Aus der "Isenbahnziet"

Im Februar des Jahres 1875 begann mit dem Bau der Bahnstrecke Leinefelde – Eschwege. Am 15. Mai 1880 wurde sie zum ersten Male befahren und dem Verkehr übergeben. Die Bauzeit, welche also gut fünf Jahre dauerte, lebte noch lange fort in der Erinnerung der alten Leute. Bei ihren Erzählungen sprachen sie besonders gern von der „Isenbahnziet“.

Versetzen wir uns im Geist in jene Zeit, da in unsere ruhigen und bis dahin von aller Welt abgeschlossenen Dörfer des Obereichsfeldes und des Friedatales große Kolonnen fremdländischer Arbeiter, besonders Italiener, einzogen, die nun hier fünf Jahre lebten und werkten! Dass unsere Bewohner dabei allerlei Episoden erlebten, die sie für ihr ganzes Leben in Erinnerung behielten, ist begreiflich. Es war ein Umsturz ihres vorhergegangenen ruhigen Lebens. – Auch die Einwohner fanden in dieser Eisenbahnzeit besser bezahlte Arbeit.

Besonders gut verdienten die Bauern und Gespannhalter, die für ein Pferdegespann täglich 17 Mark erhielten. Der Bau in dieser Zeit ist buchstäblich nur mit Hacke und Schippe ausgeführt worden. Alle Erd- und Steinbewegungen sowie alle Materialanfuhren mussten mit Pferde- und Ochsengespannen bewältigt werden. Den Bewohnern boten sich allgemein große wirtschaftliche Vorteile. Die bisher bestehenden Geschäfte konnten die Herbeischaffung von Lebensmitteln allein nicht mehr bewältigen, und so wurden viele neue Geschäfte, auch Fleischereien eröffnet.

Längs der abgesteckten Strecke wurden für die fremdländischen Arbeiter in der Nähe ihrer Arbeitsplätze Kantinen errichtet. In ihnen ging es stets äußerst lebhaft zu. Streitigkeiten mit Schlägereien und Blutvergießen verbunden, gehörten zur Tagesordnung. So hatte auch die Gendarmerie ihr volles Maß Arbeit mitbekommen.

Doch auch Unfälle blieben nicht aus. Im Schwebdaer Tunnel waren einmal die Arbeiter und Gespanne durch Deckenbruch eingeschlossen, aber dann doch alle, Mensch wie Vieh, wieder lebend befreit worden. In Lengenfeld unterm Stein wurde im Hotel Grundmann durch leichtsinniges Hantieren mit Dynamit-Sprengpatronen ein Mensch getötet. Desgleichen erzählt der Volksmund, dass an der Strecke zwischen Lengenfeld und Geismar ein Italiener von einem Landsmann erstochen und irgendwo heimlich verscharrt worden sei.

Doch nun zum Bahnbau selbst. Auf der 46 km langen Strecke von Leinefelde bis Eschwege mussten große landschaftliche Schwierigkeiten überwunden werden. Fünf Berge wurden durch sechs Tunnel durchbrochen. Dazu kam noch eine Höhendifferenz von 264 m. Der Bahnhof Küllstedt als höchster Punkt der Strecke liegt 425 m über dem Meeresspiegel. Desgleichen bildete auch die Überbrückung des oberen Friedatales bei Lengenfeld unterm Stein eine Hauptschwierigkeit. Dreimal steckten die Ingenieure die Strecke bis vor Faulungen ab. Um aber die bekannte große U-Schleife nicht noch mehr zu verlängern, entschlossen sie sich doch zum Brückenbau über Lengenfeld unterm Stein. Die Häuser, welche dem Brückenbau im Wege standen, wurden abgerissen; einige davon an anderen Stellen wieder aufgebaut.

Als die Bahn 1880 in Betrieb genommen wurde, waren nur die vollen Bahnhöfe mit Güterverkehr (Dingelstädt, Küllstedt und Geismar) vorhanden. Die jetzt außerdem bestehenden Haltestellen wurden alle später angelegt. So erhielt Lengenfeld unterm Stein seine erste Haltestelle gleich am Ende der Brücke 1886. Der heutige Vollbahnhof wurde dann 1908 etwa 400 m westlich angelegt. Für Effelder und Großbartloff war zuerst eine gemeinschaftliche Haltestelle am Rottenbach geplant, schließlich aber erhielt jede Gemeinde eine eigene.

Das Tor zur Welt war aufgetan mit Inbetriebnahme der Bahn. Die Folge war: Hinaus mit Reff und Arbeitsdrang. Man brauchte nun nicht mehr, wenn man mit der Bahn fahren musste, nach Leinefelde oder gar wie die Mädchen, welche ins Magdeburgische zum Rübenroden oder Spargelstechen wollten, bis Nordhausen zu laufen. Außerdem erschloss die Bahn auch eine Fülle natürlicher und landschaftlicher Schönheiten der Eichsfelder Höhe und des Südeichsfeldes, das bis dahin im Vaterland völlig unbekannt bzw. als arme und kalte Gegend verschrien war. Wie hat sich das in den Jahren geändert. Heute finden allein Im FDGB-Heim Bischofstein jährlich weit über 1000 Werktätige Entspannung und Erholung.

Die Bahn ist seinerzeit nicht etwa aus Fürsorge, um der wirtschaftlichen Notlage entgegenzuwirken und zur Erschließung des Verkehrs für die Anwohner erbaut worden, sondern sollte der Entlastung der Berlin-Koblenzer Bahn dienen, besondere im Kriegsfalle. Sie erhielt daher von den alten Leuten den Namen „Kanonenbahn“. Dieser Name erhielt seine Berechtigung im ersten Weltkriege, wo täglich die Militärtransportzüge hier rollten. Die Baukosten der Bahn betrugen 17 Millionen Mark und der Volksmund wollte sogar wissen, diese wären von den Kriegskosten bezahlt worden, die Frankreich 1871 an Deutschland gezahlt habe. Im Versailler Friedensvertrag kam die rächende Vergeltung. Die Bahn wurde zur Eingleisigkeit verurteilt.

Und dann kam der größte Schlag. Durch die Errichtung der widersinnigen Demarkationslinie mitten durch Deutschland wurde ihr der Lebensnerv genommen. Geismar ist heute Endstation, und ihre Aufgabe, die Verbindung zwischen West und Ost, kann sie nicht mehr erfüllen. Der Wunsch aller Einwohner der an der Strecke liegenden Ortschaften ist es, dass die Bahn bald wieder in einem vereinten Vaterlande dem Frieden und dem Aufbau dienen möge.

Autor: L. R. L.
(Quelle: „Eichsfelder Heimatborn“, Ausgabe vom 05.03.1955)