (unter der Eisenbahnbrücke).
Der obere Teil wurde in der Keudelsgasse als Trittstein benutzt, bis er 1882 vom damaligen Pfarrer Großheim angekauft und in die neu errichtete Kirchhofsmauer eingesetzt wurde. Ein Kreuzigungsbild mit Maria und Johannes ist noch zu erkennen. Die stark verwitterte Schrift konnte aber bis jetzt, trotz wiederholter Bemühungen, nicht entziffert werden.
Anmerkung:
Eine lyrische Ausgestaltung dieser berühmten Sage, die der Lengenfelder Kirchenmaler Joseph Richwien 1987 geschaffen und mit vielen Zeichnungen versehen hat, finden Sie in der Rubrik "Gedichte von Joseph Richwien".