Das Beinhaus

Wallfahrtskirche auf dem Hülfensberg mit Patres, 1891 Auf dem Hülfensberg stand noch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts an der Südseite der Kirche ein sogenanntes Beinhaus. In diesem wurden, außer den Beerdigungsgeräten, die beim Ausschaufeln der Gräber aufgefundenen Totengebeine pietätvoll aufbewahrt. Und dies waren nicht wenige, weil außer den Verstorbenen aus dem Ort Bebendorf noch andere Umwohner des bedeutungsvollen Berges ihre letzte Ruhestätte dort zu haben wünschten und auch fanden. Die ausgegrabenen Gebeine sollen meist noch gut erhalten gewesen sein. Das ist verständlich, da der steinige Boden und der geringe Raum nur für verhältnismäßig wenige Gräber Platz bot und man deshalb genötigt war, die Gräber früh wieder neu zu belegen. -

Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, so wird erzählt, waren am Abend des Kirmesdienstags die Burschen des am Fuß des Hülfensberges gelegenen Dorfes Geismar in der Gemeindeschänke versammelt. Fleißig kreisten die Gläser, und ein Lied nach dem andern wurde gesungen. Der Alkohol stieg den jungen Leuten zu Kopf und einer suchte den anderen an übermütigen Reden zu übertreffen. Das ging solange gut, bis einer der Burschen prahlte: "Ich fürchte mich vor dem Teufel nicht und gehe auch bei Nacht überall hin - und wenn es ins Beinhaus auf dem Berge ist!" Unter großem Hallo nahmen die andern ihn beim Wort. Wie bei solcher Stimmung vorherzusehen war, wurde eine Wette abgeschlossen und man versprach dem Prahlhans ein Fass Bier, wenn er einen Totenschädel aus dem Beinhaus holen würde.

Der Bursche machte sich sogleich auf den Weg und stieg eilig den Berg hinan. Der Vollmond stand am Himmel und es war eine sternklare Nacht. Bald hatte der junge Mann sein Ziel erreicht. Die Tür des Beinhauses war nur angelehnt. Er öffnete sie und ergriff den erstbesten Schädel. Dann eilte er den Berg hinab in die Schänke, wo er von seinen Kumpanen mit lautem Hallo empfangen wurde. Den Schädel legte er mitten auf den Tisch und ließ sich und seinen Mut von den Zechgenossen bewundern. Während man nun dabei war, unter wüsten Spott- und Lästerreden das "gewettete" Fass Bier zu leeren, erschien plötzlich eine knöcherne Hand am Fenster und klopfte klirrend an die Scheibe, worauf sich das Fenster von selber öffnete. Die Zecher verstummten sofort und erbleichten, als sie draußen auf der Mauer eine weiße Gestalt hocken sahen. Dann hörten sie eine Grabesstimme, die deutlich sagte: "Bring sofort meinen Schädel ins Beinhaus zurück, sonst . . ." Drohend hob die Gestalt eine knöcherne Hand in die Höhe. Nun überkam den übermütigen Dieb doch die Angst und er fing an zu betteln und zu flehen, dass seine Kumpane ihn doch auf dem schweren Gang nach dem Berg begleiten möchten. Doch jeder wehrte ab: "Du hast ihn geholt, nun bring ihn auch wieder zurück!" Da hörte der Bursche abermals die Grabesstimme. Alle Glieder zitterten ihm. Schließlich ergriff er den Schädel und trat den Weg auf die Höhe an. Seine überreizte Einbildungskraft ließ ihn überall Gespenster sehen, die ohne Köpfe waren und die Arme nach ihm ausstreckten. Schließlich kam er in den Wald, der den oberen Hang des Berges bedeckte. Wo seine Füße auftraten, raschelte das Laub, und jedes Mal zuckte er zusammen. Der Anblick eines aufgeschreckten Wildes, das ihm über den Weg lief, ließ ihn zutiefst erschrecken. Der Schrei einer Eule, die lautlos über ihn dahinschwebte, ging ihm durch Mark und Bein. Er befand sich in einem fieberhaften Zustand und das Herz drohte ihm zu zerspringen. Endlich hatte er die Höhe erreicht. Schnell warf er den Schädel ins Beinhaus zurück. Da hörte er die Turmuhr eins schlagen und die gleiche Grabesstimme, die er schon vordem gehört hatte, rief: "Schlüge die Glocke jetzt nicht eins, zerbräche ich dir Hals und Bein!" Zu Tode erschreckt, rannte der Bursche den Berg hinab und kam dabei zu Fall. Er sprang wieder auf, stürzte aber nach wenigen Schritten erneut und fiel einen steilen Abhang hinab. Durch den Sturz verlor er das Bewusstsein. Als der "mutige" Kumpan nicht zurückkehrte, verließen die anderen Burschen kleinlaut das Wirtshaus und begaben sich nach Hause. Am nächsten Morgen zog man aus, den Vermissten zu suchen. Schließlich fand man in einer Dornenhecke den noch immer Bewusstlosen, arg zerschunden und blutbeschmiert. Man brachte ihn nach Hause. Hohes Fieber stellte sich ein und lange schwebte der junge Mann zwischen Leben und Tod. Endlich besserte sich sein Zustand. Lange dauerte es jedoch noch, bis er das Haus wieder verlassen konnte. Aber auch nach seiner Genesung blieb er ein siecher und gebrochener Mann. Der Übermut jener Nacht hatte ihn zum Krüppel gemacht.