Beobachtungen bei der Zucht des braunen Buchenspinners (Aglia tau) (1934)

Unsere obereichsfeldische Landschaft hat unter der sie bewohnenden Tierwelt eine „Eigentümlichkeit“. Diese Eigentümlichkeit besteht darin, dass ein in ganz Deutschland vorkommender brauner Schmetterling, sich bei uns in eine mehr oder weniger schwarze Form umbildet. Allein schon das Bekanntsein und Vorkommen dieser Umbildung in unserer Landschaft, berechtigt uns, von einem Charaktertier des Eichsfeldes zu sprechen. Aber auch neuere Beobachtungen sprechen dafür, dass die Umbildung dieses Schmetterlings, die „wohl“ in der Entwicklungsrichtung des Tieres selbst liegt – aber auch noch – durch äußere Einflüsse, z. B. koimatische und durch Inzucht hervorgerufen durch die insularsich abgeschlossenen Buchenwälder der Obereichsfelder begünstigt werden könnte.

Seit langem ist es den Entomologen (Insektenkenner) bekannt, dass in den Wäldern des Obereichsfeldes  neben 1) der eigentlichen Art des braunen Buchenspinners Agila tau die geschwärzte Abart Agila ferenigra in „großer Menge“ fliegt, die aber sonst im weiteren Verbreitungsgebiet der eigentlichen Art nur als große Seltenheit hier und da einmal vorkommt. 2) Das Vorkommen der Abart ferenigra in großer Menge ist nur auf gewisse kleine Gebiete beschränkt, so am Pilatus in der Schweiz, auf die Gegend von Linz in Österreich und auf das südliche Obereichsfeld. 3) Kein Wunder, dass diese Abart ein Gegenstand hochinteressanter Studien und Forschungen wurde. Forschungen nicht nur nach erbbiologischen Gesichtspunkten, sondern auch hinsichtlich seiner Entstehungsursachen. Ich habe feststellen können, dass schon seit den 1860 Jahren regelmäßig Entomologen Anfang Mai nach Lengenfeld u. Stein kamen und dort einige Tage in den Gasthäusern wohnten, nur um in den nahegelegenen Wäldern, besonders im Klosterholz Weibchen dieser Abart zu fangen, um davon Eier zu erhalten und sich aus diesen in ihrer Heimat die Schmetterlinge selbst zu ziehen.

  • 1) Das Vorkommen der Abart „neben“ der eigentlichen Art – beweist, dass es noch keine reine Lokalrasse ist – denn Lokalrassen schließen sich gegenseitig im bewohnenden Raum aus.
  • 2) Das Vorkommen als Einzeltier und große Seltenheit hier und da beweist, dass die Umbildung in der Entwicklungsrichtung des Tieres liegt.
  • 3) Wiederum das starke Vorkommen in diesen gewissen Gebieten beweist, dass die Umbildung auch noch durch oben angegebene landschaftliche Verhältnisse begünstigt werden kann.

Besonders versandten Mühlhäuser Entomologen Eier, Raupen und Puppen dieser Abart in alle Welt. Auch von hier erhielt Standfuß, Professor am zoologischen Institut Zürich, Eier der Abart, um mit denselben wissenschaftliche Versuche, besonders erbbiologische durchzuführen. Groß sind die Veröffentlichungen Prof. Standfuß schon in 1890 Jahren, in den „Mitteilungen der Schweizerischen Entomologischen Gesellschaft und in seinem Handbuche der Entomologie“ nimmt diese Abart den breitesten Raum ein. Gleich Standfuß beschäftigten sich noch andere namenhafte Entomologen wie Schulz und Fischer mit der Zucht dieser interessanten Abart und alle kamen übereinstimmend zu der Gewissheit, dass die Abart ferenigra eine „echte Mutation“ ist, die sich bei der Kreuzung mit der eigentlichen Art tau schon bei der ersten Generation rein wieder herausspaltet (ohne Zwischenformen zu ergeben), etwa in dem Verhältnis: tau x ferenigra ergibt in der ersten Generation 50% tau und 50% ferenigra. Dieses ist die von Standfuß und vielen anderen beobachtete Vererbungsregel von A. tau x A. ferenigra. Ein Auftreten von ferenigra unter den Nachkommen von tau x tau galt als ausgeschlossen, jedoch wollen Entomologen aus Mühlhausen diesen Fall einmal beobachtet haben. Auch wurde 1917 ein für das Obereichsfeld bisher ungekannter, oberseits total geschwärztes Männchen dieses Schmetterlings gefangen, derselbe befindet sich heute im Mühlhäuser Heimatmuseum. Diese Umstände und auch noch, dass zu wenig Bekanntsein des Verbreitungsgebietes der Abart ferenigra im engeren Rahmen unserer Heimat, veranlasste die heischen Entomologen, da Agila tau-Frage noch einmal aufzurollen, neue Zuchten anzulegen, und auch in der freien Natur gründlich zu beobachten. Mir selbst war das Glück beschieden, aus meinen planmäßig angelegten ferenigra–Zuchten in der 4. Generation eine total ober- und unterseits geschwärzte neue, bisher unbekannte Form zu erziehen, welche wieder eine echte Mutation darstellte, sich auch weiter vererbt, aber verdeckt (recessiv) dieselben erhielten für die entomologische Wissenschaft den Namen Agila ferenigraextrema Rummel. Unter den Nachkommen dieser extrema traten dann unerwartet die 1917 im Freien gefangene nur oberseits schwarze Form auf, welche den Namen Agila extrema r. Stammform erhalten hat. Dr. Preiß Eschwege, hat in dankenswerter Weise diese neueren Beobachtungen in seiner Arbeit „das Agila tau-Problem nach neueren erbbiologischen Gesichtspukten“ festgelegt. Jedoch ist diese wissenschaftliche Arbeit mehr für die entomologische Wissenschaft bestimmt und für Nichtentomologen schwer verständlich. Da in derselben auch noch über zwei weitere dunkle A.-tau-Formen geschrieben ist, die nicht zu der Fauna des Eichsfeldes gehören,

Will ich in dieser Arbeit nur die bisher bekannt gewordenen dunklen Formen unserer Heimat behandeln. Diese Arbeit mit den aufeinanderfolgenden Generationen präparierter Schmetterlinge dieser dunklen Formen, zusammengestellt im natürlichen Erbgang widme ich dem Heimatmuseum in Heiligenstadt als Anschauungsmittel für das Mendelsche Vererbungsgesetz und zur Darstellung einiger seltener Typen unserer heimischen Schmetterlings-Abarten.

Für unser eichsfeldisches Fluggebiet kommen folgende 3 Formen in Betracht.

Abb. 1 Die Stammform[1] ist der Buchenspinner Agila tau L., welcher im Mai in allen deutschen Buchenwäldern fliegt. Seine Raupe lebt meistens auf Buchen, doch findet man sie auch auf Linden und anderen Laubhölzern. Seine größere Heimat, sein Verbreitungsgebiet ist Europa, sowie einige Teile Asiens, das Paläarktische Faunengebiet. Die Grundfarbe dieser Schmetterlinge ist oberseits ein lichtes braun, und jeder Flügel ist mit einem blauen Auge geschmückt. Inmitten dieser Augen befindet sich ein weißer Keilfleck, welcher die Form eines Nagels oder auch die eines Schieferdeckerhammers besitzt, dieserhalb wird der Schmetterling auch noch Nagelfleck und Schieferdecker genannt. Über die Flügel zieht sich einige mm vom Saum entfernt, ein schwarzer schmaler Streifen. Der Raum zwischen diesen Streifen und dem Saum nennt man Außenrand. In diesem Außenrande der Stammform des Obereichsfeldes, gegenüber der Buchenspinner der anderen Gegenden des Verbreitungsgebietes, befindet sich schon ein Gegensatz: Die Buchenspinner des übrigen Deutschlands haben wenig Schwarz im Außenrande, die des Obereichsfeldes sind sehr schwarz bestäubt, was bei uns die Regel bildet, ist im übrigen Verbreitungsgebiet die Ausnahme. Man kann sagen, die starke schwarze Bestäubung des Außenrandes der Buchenspinner des Obereichsfeldes ist lokal konstant geworden. Unterseits ist der Schmetterling braun mit etwas weiß. Da derselbe in der Ruhestellung die Flügel eng aneinander legt, so gleicht diese Unterseite täuschend  den  trockenen Buchenlaub am Waldboden wo der Falter ruht. (Schutzfärbung)

In den Laubwäldern des Obereichsfeldes kommt neben oben beschriebenen braunen Stammform eine an allen Flügelrändern tiefgeschwärzte Form des Buchenspinners, die Abart Agila ferenigra T, Meig., (Abb.2) in großer Anzahl vor, etwa in dem Verhältnis auf 10 braune Stammformen kommen 2 geschwärzte.

Auch unterseits sind die Falter beträchtlich dunkler, jedoch bleibt bei dieser Form oberseits das Mittelfeld der Flügel sowie Körper und Fühler braun. Sein Verbreitungsgebiet in unserer Heimat ist scharf abgegrenzt. So ist derselbe in den hessischen Laubwäldern jenseits der Werra nach Dr. Preiß, Eschwege noch nicht beobachtet worden. Desgleichen scheint das weite waldlose Leinetal nach den Vorharzwäldern (Ohmgebirge) sehr zu erschweren. Von Prof. Neureuter wurde derselbe nur bis in die Heiligenstädter Waldungen und den übrigen Dünrücken festgestellt. Prof. Petri, Nordhausen schreibt ausdrücklich „der Harz hat die Abart nicht“. Desgleichen fehlt sie dem Thüringer Wald. Von Thüringer Entomologen wurde dieselbe nur sehr vereinzelt im Hainich beobachtet, was sehr leicht erklärlich, da ja der Hainich mit den obereichsfeldischen Wäldern nahe zusammenhängt und hier ein Überfliegen am ehesten möglich ist. Vergegenwärtigt man sich noch dazu die Lebensweise des Buchenspinners als Flieger, er fliegt wohl schnell und reißend, verlässt aber sehr selten seinen Standort den Laubwald. Wanderungen wie bei manchen anderen Schmetterlingsarten sind noch nie beim Buchenspinner beobachtet worden, wohl meidet er das Feld und isoliert sich so selbst in unseren isolierten Wäldern. Das Verbreitungszentrum ist der Westerwald, dort ist er auch am häufigsten.

Dieses ist die seit langen von den Entomologen begehrte und gesuchte Buchenspinner-Abart, welche mit der roten Stammform gekreuzt sich zu 50% sofort wieder rein herausspaltet, also einen klaren dominanten Erbgang hat, ohne Zwischenformen zu ergeben. Die Schmetterlinge überhaupt sind, außer den Vererbungsgesetzen auch noch verschiedenen anderen Naturgesetzen unterwerfen, und in diesem Fall bei der Abart ferenigra handelt es sich um Nigrismus. Das heißt: eine von den schon vorhandenen schwarzen Flügelzeichnung ausgehende, noch stärker werdende Schwärzung. (Beim Buchenspinner geht diese Schwärzung von der schmalen Saumbinde aus.)

Was diesen Nigrismus bei Schmetterlingen zur Auslösung bringt, also die Ursache ist bis jetzt in der Naturwissenschaft noch nicht mit Sicherheit erkannt, bildet aber einen Gegenstand weiterer Forschungen.

Das nun folgende beschriebene Gesetz des Melanismus, das heißt: ein totales Schwarzwerden aller Körperteile des Schmetterlings, ist in der Natur seltener, und ist nicht etwa ein stärker gewordener Nigrismus, sondern ist von diesen absolut unabhängig – also ein Vererbungsfaktor für sich, der sowohl die Stammform wie auch schon für sich abgeschlossene Rasse oder Form ferenigra befallen kann. Wie ich schon erwähnte, wurde ein solches Tier schon vor längeren Jahren von Mühlhäuser Entomologen in unseren Wäldern gefangen, und ich selbst fing dieses Jahr Anfang Mai ein gleiches Stück in der freien Natur. Beide Tiere sind melanotischer Stammform. Ich selbst hatte schon 1927 das Glück, aus ferenigra Inzuchten 2 Männchen und 1 Weibchen der melanotischen ferenigra zu ziehen. Diese Abart vererbte sich, erwies sich also als ebenfalls echte Mutation, aber recessiv, das heißt verdeckt. Auch hatte die Nachzucht, die im Freien gefangene Abart des Mühlhäuser Heimatmuseums im Gefolge. Die total schwarze, neue ferenigra hat in der entomologischen Wissenschaft den Namen „Agila ferenigra extrema R.“ (Abb.3) und die total schwarze Stammform den Namen Agila tau extrema R. erhalten. Einen solchen Erbgang: ein rotes Elterntier Ag. Tau mit einen total geschwärzten Elterntier Ag. Ferenigra und ihre drei folgenden Generationen stellen das Lehrmittel im Eichsfelder Heimatmuseum dar, an welchem man sofort ersehen kann, wie sich der unabhängige Faktor Melanismus schon in der zweiten Generation zu 25% rein herausspaltet. Die Heterozygoten (ungleicherbigen) sind bei diesem Erbgang alle ferenigra – jedoch kann der Melanismus in diesem Erbgang die Form Agila tau extrema hervorbringen.

Agila tau mit der total schwarzen Stammform Agila tau extrema gestalten. Hier wären alle Hererozygoten rote Stammformen und nur total schwarze Stammform Agila tau extrema würde in der zweiten Generation zu 25% sich wieder rein herausspalten. Die Form Agila ferenigra würde in diesem Erbgang ganz verschwinden, also ausgeschaltet sein, ein Beweis, dass Nigrismus und Melanismus zwei voneinander absolut unabhängige Faktoren sind, nicht nur im Wesen, sondern auch in der Vererbung. In den nächsten Jahren hoffe ich, dem Heimatmuseum auch diesen Erbgang als weiteres Lehrmittel widmen zu können.[2]

Die Auslösungsursache des Melanismus bei Schmetterlingen ist umstritten und ebenfalls noch nicht einwandfrei festgestellt.


Lambert Rummel
(Quelle: „Unser Eichsfeld“ – Jahrgang 29 (1934), S. 185-190)


Fußnoten

[1] Stammform deshalb, weil von ihr alle übrigen hier besprochenen Formen stammen oder ausgehen

[2] Das Eichfelder Heimatmuseum zu Heiligenstadt erhielt im Juni 1934 von L. Rummel einen Schaukasten mit schönen Beispielen der von ihm gezüchteten Arten des Buchenspinners. Das Museum spricht auch an dieser Stelle dem Stifter seinen Besten Dank aus.