Ansprache von Jürgen Mahrenholz bei der Friedhofsfeier auf dem Bischofsteiner Friedhof anlässlich der Einweihung einer Gedenktafel für die in beiden Weltkriegen gefallenen Bischofsteiner, am Sonntag, dem 13.09.1992

Liebe Bischofsteiner,

beim Anblick dieses Denkmals für die Gefallenen beider Weltkriege kann ich nur meine eigenen Empfindungen wiedergeben, die ich als Sturmpionier in den beiden letzten Kriegsjahren gesammelt habe, in denen ich an der Front stand: im vorletzten Kriegsjahr im heutigen Moldawien, vordem Sowjetunion, hernach in Serbien, früher Jugoslawien; im letzten Kriegsjahr an der Westfront.

Solche Empfindungen werden bei mir heute wieder wach:


1. Empfindung: Worum drehten sich unsere Gedanken? Ich will es ungeschminkt und nüchtern, wie es war, ohne falsches und verlogenes Pathos aussprechen: Wir dachten an die Heimat, an Haus und Familie, an den heißersehnten Frieden; nur wenige dachten an Sieg. - Manche von uns sind mit einem Fluch auf den Lippen dem Tode entgegengeschritten – z. B. „verfluchter Heldentod“ –, andere mit einem Gebet, wiederum andere mit einem Schrei oder dem Ruf nach der Mutter und viele, sehr viele mit Gleichmut und innerer Qual. Es war für die meisten von uns nicht „süß und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben“, wie uns die oberste Führung einredete.


2. Empfindung: Unsere Kameraden im 2. Weltkrieg sind für eine denkbar schlechte Sache, für eine sinnlose Angelegenheit gefallen. Dabei hatten wir alle sie und wir, die Davongekommenen unser Leben eingesetzt im Glauben an eine gute Sache, bis wir erkannten, dass wir da gar nicht für Deutschlands Größe und Ehre stehen und fallen sollten, sondern um die ehrgeizigen Pläne derer zu verwirklichen, die unseren Wagemut und unseren Opfermut nur als einen Aktivposten unter anderen einsetzen und damit schamlos umgingen, ja ihn missbrauchten. Unter den Generalen, die uns führten, nötigte uns derjenige am meisten Respekt ab, der sich seiner Tränen nicht schämte, als er wieder einmal nach einem Unternehmen die traurige Ernte an Toten und Verwundeten entdeckte, die, wie so oft, der einzige Ertrag war.

Dies führt am heutigen Sonntagmorgen zu der entscheidenden, unerbittlichen Überlegung: Wofür lohnt es sich eigentlich, das Leben einzusetzen? Diese Frage lässt uns heute Morgen nicht los. Und meine jetzt folgenden Überlegungen können lediglich ein kümmerlicher Versuch zur Deutung sein. Daher die


3. Empfindung: Die Gefallenen, die Bombentoten, die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft von 1933 an, insbesondere unsere jüdischen Mitbürger, ferner die auf der Flucht Umgekommenen sind für uns gestorben, damit sich wenigstens bei uns – ein solches Sterben nicht wiederholen möge, wie es sich zurzeit in Ex-Jugoslawien schon wiederholt hat.

Und dies bedeutet, dass wir niemals wieder das eigene Volk in unserer Werteskala an die oberste Stelle setzen und zum Götzen erheben, etwa: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“. Es bedeutet ferner, dass es entscheidend an uns liegt, ob wir uns wieder von der Verachtung anderer Rassen, der Verachtung und Bekämpfung anderer Ideologien und politischen Einstellungen leiten lassen, ob wir uns wieder bestimmen lassen von Hass, Rache, Vergeltung, von nationalistischem Dünkel, Stolz und Hochmut.

Das heißt: Die Gefallenen, auch die Gehenkten vom 20. Juli 1944 und andere Opfer von Krieg und Gewalt, warnen uns vor uns selbst, vor unserer Überheblichkeit, weil am Ende eines solchen Weges wiederum Blut und Tränen, Witwen und Waisen, Krüppel und Verwundete stehen. Sie fordern uns auf, unter allen Umständen

  • Großmut,
  • Verständigung,
  • Aussöhnung
  • Entgegenkommen

an die erste Stelle zu setzen und uns selbst nicht als Nabel der Welt zu verstehen, als letztes absolutes Prinzip, das andere Ansichten nicht gelten lässt, sondern mit Vorurteilen umgibt.

Nur dann, nur dann sind ihre Opfer nicht sinnlos gewesen, die der 31 Bischofsteiner im 1. Weltkriege, die der ca. 180 – 200 Bischofsteiner im 2. Weltkriege, „die ihr Leben ließen“, wie es auf dem Denkstein (für den 2. Weltkrieg) heißt. Mehr nicht! Nicht: „... für ... (dieses oder jenes)“.

Gerade wir Bischofsteiner haben Großzügigkeit und Toleranz nicht nur durch viele Lehrer, insbesondere durch unseren unvergesslichen Dr. Ripke, der hier ruht, gelehrt bekommen, sondern auch vorgelebt bekommen. Sie waren nahezu alle glaubwürdig in ihrem Unterrichten und Handeln, in Theorie und Praxis, in der erstaunlichen und beglückenden Symbiose von Lehren und Tun. Unsere Erzieher, denen wir so viel verdanken, fordern uns heute auf, mit unseren Gefallenen zusammen ihr Andenken zu ehren, indem wir nicht nur eine größere Toleranzbreite entwickeln, sondern darüber hinaus zur Entgiftung der Atmosphäre in Volk und Vaterland, in Gesellschaft und Kirche beitragen.

Das „... für ...“ wurde hier bewusst offengelassen. Welche Weitsicht, welche Toleranz, welche Bescheidung der Sinngebung! Keine penetrante Vollmundigkeit. Bedenken wir doch gleichzeitig, dass nach großen Katastrophen, wozu heutzutage nicht nur kriegerische in Jugoslawien und in den sog. GUS-Staaten zählen, sondern ebenso ökologische, jedermann beweisen wird, dass er natürlich völlig unschuldig war bzw. die anderen auch nicht besser waren – dieser verflixte Infantilismus der Menschheit.

Der berühmte Nobelpreisträger und große jüdische Deutsche Albert Einstein bekannte einmal wörtlich: "Mich erschreckt nicht so sehr die Zerstörungskraft einer Nuklearbombe, sondern mehr die Explosivkraft unseres Herzens zum Bösen."

Darum, angesichts dieses Denkmals auf dem Bischofsteiner Friedhof, wollen wir uns vornehmen, nicht das Trennende zu fördern, sondern voranzutreiben, was dem Frieden in unserer Gesellschaft und unter den Völkern dient. Dies bedenke, lieber Bischofsteiner, nicht um der Vergangenheit willen, sondern um der Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder!

Ehrfurcht vor dem Leben anderer, wie es Albert Schweitzer postulierte, auch des unbequemen und des so anders gearteten Lebens, das wir so oft nicht gelten lassen wollen, damit lasst uns heute einen beherzten Anfang machen und zwar im Erschrecken vor uns selbst und in der Trauer um uns selbst, um diese Explosivkraft unserer Herzen zum Bösen hin.

Die vierte und letzte Empfindung: In das Gefecht unseres stillen und gemeinsamen Trauerns, das über alle Welt geht und das uns mit Palästen und Hütten verbindet, reiht sich auch einer ein, von dem wir es nicht vermuten: Der lebendige Gott. Denn ihm hat auch das Herz brechen wollen, als er-seinen Sohn sterben sah, sogar an einem ehrlosen, am schmachvollen, an einem verfluchten Kreuzesbalken.

Vor ihm aber ist alles ausgebreitet: die Angst und die Tapferkeit der Gefallenen, das viele Unrecht und das unschuldig vergossene Blut, alle treue Pflichterfüllung und alles gute Wollen, unsere Strapazen, die wir Soldaten in aller Welt auf uns genommen, das Hangen und Bangen der Mütter und Frauen.

Der Herr der Geschichte setzt durch sein Kreuz seine Unterschrift unter dieses Denkmal, eine Unterschrift, die mit seinem Blut gesiegelt wurde.

Schließen möchte ich mit dem Gedicht eines Schwerverwundeten im Lazarett, der bald darauf starb:


„1. Welchem Ziele wir sterben?
Nicht dem Vaterland!
Nicht dass die Enkel und Erben
von Neuem Länder erwerben
mit des Hasses grüngift‘gen Schwaden
von neuem die Seele beladen
mit patriotischem Tand.


2. Welchem Glauben wir leben?
Uns ward das Land zu klein;
die in Panzern verbrannt, in Gräben
verschüttet, die nun uns umschweben,
die Toten, hüben und drüben –
was woll‘n sie? Dass wir begrüben
den bewaffneten Wahn,
um endlich, endlich Brüder zu sein.“


Amen.


Quelle: Bischofsteiner Nachlass im Ortsarchiv der Gemeinde Lengenfeld unterm Stein