Ansprache von Papst Benedikt XVI. bei der Marianischen Vesper an der Wallfahrtskapelle in Etzelsbach am 23. September 2011

Liebe Brüder und Schwestern!

Nun geht mein Wunsch in Erfüllung, das Eichsfeld zu besuchen und hier in Etzelsbach mit euch zusammen Maria zu danken. „Hier im trauten stillen Tal“, wie es in einem Wallfahrtslied heißt, und „unter den alten Linden“ schenkt uns Maria Geborgenheit und neue Kraft. In zwei gottlosen Diktaturen, die es darauf anlegten, den Menschen ihren angestammten Glauben zu nehmen, waren sich die Eichsfelder gewiss, hier am Gnadenort Etzelsbach eine offene Tür und eine Stätte inneren Friedens zu finden. Die besondere Freundschaft zu Maria, die daraus gewachsen ist, wollen wir – auch mit der heutigen Marienvesper – weiter pflegen.

Wenn sich Christen zu allen Zeiten und an allen Orten an Maria wenden, dann lassen sie sich dabei von der spontanen Gewissheit leiten, dass Jesus seiner Mutter ihre Bitten nicht abschlagen kann; und sie stützen sich auf das unerschütterliche Vertrauen, dass Maria zugleich auch unsere Mutter ist – eine Mutter, die das größte aller Leiden erfahren hat, alle unsere Nöte mitempfindet und mütterlich auf ihre Überwindung sinnt. Wie viele Menschen sind Jahrhunderte hindurch zu Maria gepilgert, um vor dem Bild der Schmerzensreichen – wie hier in Etzelsbach – Trost und Stärkung zu finden!

Schauen wir ihr Bildnis an! Eine Frau mittleren Alters mit schweren Augenlidern vom vielen Weinen, den Blick zugleich versonnen in die Ferne gerichtet, als bewegte sie alles, was geschehen war, in ihrem Herzen. Auf ihrem Schoß liegt der Leichnam ihres Sohnes, sie fasst ihn behutsam und liebevoll, wie eine kostbare Gabe. Wir sehen die Spuren der Kreuzigung auf seinem entblößten Leib. Der linke Arm des Toten weist senkrecht nach unten. Vielleicht war die Skulptur der Pietà, wie oft üblich, ursprünglich über einem Altar aufgestellt. Der Gekreuzigte weist so mit seinem ausgestreckten Arm auf das Geschehen auf dem Altar hin, wo das heilige Opfer, das er vollbracht hat, in der Eucharistie vergegenwärtigt wird.

Eine Besonderheit des Gnadenbilds von Etzelsbach ist die Lage des Gekreuzigten. Bei den meisten Pietà- Darstellungen liegt der tote Jesus mit dem Kopf nach links. Der Betrachter kann so die Seitenwunde des Gekreuzigten sehen. Hier in Etzelsbach jedoch ist die Seitenwunde verdeckt, weil der Leichnam gerade nach der anderen Seite ausgerichtet ist. Mir scheint, dass sich in dieser Darstellung eine tiefe Bedeutung verbirgt, die sich erst in ruhiger Betrachtung erschließt: Im Etzelsbacher Gnadenbild sind die Herzen Jesu und seiner Mutter einander zugewandt; sie kommen einander nahe. Sie tauschen einander ihre Liebe aus. Wir wissen, dass das Herz auch das Organ der feinsten Sensibilität für den anderen wie auch des innigsten Mitgefühls ist. Im Herzen Marias ist Platz für die Liebe, die ihr göttlicher Sohn der Welt schenken will.

Die Marienverehrung konzentriert sich auf die Betrachtung der Beziehung zwischen der Mutter und ihrem göttlichen Sohn. Die Gläubigen fanden immer wieder neue Aspekte und Attribute, die uns dieses Geheimnis besser erschließen könnten, z.B. im Bild des Unbefleckten Herzens Marias als Symbol der tiefen und vorbehaltlosen Einheit der Liebe mit Christus. Nicht die Selbstverwirklichung schafft wahre Entfaltung des Menschen, wie es heute als Leitbild des modernen Lebens propagiert wird, das leicht in einen verfeinerten Egoismus umschlagen kann. Vielmehr ist es die Haltung der Hingabe, die auf das Herz Marias und damit auch auf das Herz des Erlösers ausgerichtet ist.

„Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt, bei denen, die nach seinem ewigen Plan berufen sind“ (Röm 8,28), so haben wir eben in der Lesung gehört. Gott hat bei Maria alles zum Guten geführt, und er hört nicht auf, durch Maria das Gute sich weiter ausbreiten zu lassen in der Welt. Vom Kreuz herab, vom Thron der Gnade und der Erlösung, hat Jesus seine Mutter Maria den Menschen zur Mutter gegeben. Im Moment seiner Aufopferung für die Menschheit macht er Maria gleichsam zur Vermittlerin des Gnadenstroms, der vom Kreuz ausgeht. Unter dem Kreuz wird Maria zur Gefährtin und Beschützerin der Menschen auf ihrem Lebensweg.

„In ihrer mütterlichen Liebe trägt sie Sorge für die Brüder und Schwestern ihres Sohnes, die noch auf der Pilgerschaft sind und in Gefahren und Bedrängnissen weilen, bis sie zur ewigen Heimat gelangen“ (Lumen Gentium, 62). Ja, wir gehen durch Höhen und Tiefen, aber Maria tritt für uns bei ihrem Sohn ein und vermittelt uns die Kraft der göttlichen Liebe.

Unser Vertrauen auf die wirksame Fürsprache der Gottesmutter und unsere Dankbarkeit für die immer wieder erfahrene Hilfe tragen in sich selbst gleichsam den Impuls, über die Bedürfnisse des Augenblicks hinauszudenken. Was will Maria uns eigentlich sagen, wenn sie uns aus der Not errettet? Sie will uns helfen, die Weite und Tiefe unserer christlichen Berufung zu erfassen. Sie will uns in mütterlicher Behutsamkeit verstehen lassen, dass unser ganzes Leben Antwort sein soll auf die erbarmungsreiche Liebe unseres Gottes. Begreife – so scheint sie uns zu sagen –, dass Gott, der die Quelle alles Guten ist und der nie etwas anderes will als dein wahres Glück, das Recht hat, von dir ein Leben zu fordern, das sich rückhaltlos und freudig seinem Willen überantwortet und danach trachtet, dass auch die anderen ein Gleiches tun. „Wo Gott ist, da ist Zukunft“. In der Tat – wo wir Gottes Liebe ganz über unser Leben wirken lassen, dort ist der Himmel offen. Dort ist es möglich, die Gegenwart so zu gestalten, dass sie mehr und mehr der Frohbotschaft unseres Herrn Jesus Christus entspricht. Dort haben die kleinen Dinge des Alltags ihren Sinn, und dort finden die großen Probleme ihre Lösung. Amen

Quelle: Text- und Predigtarchiv des Bistums Erfurt