Damals im Südeichsfeld
Wer noch aus der Weimarer Republik herkommt, ist mehr oder weniger Zeitzeuge der neugeschichtlich bedingten Ultima Ratio, die bis zum letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts Konflikte eher unvernünftig denn vernünftig löste. Unbeschwert war nur unsere Kindheit, die zwischen den beiden großen Kriegen lag.
Wie war das damals eigentlich? Es begann mit der für Kinder typischen Frage nach dem „Warum", das Wissenwollen um die Dinge an sich. Was lag da für einen auf der südeichsfeldischen Höhe Geborenen und Getauften näher, als nach dem Himmel und den Sternen zu fragen, die in klaren Nächten so wundersam die Spitze des „Doms" umkreisten und beinahe die nachtdunklen Fenster der Dorfschulwohnung berührten. Am Tage grüßte der aus dem Friedatal aufsteigende Hülfensberg mit seiner markanten Turmspitze herauf. Alles war katholisch. Nichts Besonderes und ganz selbstverständlich.
Verschwand der Turm in den Wolken, kam sein Geläut wie aus dem Nichts und brach sich auf den nebelnassen Dächern der aus dem Tal zur Kirche aufsteigenden Häuser. Wie hätte es auch anders sein können: in St. Alban spielte sonntags mein Vater die Orgel. Kam der Winter, wurden die Schlittenkufen mit einer Speckschwarte glattgemacht, und los ging's. Vom Kirchberg steil bergab und dann zumeist vors Scheunentor, denn die Abfahrt durchs „Hosenbein", zum Eisenbahn Haltepunkt im Tal der Lutter, gelang nur den größeren Dorfjungen. Heute ist der 1880 an der „Kanonenbahn"-Trasse und am romantischen Mühlbergtunnel gebaute „Bahnhof" verschwunden. Die Schienen rosten. Wenn dort noch einmal ein Dampfross führe, käme es mit seinen nachratternden Waggons geradewegs aus der Vergangenheit. Zu meiner Zeit noch angehängt „Reisende mit Traglasten."
Gleich hinter der Dorfschule lag der Dorfteich, der im Winter für Monate zufror. Ich höre noch heute die Gedicht zitierte Ermahnung meiner Eltern: „Gefroren hat es heuer, noch gar kein festes Eis, das Büblein steht am Weiher und spricht zu sich ganz leis, ich muß es einmal wagen, das Eis es muß doch tragen. Wer weiß."
Nicht weit davon entfernt: „bei Effelder auf windiger Höhe am schützenden Waldessaum ragt eine gespenstische Buche der alte Schlapphanjesbaum."
So jedenfalls beginnt die 1924 nachgedruckte Sage über Hechts Aden, „dem aus Effelder", den Schnappsack am Wehrgehänge, und Bratsch Nickel, „dem aus Büttstedt", die bei Kloster Zella einen reisenden Krämer erschlugen. Bei der Buche auf dem nahen Ulenstein (angelsächsisch „ule" = Eule) wurden sie von Reitern des Bischofsteiner Burgvogtes gefaßt und gehenkt. Der Volksmund griff die Sage auf und nannte den Baum fortan die „Schlapphanjesbuche". Übrigens: Schlapphanjes ist eine Verballhornung des französischen „champ"= Acker, Feld, Platz. Daraus abgeleitet Ja champagne"= die Champagne. Frhr. v. Wintzingeroda-Knorr weist in „Wüstungen des Eichsfeldes (1903) unter „Amscherode" darauf hin, daß am Uhlenstein, im Gemeindebezirk Effelder, noch ein Feldgrundstück „auf der Schampanche" heißt.
Die wohl bekannteste Sage im Südeichsfeld ist aber die vom „Fräubchen von England". Nachzulesen in: „Das Eichsfeld", C. Duval, 1845, und nacherzählt von Lehrer F. Huhnstock in: „Eichsfelder Heimatbuch", 1956. Folgt man J. Grimms These (Deutsche Mythologie, 1835), beinhalten Sagen eine halbhistorische Beglaubigung. Sie zu analysieren, lohnt sich also. Die Heldin unserer Sage ist das „Fräubchen von England". Dessen Gemahl (Vater, Bruder?) wurde erschlagen, als er mit Schätzen und einem Diener unter dem Hülfensberg entlangzog. Täter soll der Vogt von Burg „Steyn" (12. Jh., nach 1400 „Bischofstein") gewesen sein.
Der entkommene Diener des Ermordeten trug die Hiobsbotschft übers Meer), wusste aber nur, dass die Untat in Nähe eines Ortes geschehen war, der auf „rode" endete. Daraufhin kam seine Herrin in die Steiner Gegend und ließ die umliegenden „Rode"-Dörfer niederbrennen.
Beim Sturm auf die Burg wurde sie getötet und zwar nahe der Lengenfelder Hagemühle, an der Stelle, wo im 19. Jahrhundert noch der „Frauenstein" stand. Wutentbrannt erstiegen die Ihren die Burg, hieben alles nieder und machten sie dem Erdboden gleich. Erhebt sich die Frage, wer war ihr Mann?
Ins Spiel gebracht wurde der englische König Richard Löwenherz (1157-99), der, vom Kaiser geächtet, durch Mitteldeutschland flüchtete. Oder war mit „Fräubchen" Mathilde, die Frau Herzog Heinrichs des Löwen (1129-95) und Tochter des englischen Königs gemeint? Sie soll im Krieg ihres Mannes gegen Kaiser Barbarossa die Dörfer jener Vasallen verbrannt haben, die es mit dem Kaiser hielten. Natürlich ist diese Herleitung unsinnig.
Nachvollziehbarer wäre, dass die Sage im Kern einen Hülfensberg-Wallfahrer-Bezug hat. Wir wissen, dass im 14. Jahrhundert Seeländer, darunter auch Leute von Engernland, zum „Sunte Hulpe" (Hülfensberg) pilgerten.
In Testamenten frommer Lübecker sind zwischen 1370-1477 Auszüge bekannt geworden, in denen des Berges gedacht wird. Auch Braunschweiger, Hildesheimer und Göttinger werden als Wohltäter genannt. Anlass zur Wallfahrt war, neben der Hoffnung auf Heilung individueller Bresthaftigkeit (Gebrechen), die damals landweit um sich greifende Pest, begleitet von Hungersnöten und Kriegen.
Raubrittertum vorausgesetzt, könnten Steiner Burgmannen einen wohlhabenden Pilger ausgeraubt und getötet haben. Die Untat an ihrem Gatten zu ahnden, kam das Fräubchen mit Getreuen zum Eichsfeld und wurde selbst Opfer. Erwiesen ist, daß die in eine niedere und obere Anlage gestaffelte Burg erst verfiel, nachdem sie verwaist war. Die dazugehörige Stadt mit Marktrecht wurde vordem aufgegeben. Noch 1693 taufte der Lengenfelder Pfarrer in der St. Georg Burgkapelle „ein von einer Maleficperson (Übeltäterin) im Kerker geborenes unächtig Kind. Der Vatter derzu war der Scharfrichter aus der Vogtey, ein Ehmann."
Unweit der Hagemühle und nahe der noch 1577 bis 1677 nachgewiesenen Dorfstelle Amsrode (Amscherode), stand, am Zufluss der Lutter in die Frieda sowie am Aufgang zur Burg und zum Hülfensberg, in der Wüstungsflur ein frühgotischer Grabstein, der wohl der Bildkunst des 14. Jahrhunderts angehört.
Auf ihm sind Maria und Johannes unter dem Kreuz abgebildet. Die beiderseits aufgeführten Wappenschilde deuten auf das Grabmal einer Frau hin. Deshalb auch „Frauenstein" genannt. Davor eine mysteriöse Steinkugel mit einem Durchmesser von 60 cm. Für die Dorfbewohner der Umgend war und ist die Stätte auch heute noch ein Rätsel.
Betrachtet man sie jedoch unter dem Aspekt der Patronatsübergabe des Hülfensberges an das Anroder Zisterzienserinnenkloster, lichtet sich der Schleier des Geheimnisvollen. Als der Stein gegen Ende des 14. Jahrhunderts gesetzt wurde, hatte das Kloster 1357 die Kirche in Sundhausen und Büttstedt nebst Zubehör abgetreten, dafür aber im Tausch vom Martinsstift in Heiligenstadt das Patronat über die Pfarrkirche zu Geismar und über das Wallfahrtsgotteshaus auf dem Stouffenberg hinzugewonnen. Schon 1360 gab es eine erste große Wallfahrt dorthin.
Es kam so viel an Spenden ein, dass man an die Kapelle 1360-62 „eine schöne Kirch" anbauen konnte. Laut Inschrift in der Säulenhalle der Erfurter Karthause wurde der Pfarrer auf dem Hülfensberg von seinem Anteil an den Opfergaben so reich, dass aus seinem Nachlass 30000 Gulden zur Stiftung des Karthäuserklosters verwendet werden konnten. Zwischen Anrode und dem Pilgerberg gab es fortan ein reges Hin und Her der Klosterjungfrauen.
Vermutlich ereilte dabei eine von ihnen der Tod. Bedenkt man, dass es damals mehr Frauen- als Männerklöster gab und besonders Burgleute ihre Töchter nicht mit leeren Händen in ein Kloster schickten, folgten sie auch in der Stouffenbergregion diesem Brauch. In diesem Zusammenhang sei die N. Proyse, Tochter des Burgmannes und Ritters Albert Proyse, genannt, die zur Aufnahme als Anroder Novizin 1308 eine Hufe und einen Hof in Lengenfeld eingebracht hatte (Das. p. 314a). Geht man davon aus, dass auch im späten 14. Jahrhundert die eine oder andere Proysetochter Anroder Zisterzienserin wurde, könnte der „Frauenstein" die Grablege einer Konventualin aus ihrem Geschlecht gewesen sein.
1360 saß, neben anderen Rittern, ein Eckert Proyse „auf deme Steyn". Ihm folgten 1381 gleich mehrere Proyse, nämlich die Gebrüder Proyse. Damals hatten die „geistlichen Frouwen zu Annarode" von ihnen: Eckehard, Heinrich, Herdein und Appeln „Borghmanne zu dryforthe (Treffurt) un zu deme Steyne/das Dorff zu Bebendorff das undir Sente Gehulffin Berge gelegin ist/vor siebentzig marck lötigen Silbirs ye vor die marg zwey Phunt Han-norfesche Phennige" gekauft.
Was die Grabkugel am „Frauenstein" anbetrifft, symbolisierte sie vermutlich ritterschaftliche Stärke eines Geschlechts, das eine Tochter gleichstellte, der hohes Ansehen zuteil geworden war. Nach 1840 kam die Kugel in ein an die alte Schmiede anstoßendes Gehöft. Der Frauenstein, knapp 2m hoch, ist ein Fragment, dessen untere Hälfte noch 1924 „als unter der Diele der alten Lengenfelder Schmiede eingemauert" galt. 1884 ließ der Ortspfarrer die obere Hälfte in die Lengenfelder Kirchhofsmauer einsetzen. Oberhalb der Mauer hat später auch die Kugel einen würdigen Platz gefunden.
Es war der Stein, der die Altvordern inspiriert hatte, immer neue Unheimlichkeiten über die zu erzählen, die darunterlag und im Volksglauben keine andere als das „Fräubchen" war. Man wollte von Urahnen gehört haben, dass sie auf einem Einspänner unterhalb von Stein von einem silbernen Pfeil des Burgvogtes getötet wurde. Andere erzählten, dass sie unweit der Hagemühle vom Pferd gerissen niedergemacht wurde. Im benachbarten Hessen wurde sie als Kindsmöderin geschildert. In Geismar erzählte man, dass der Vogt sie ans Pferd band, nachschleifte und am Wege zur Entenmühle in zwei Teile riss. Noch heute heißt die Stelle, wo das geschah, „zur halben Frau". In Faulungen, dem Nachbardorf von Lengenfeld, ritt sie durch den Zellaer Klosterwald und stürzte auf der Klosterschranne samt Pferd in einen gähnenden Spalt. Rauhe Sitten anno dazumal – und die nicht nur in der Sage.
Mit der Sache befasst, machte ich mich an einem der diesjährigen wolkenlosen Mittjanuartage auf, um Frauenstein und Kugel, aber auch liebgewordene Stätten meiner südeichsfeldischen Heimat aufzusuchen. Nicht zuletzt das Schloss Bischofstein 1747/48 unter dem Mainzer Erzbischof Johann Friedrich Karl v. Ostein auf halber Burgberghöhe als Amts- und Wirtsschaftsgebäude errichtet. Architekt war Meister Heinemann aus Dingelstädt.
Dass damals das Steinmaterial der noch stattlichen Burg Stein mitverbaut und sie erst dadurch dem Erdboden gleichmacht wurde, ist für unsere denkmalsbewusste Generation ein Vorgang ohnegleichen. Aber auch das Schloss Bischofstein ist vom Verfall bedroht und steht leer. Gegenwärtig ist wohl keine Zustandsänderung in Sicht. Der oder die Erben wohnen im Ausland.
Ich lernte das Schloss kennen, nachdem der zweite Weltkrieg zu Ende und Restdeutschland in vier Besatzungszonen geteilt war. Damals war das Gebäude eine Sammlungs- und Ausbildungsstätte für junge Leute, die den Krieg überlebt hatten. Sie hatten sich vorgenommen, über den Lehrerberuf die kriegsbedingten Erziehungslücken schließen zu helfen. Neues Leben erfüllte die alten Mauern: Literatur, Gespräche, klassische Musik, aber auch die fröhlich neue eines Glenn Miller wie „In the Mood". Das umso mehr, weil wir an den Wochenenden über die offene Zonengrenze, zwischen Keudelskuppe und Hülfensberg nach Wanfried wanderten, in die amerikanisch besetzte Zone.
Täglich ratterte nur wenige Meter vom Schloss entfernt der Zug auf der alten Kanonenbahntrasse aus Richtung Küllstedt, Effelder, Großbartloff kommend nach Geismar und Großtöpfer vorüber. Kaum dass er Bischofstein passiert hatte, erreichte er die „Brücke von Lengenfeld" und überquerte darauf das Dorf in einer phantastischen Haarnadelkurve. Unbestritten ist ihre Konstruktion mit einer Länge von 244m und einer Höhe von 24 m ein Wunderwerk der Technik des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Wie könnte ich vergessen, dass bei einbrechender Dunkelheit jedes Mal ein gewaltiger Funkenregen zu sehen war, der von der kohlebefeuerten Lokomotive auf die darunter liegenden Dächer niederging. Die Strecke weiter zu befahren, hätte ihre Sanierungskosten, geschweige ihre Rentabilität, bei weitem überschritten. Also wurde sie am 31. Dez. 1992 stillgelegt.
Auf den Spuren des „Fräubchens" kam ich Frieda abwärts und Lutter aufwärts in den romantischen Lutter- und Klostermühlegrund von Effelder. Von hier führte mein Weg in das 500 m hoch gelegene Dorf stetig bergan. Ich kann nicht verhehlen, dass mich ein Hauch von Wehmut beschlich, als ich anstatt der alten Dorfschule – wo ich meine ersten Schritte gemacht hatte – einen schön gestalteten Dorfplatz antraf. Helle Kinderstimmen rissen mich aus meinen Gedanken, und plötzlich war es wie vor 70 Jahren, als hier der Pausenlärm bis ins Dorf zu hören war. Was blieb mir anders übrig, als das Veränderte hinzunehmen. Ich tröstete mich damit, dass zumindest der Grund und Boden geblieben ist und – wie damals der Schulhof – den Kindern wieder zugute kommt.
Wolfgang Trappe
(Quelle: Eichsfelder Heimatstimmen, 3/1999 (Bd. 43)