Das Fräubchen von England
Der König von England kam, von einem seiner Diener Erich begleitet, aufs Eichsfeld. Auf der Reise über dasselbe wurde er von der Nacht überrascht. Da sah er in der Ferne ein Licht; er ritt dem Schein nach und kam in das Dorf Flinsberg. Das Haus, aus dem so spät noch Lichtschein fiel, war das Haus des Küsters, der gerade das Tauffest seines Kindes feierte. Er klopfte an der Türe. Der Küster öffnete, fragte nach dem Begehr des Fremden, und als er hörte, dass dieser sich verirrt habe, lud er ihn in sein Haus ein, ohne zu wissen, wer der späte Gast sei. Der König ließ sich auch nicht lange bitten, trat in das kleine Haus ein, setzte sich mit an den gedeckten Tisch und fühlte sich in dem fremden Kreise recht behaglich. Niemand von den Gästen ahnte, wer der Fremdling wohl sei.
Unter den Gästen befand sich aber auch der Ritter vom Bischofstein, ein böser, geldgieriger Mann, der gar bald bemerkte, dass der Fremde kostbaren Schmuck aus Gold und Edelsteinen trug. Das machte ihn ganz begehrlich, und seine Habsucht schmiedete einen finsteren Plan. Er erkundigte sich im Gespräch so beiläufig nach der Zeit, wann der Fremde am anderen Morgen aufbrechen werde. Als er alles erfahren hatte, was er wissen wollte, auch den Weg wusste, den der König reiten würde, nahm er bald Abschied, holte einige Knechte herbei und legte sich mit ihnen bei Ascherode wohl vermummt in einen Hinterhalt. Als der Erwartete am anderen Morgen herankam, stürzte der Raubritter mit seinen Knechten aus dem Versteck, sie überwältigten den Fremden und töteten ihn. Der Diener Erich wandte, als er seinen Herrn stürzen sah, eiligst sein Ross und floh von dannen. Der Bischofsteiner und seine Reisigen verfolgten den flüchtigen Knappen eine Weile, sie ließen aber bald ab, da sie die Habsucht antrieb, nach den erbeuteten Schätzen zu suchen und sie zu prüfen. Sie plünderten den Leichnam aus, warfen ihn dann in einen Brunnen, der am Wege lag und zogen jubelnd zum festen Bischofstein.
Der treue Diener Erich kam nach tagelangem Ritt und einer Fahrt über das Meer zurück nach England. Dort suchte er die Königin auf und berichtete ihr, was Furchtbares geschehen war. Die Königin, als sie vom Tode ihres geliebten Mannes erfuhr, weinte und klagte zunächst gar sehr. Aber bald drängte der Gedanke, ihren Gatten zu rächen, alle anderen Gefühle zurück. Sie versammelte ein Heer von Rittern, fuhr über das Meer und gelangte, von dem Knappen Erich geführt, endlich aufs Eichsfeld. Erich wusste zwar ungefähr, aber nicht mehr genau die Stelle, wo der König umgebracht worden war. Er wusste auch nicht das Dorf zu nennen, erinnerte sich nur, dass es auf „rode“ geendet hatte.
Da zerstörte das „Fräubchen von England“ alle Dörfer der Gegend, die auf „rode“ endigten. So auch Ascherode und Roderode, welche seit der Zeit wüst liegen. Endlich erfuhr aber die Königin doch, wer der Mörder war und sie rückte nun mit ihrer Ritterschar gegen den Bischofstein.
Der Vogt vom Bischofstein lachte nur über das Fräubchen von England und ihre Anstrengung, seine feste Burg zu erstürmen; denn die Mauern und Türme seiner Festung waren sehr stark. Aber bald staunte er über die Kühnheit der fremden Frau. Alle Kugeln, die man nach ihr schoss, prallten an der Kriegsfrau ab. Da erfuhr der Vogt durch einen Verräter, dass der silberne Schuppenpanzer, den die Heldin trug, gefeit sei und dass er nur mit einer Silberkugel, so groß wie eine Erbse, durchbohrt werden könne. Da goss man auf dem Bischofstein schnell kleine Silberkugeln, lud sie und richtete sie auf das Herz der Königin. Schon die erste Kugel traf und durchbohrte das Herz der Frau, dass sie lautlos zu Boden fiel. Da war nun bei ihren Rittern und Knappen viel Jammern und Weinen, und sie sammelten sich um den teuren Leichnam und begruben ihn mit großen Ehren. Dann setzten sie einen Denkstein, der noch bis vor hundert Jahren zu sehen war und nannten den Ort Frauenruh. – Dann aber stürmten alle in wilder Wut die Höhe hinan, eroberten die Burg, hieben alle nieder, stürzten die Mauer ein und rollten die Steine ins Tal.
Franz Huhnstock (nacherzählt nach Karl Duval)
(Quelle: Eichsfelder Heimatbuch. Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Prochaska. Heiligenstadt: Cordier, 1956)