Das Ende des Eichsfeld-Expresses (1993)
In den letzten Ausgaben unseres „Rundschreibens“ hatten wir ausführlich über den Bau und die Entwicklung der „Kanonenbahn“ berichtet. Im Vorjahr erlebten wir jene denkwürdige Fahrt von Lengenfeld nach Kefferhausen zum Gartenfest im Café „Jot-We-De“.
Der Betrieb auf dieser Strecke wurde am 1. Januar 1993 eingestellt. Seit dem 15. Mai 1880 hatte sie das Obereichsfeld mit der weiten Welt verbunden. Ihr fahrplanmäßiger Takt bestimmte einst auch den Tagesrhythmus in Bischofstein. Zuletzt verkehrten täglich noch vier Zugpaare; jede Haltestelle verkaufte im Tagesdurchschnitt noch vier Fahrkarten. Jetzt ging mit der Einstellung des Verkehrs zwischen Geismar und Küllstedt ein Stück deutscher Eisenbahngeschichte zu Ende.
Am letzten Tag – Donnerstag, 31. Dezember 1992 – waren noch zwei Sonderfahrten angekündigt. Eisenbahnfreunde aus der ganzen Bundesrepublik hatten sich mit Kind und Kegel sowie Wurststullen und „Klarem“ eingefunden. Um 9:38 Uhr zog eine Dampflok der Baureihe 50 aus Arnstadt (gebaut bei Skoda 1938, umgerüstet in Stendal 1940) mit 8t Kohle und 26 Kubikmeter Wasser im Tender die 10 Personenwagen und einen „Speisewagen“ von Leinefelde nach Süden. Der mit 1.000 Fahrgästen rappelvolle Lindwurm wälzte sich durch das Eichsfelder Bergland, mit seinen sechs Tunnels und dem 27,5 m hohen Viadukt über das Dorf Lengenfeld, einstmals als Meisterleistung des Bahnbaus bewundert, um 10:34 Uhr den Bahnhof Geismar zu erreichen. Um 12:07 Uhr erfolgte die Rückfahrt nach Leinefelde mit Anschluss an die völlig erneuerte Strecke Eichenberg – Halle um 13:05 Uhr.
Die Stimmung im Zug war eine recht fröhliche, Gesänge zum Schifferklavier klangen über das Bergland und unzählige Foto und Videokameras hielten den historischen Tag fest. Draußen an den Haltestellen aber standen hunderte von Menschen mit Transparenten und schwarzen Fahnen und klagten das Ende ihrer Bahn an. Die Bahnbeamten meinten: „Hätte nur ein Teil dieser Menschen die Bahn benutzt, wäre es nicht zu diesem Ende gekommen.“
Am Nachmittag fuhr dann ein allerletzter Zug wieder vollbesetzt von Fahrgästen, diesmal meist aus dem Eichsfeld.
Und wieder wehten an der Strecke die schwarzen Fahnen in der eisigen Luft. Um 17:24 Uhr fuhr der letzte Zug vom Bahnhof Lengenfeld nach Norden. Inmitten einer großen Menschenmenge stand die Bahnhofsleiterin, die „Hauptassistentin“ Margarethe Stude – uns vom Vorjahr noch gut in Erinnerung – mit Tränen in den Augen an den Gleisen. Seit 1976 hatte die Mutter von drei Kindern den Bahnhof zu einem Schmuckstück unter Thüringens Bahnhöfen entwickelt. Jetzt bot man ihr für ein halbes Jahr einen Posten als Schaffnerin in dem Bus an, der künftig den Personenverkehr zum Bahnhof Dingelstädt bedient. Ob sie die Wohnung im Bahnhof halten kann, den die Reichsbahn verkaufen will, ist zweifelhaft.
Vor der letzten Auffahrt auf den Viadukt wurde der Zug jäh gestoppt. Eine Barrikade aus Baustellenabsperrungen, einer Betonschwelle mit Warnbake und Blinklicht sowie viele Menschen mit Transparenten und schwarzen Fahnen hielten ihn auf. Die Schaffnerin und Zugführerin holte den Leiter des Personenverkehrs der Reichsbahndirektion Erfurt herbei, der an der Fahrt teilnahm. Dieser bat um Verständnis dafür, dass man einerseits mit Aufwendungen in zweistelliger Millionenhöhe den maroden Gleisbau und die wackelige, höchst gefährdete Brücke nicht wieder sanieren könne, andererseits auch in Zukunft nicht mit einer besseren Inanspruchnahme der Strecke zu rechnen sei. Am Ende zogen die Protestierenden verdrossen ab und die Bahner räumten die Sperre. Ein Pfiff und der Zug setzte sich über die knarrende Brücke in Bewegung, um vorbei an dem im Dunkel liegenden Bischofstein letztmals Leinefelde zu erreichen.
(Quelle: „Bischofsteiner Rundschreiben“, Weihnachten 1993, S. 12)