Dämmerstunde

Sie haben etwas anheimelnd Absonderliches, die Zeitspannen zwischen Tag und Nacht. Hast du das nicht auch schon empfunden, als du vielleicht einmal - nach Scheiden eines heißen Sommertages vielleicht - geruhsam, losgelöst von allen schweren Gedanken des Erdgebundenseins, irgendwo - einsam mit halbgeschlossenem Blick - hineinträumst in den scheidenden Tag? Die Gedanken, die dir da wohl kommen in solcher Dämmerstunde, sie waren leichter und nichts haftete an ihnen von Erdenschwere. Sie schwebten leicht beschwingt fort, hinüber an die dunkle, scharf begrenzte Silhouette des schweigsamen Waldes, über dem die goldglänzende Mondsichel auf dunkelblauer Gewandung des abendlichen Firmaments schwebte. - Und gingen weiter – weit hinter jene fernen Berge, hinter denen die Sonne sank, an ferne Plätze irgendeiner Erinnerung. Nicht Raum und Zeit hindert ihren Flug, der weit zurückgeht in vergangene Zeit oder weit vorauseilt in ferne, ferne Zukunft.

Doch warum frage ich dich nach alledem. Ich weiß es, weiß es, ohne dass du Rede und Antwort siehst, du hattest solche Dämmerstunden und hattest in ihnen deine Gedanken – Gedanken, so schön, so edel, so rein und gut, so rührend und weh, dass es wert wäre gewesen, sie niederzuschreiben. – Aber du hast sie nicht niedergeschrieben, du nicht und andere nicht. Nur ins Herz hast du sie versenkt, diese absonderlichen, weltfremden Gedanken – und so bist du dein eigener Verleger geblieben.

Aber nicht nur so ein träumerisch-stiller Sommerabend hat seine Dämmerstunde, vielmehr noch lässt sich's besinnlich träumen, wenn's draußen stürmt und tost und wettert und dazwischen sich die nebelschwangere Dämmerung senkt. Wenn im Kamin das Holzfeuer prasselt, der Wind an den Fensterläden rüttelt, wenn die Wetterfahnen quarren und kreischen und ächzen und draußen die Straßen dunkel und schweigsam liegen, dann nimm das halbe oder auch das ganze Stündchen, was zwischen dem geschiedenen Spätherbsttag und der einbrechenden Nacht liegt für Dich und träume mit blinzelndem Auge wachend in dich hinein.

Solch besinnliche Stunde braucht der Mensch auch mal. Da kann er einmal wieder mit Menschen verkehren – die fern, fern irgendwo in einer fernen Stadt, einem fernen Land – oder gar in der Ewigkeit weilen. Und wenn sie so an seinem Geiste vorüberziehen, die Gestalten und Charaktere, so hat er wohl für jeden einen geistigen Händedruck. Und wie sie so vorüberziehen, die Lebenden, die fern sind, der – der es drüben, jenseits des Meeres zu etwas gebracht hat, – der – der auf Abwege geriet – der andere, den das Unglück schlug und der und der – und wieder enteilen, so kommen andere – andere, die schon hindurchgeschritten durch das dunkle Tor des Todes. Da streicht dir wohl einer von denen mit magerer Hand übers Haar – und lächelt so eigen und raunt dir zu: "Alt bist du geworden, solang ich dich nimmer gesehn – alt – und schon grau das Haar!" – Und dann ist er verschwunden – fort hinaus ins nebelgraue Dämmern.

Die Turmuhr wimmert ihre Schläge über die Dächer. – Da springst du auf und trittst an Fenster und spähst hinaus. Hier und da glüht ein Licht in den umliegenden Höfen. Deine Finger tasten nach dem Lichtschalter – knips und in flutender Helle liegt dein Stübchen. – Draußen rüttelt noch scharfer Wind und blättert um Schiefer des Kirchdaches. November – spät ins Jahr – denkst du wohl und wirfst wie von ungefähr einen Blick in den Spiegel. – Hier und da schimmert's weiß – wie feiner weißer erster Novemberschnee um deinen Scheitel. Der Sturm klappt einen Ladenflügel zu. Es ist dir, als ob einer geheimnisvoll hinter dir steht und seltsam lächelt: "Alt bist du geworden – und schon grau das Haar. –Und schon November – schon spät ins Jahr", erwiderst du zaghaft. – Aber du wendest dich um – niemand ist da. Du bist allein. Das macht nur die Dämmerstunde. – Doch Licht flutet im Raum. – Sie ist vorbei.