Das Altersheim

Drüben liegt mitten in wohlgepflegten Anlagen das große Haus; es ist das größte des Ortes. Ob es die Schule ist? Wenn wir wollen, ja es ist eine Schule; es ist des Herrgotts Leidensschule. Wie viel Leid und Weh hat dieses Haus schon gesehen, wie viele mögen es sein, die hier den letzten Lebenskampf ausgerungen, und wie viele werden noch hinein müssen in diese harte Schule?

Für viele ist es auch ein Asyl des Alters geworden. Jetzt allerdings ist’s still geworden in den Anlagen; aber vor kurzem noch waren sie belebt von alten Leuten, welche die schönen Herbsttage herausgelockt hatten, die wehmütig Abschied nehmen wollten von der bunten Welt, noch ehe raue Nebeltage und Schneewirbel ihren Freuden ein Ziel setzten, vielleicht auf immer. Jetzt, bei den unfreundlichen Tagen sieht man ab und zu ein Gesicht hinter den hohen, geschlossenen Fenstern. Und drüben die Bank zwischen den Tannen, sie bleibt einsam und leer.

Wie viele sind’s ihrer schon gewesen, die in den Gartenanlagen einherschritten, die dort im lauschigen Winkel auf der Holzbank gesessen? Wie viele Gesichter sind mir vertraut und bekannt geworden! Wie viele haben schon herübergenickt zum freundlichen „Guten Morgen“? – Bis der und jener der Bank fern blieb, weil in stiller Nacht vielleicht der Fährmann der Ewigkeit im dunklen Nachen heranruderte und ihn einschiffte zur letzten Fahrt, seiner Augen Licht verlosch und seine Hand erkaltete. Aber nimmer ist sie leer geblieben, die Bank, andere haben an den Plätzen gesessen und wieder andere. Und wie verschieden waren sie, in Erscheinung und Charakter, die dort saßen!

Da waren etliche, denen das Heim eine zweite Kindheit gab. Sonneleuchten und Frohsinn lagen gebreitet über den faltigen Zügen. Das sind Zufriedenem die sich begnügen mit dem, was ihnen Leben, Schicksal und Vorsehung gab. Mit ihnen haben es die guten Schwestern noch leicht. Dann waren andere, deren Gebaren war wie verhaltene, drohende Gewitter. Groll und Missmut prägt sich in ihre Züge, und unzufrieden sind sie mit ihrem Lose, noch hadernd am Lebensabschluss und murrend in späten Tagen. Woran das liegt? – – Wer kann es sagen? Was wissen wir, welch herbe Enttäuschungen ihnen das Leben brachte, welchen Gram ihnen vielleicht die eigenen Kinder bereiteten, was ihnen die Brust zernagte, ihnen das Gallgift der Mürrischkeit einimpfte?

Darunter sind wohl welche, die noch Anhang irgendwo haben und vielleicht schon Jahr und Tag warten auf einen Brief, dessen Inhalt ein erlösendes, verzeihendes oder abbittendes Worte wäre; und weil der nicht kommt, können die Wolken sich nicht lichten. Was wissen wir davon?

Darum ist die Aufgabe der guten Schwestern nicht leicht, sie alle mit den verschiedentlichen Ausprägungen ihres manchmal zerrissenen Seelenlebens hinüberzuführen in die Arena des einen barmherzigen Gottes. Denn diese, die ihnen alle Führerinnen sein wollen in den letzten Fährnissen des Lebens, wissen es mehr als wir, wie die Wogen und Stürme noch unheildrohend toben und wühlen können, während wir wähnen, bei sinkender Sonne am spiegelklaren See zu stehen. Doch Gott Dank, sie verstehen ihren Heilandsdienst, und er, der in ihrer Mitte weilt im kleinen Kapellenraum, wird alles zuletzt zum guten Ziele wenden.

Doch da sind noch einige, die tragen Sonne mit sich herum und lassen deren Strahlen fallen ins frohe Kinderherz. Es sind die Vertrauten der Dorfkinder und diese sprechen mit ihnen wie mit Gespielinnen. Da ist „Kattrinchen“, ein altes Jüngferchen, nicht viel größer als ein Kind. Es trippelt daher mit kurzem Krückstock und ist ganz vornübergebeugt: aber wenn es lacht das Kattrinchen, klingt’s wie Singen eines Waldvögeleins. Und dann ist da Anton, der stets gern bereitwillig Auskunft gibt, wenn nach beendetem Mittagsmahl ein Dorfkind fragt: „Anton, was hast denn gehabt?“ „Scheen Assen, scheen Assen.“

Am lieblichsten wird das Bild, wenn so eine alte Matrone mit zitternder Hand über einen Kinderscheitel streicht, ihr Aug’ wie geistesabwesend in endlose Ferne schweift, ihre faltige Hand in den Taschen fühlt, ob sie nicht ein Zuckerstückchen oder etwas findet, um damit eine kleine Hinderhand zu füllen. Da mag sie wohl um ihre Enkelein denken irgendwo in der fernen Stadt, denen sie gerne Großmutter sein möchte.

So alles in allem: Man muss sie gern haben diese großen Kinder. Sie sind so dankbar für ein freundliches Wort und sie sind anhänglich wie die Kinder. Die meisten suchen ihrem Leben noch Inhalt zu geben. Einer betreut die Kuh, die buntscheckige Liese, und will sich gern noch nützlich machen. – Zwiegespräche entstehen zwischen ihnen und schnatternden Gänsen und einfältig dreinschauendem Enten- und Hühnervolk.

Sie wissen es wohl; es ist der letzte Akt ihres vielleicht bewegten Lebens. Dann kommt das große, endgültige Ausruhen im Schatten des Friedhofskreuzes im Dorffriedhof. Das aber ist unser gemeinsames Los mit ihnen, und darum wollen wir sie Bruder und Schwester nennen.

– –

Mein Gedanke geht zurück in die Zeit vor dreißig Jahren. Ich bin ein Schulkind. Die Torflügel des Spritzenhauses sind weit geöffnet und heraus grinst die Totenbahre. Da leigt in einer Ecke eine zerlumpte Gestalt. Ich kenne ihn, der dort in seinem Elend liegt. Es ist ein Obdachloser, verlumpt, verlaust. Der ist der Gemeinde zur Last gefallen. –

Gott Dank, wir sind doch weiter gekommen. Welch beruhigenden Anblick bietet dagegen das Altersheim. Gott Dank, dass es solche Heime und Schwestern gibt.