Aus welchen Gründen wurden wir Schüler in Bischofstein (1989)

Internatsschulen nach Art von Bischofstein gibt es heute nur noch wenige im westdeutschen Raum, und auch ihr Überleben ist aus wirtschaftlichen Schwierigkeiten gefährdet. Das ideale Aufwachsen junger Menschen im einfachen Leben der Heimschulen, abseits der Hektik der großen Städte und der Unrast des Alltages erscheint trotz des wirtschaftlichen Wohlstandes unserer Tage immer weniger Eltern erstrebenswert.

Es dürfte interessant sein, die Motive zu ergründen, aus denen unsere Eltern unsere schulische Ausbildung nach Bischofstein verlegten.

Nach der Eröffnung 1908 versandte Dr. Marseille Werbeschreiben, in denen er seine Idee einer „Landschule“ darstellte. Er legte als Referenz eine Liste mit der Anschrift und dem Beruf der Eltern bei. Am höchsten war der Anteil von Kaufleuten mit 29 %, Fabrikanten 16 %, Land- und Forstleuten 11 %, Verwaltungsbeamten 10 % und Offizierskreisen 8 %. Ingenieure stellten 7 %, Mediziner 5 % und Juristen 5 %. Der Rest verteilte sich auf Lehrer, Pfarrer und sonstige Berufsgruppen.

Für die 1920er und 1930er Jahre liegen solche Angaben nicht vor. Die Schule war inzwischen dank ihrer Erfolge und dem Gewicht der führenden Persönlichkeiten so bekannt geworden, dass eine besondere Werbung unterblieb bzw. sich auf die Information von Mund zu Mund beschränkte.

Aus welchen Beweggründen sandten uns unsere Eltern nun nach Bischofstein?

1. Auslanddeutsche Eltern

Auslanddeutsche Eltern wollten ihre Jugend im heimischen Kulturkreis aufwachsen sehen. Da es am Aufenthaltsort im fremden Land meist an deutschen Schulen fehlte, gaben Angehörige des auswärtigen Dienstes, Kaufleute, Ingenieure und Farmer ihre Kinder nach der im Elternhaus verbrachten Grundschulzeit in Landschulheime in der Heimat, in denen sie sicher waren, dass sie dort neben der schulischen Förderung auch unter erfahrener Aufsicht und Betreuung gut heranwuchsen.

In Bischofstein gab es zwei Schwerpunktgebiete, aus denen unsere ausländischen Mitschüler kamen: die baltischen Staaten und Mittelamerika. Dr. Ripke war besonders in seiner Heimat Estland so bekannt, dass viele deutschstämmige Eltern ihm ihre Söhne anvertrauten. Aus den tropischen Ländern Mittelamerikas, besonders aus Mexiko, besuchten mehrere Generationen unsere Schule. Die meisten von ihnen blieben Bischofstein auch nach dem Abgang später treu verbunden. Kleinere Gruppen waren in fast allen europäischen Staaten beheimatet.

2. Schüler aus ländlichen Gebieten

Schüler aus ländlichen Gebieten in denen der Besuch von Oberschulen schwierig war. Zwar gab es in Mittelstädten dieses Raumes derartige Staatsschulen, die Erfahrungen mit den viele Stunden unterwegs befindlichen „Fahrschülern“ waren aber oft wenig ermutigend. Zu dieser Gruppe gehörten die vielen Landwirtssöhne besonders aus den ostdeutschen Provinzen, darunter auch ein hoher Anteil adliger Mitschüler sowie die Söhne hoher Offiziere und Verwaltungsbeamten, die öfter versetzt wurden.

3. Schüler aus schwierigen Familienverhältnissen

Nicht wenige unserer Kameraden kamen aus zerrütteten Ehen oder aus Familien, in denen ein Partner nach dem Tod des Ehegefährten neue Bindungen eingegangen war. Man wollte die Kinder den dabei aufgetretenen Spannungen entziehen, bis diese wieder abgeklungen waren. Manche unserer Mitschüler haben sehr unter diesen Verhältnissen gelitten zumal dann, wenn sie Post erhielten, in der beide Eltern ihre Version darlegten.

4. Schulische Problemfälle

Nicht wenige unserer Mitschüler erschienen in Bischofstein, nachdem sie mit dem Massenbetrieb der Stadtschulen einfach nicht fertig geworden waren. Mancher junge Mensch war überfordert, bei der Fülle neuer Eindrücke, im Kampf um seinen Platz in der „Hackordnung“ vieler Kinder, und im schnellen Vorüberrauschen des gebotenen Wissensstoffes, die nötige Konzentration aufzubringen. Spätentwickler, die auch daheim keine Hilfe fanden, resignierten bald und erreichten das „Ziel der Klasse“ nicht.

In Bischofstein fanden sie kleine Klassen vor, in denen sich meist junge Lehrer mit viel pädagogischem Idealismus und einer wahren Engelsgeduld um ihre Pflegebefohlenen mühten. Es gab aber auch einige ausgesprochen Unbegabte und notorische „Stinkfaule“, bei denen alle Hilfen umsonst waren. Sie wanderten nach einem oder zwei Jahren weiter, um es – meist auch vergeblich – auf einer „Presse“ erneut zu versuchen. Es gab sogar einen 24-Jährigen, der gemäß Vaters unerbittlicher Order schließlich doch noch das „Einjährige“ schaffte. Eine sehr kurze Gastrolle gab Konstantin, dessen Erzeuger, griechischer Großkaufmann in Hamburg, Bischofstein mit einem psychiatrischen Institut verwechselte.

In diese Gruppe gehörten auch die „bösen Buben“, die wegen „Disziplinlosigkeit“ und „Störung des Unterrichtes“ ihre Schule hatten verlassen müssen. Mit manchmal tollen Aktionen, die das Maß von Schülerstreichen weit überschritten, hatten sie im jugendlichen Übermut ihre Lehrer bis aufs Blut gereizt und waren „geflogen“. Meist stand dahinter weniger Bösartigkeit, als die Absicht, ihren Mitschülern zu imponieren. In Bischofstein versuchten sie dies anfangs auch, mussten aber bald feststellen, dass hier ein anderes Klima herrschte. Lehrer, mit denen man am Tisch zusammen aß, den Großteil der Freizeit teilte und beim Sport und auf Wanderfahrten menschlich verbunden war, zu drangsalieren, galt als höchst unfair. Es gab andere Gelegenheiten sich hervorzutun – etwa beim Sport, beim Werkeln, beim Theaterspielen oder als „Schüler vom Wochendienst“. Für den Schutz der kleineren und schwächeren sorgten schon die älteren Mitschüler. Und schließlich standen diese Burschen unter dem wachen Blick und der gütigen Menschenführung der alles überragenden Persönlichkeit Ripkes.

5. Die Externen

Die „Externen“, die aus der näheren Umgebung kamen, ohne im Internat untergebracht zu sein, bildeten nur eine kleine Gruppe. Ob sie nun aus dem Forsthaus, aus Lengenfeld, Großbartloff oder anderen Orten des Eichsfeldes kamen und dabei teilweise weite Wege zurücklegten, wurden sie alle in Schule und Sport voll integriert. Fast alle waren beispielhaft fleißig und ehrgeizig. Der Vorbehalt, den manche aus der Großstadt kommende Schüler gegenüber „Dörflern“ hatten, galt für diese echten Kameraden nicht.

Leider war die sonst ideale Schulform der Internatsgemeinschaft für die Eltern mit nicht unerheblichen finanziellen Belastungen verbunden. Nicht wenige Eltern schränkten sich ein, um ihren Kindern den Besuch einer solchen Schule zu ermöglichen. Dennoch beschränkte sich die Schülerschaft nicht auf die Kinder vermögender Gesellschaftskreise. Außerdem nahmen Ripkes manche ihrer Schüler (mehr als bekannt) fast ohne Entgelt auf, wenn besondere Anlässe vorlagen. Damit verhalfen sie manchem jungen Menschen zu einem späteren erfolgreichen Lebensweg.

(Quelle: „Bischofsteiner Rundschreiben“, Weihnachten 1989, S. 11-12)