Ansprache von Dr. Wilhelm Ripke zum 50. Jubiläum der Internatsschule "Schloss Bischofstein" (1958)

Am 23. August 1958 hielt Dr. Ripke, der mit großen Schwierigkeiten von „drüben“ herüber gekommen war in der festlich geschmückten Wanfrieder Turnhalle vor 125 Bischofsteinern diese denkwürdige Rede, die für uns noch heute richtungsweisend erscheint.

„Liebe Bischofsteiner Kameraden, verehrte Gäste und Freunde!

Als wir im August des Jahres 1947 hier in Wanfried zum ersten größeren Bischofsteiner Nachkriegstreffen zusammenkamen, ebenso freundschaftlich, ebenso liebevoll betreut von Scharfenbergs wie heute, da hätte wohl kaum einer von uns gedacht, dass auch nach 11 Jahren immer noch der tiefe Riss durch unsere deutsche Heimaterde klaffen würde, trennend, was durch Ge­schichte und Schicksal zusammengehört, zerreißend, was durch Gemeinsamkeit des Blutes, der Sprache, der Erde, der Land­schaft verbunden ist.

Die Tragik dieses deutschen Verhängnisses tritt mir tagaus tagein bildhaft vor die Seele, wenn ich, an meinem Schreibtisch sit­zend, die Blicke hinausschweifen lasse auf die bewaldete Kuppe des Hülfensberges, jenes ehrwürdigen Wahrzeichens der Eichs­felder Landschaft, das nicht nur in das Tal des Flüsschens hinunterblickt, welches Lengenfeld durchrinnt, sondern auch hin­überlugt nach der Werraniederung und dem lieblichen Städtchen Wanfried, mit dem Bischofstein seit über drei Jahrzehnten durch freundschaftliche Beziehungen zu dem Hause von Scharfenberg verbunden ist.

Aber wenn es Euch, liebe Kameraden, auch diesmal wegen der Teilung der doch im letzten und tiefsten unteilbaren Heimat nicht vergönnt ist, diesen Gedenktag in Bischofstein selbst, in dem vertrauten, durch Alter verwitterten Gemäuer des Schlosses und der anmutigen Landschaft, in die es eingebettet ist, zu verleben, und wenn auch die uns allen erinnerungslieb gewordene Stätte längst ihre Tore als Schule geschlossen hat, und wenn auch die geliebte, unvergessene Frau nicht mehr unter uns weilt, die einst so lebensstark und lebensgläubig, so lebensverbunden und lebenshingegeben uns alle aus der Fülle ihrer reichen Seele beschenkte, so ist doch etwas in uns lebendig geblieben, was alle Schranken und Grenzen der Zonen und Länder und Staaten, ja selbst der Kontinente überwölbt und sich als ein Band der Kameradschaft um uns schlingt.

Der Gewordenheit und Gewesenheit Bischofsteins, das vor 50 Jahren von Dr. Gustav Marseille als Schule gegründet wurde, ist der heutige Tag geweiht. Es entspricht einer schönen althergebrachten Tradition, dass wir dieses Bischofsteiner Fest nicht an dem eigentlichen Tag seiner Gründung- am 18. Januar - sondern am Geburtstag seines Schöpfers feiern; denn wir ehren sein Andenken am würdigsten, indem wir dankbar dem Werk huldigen, das er geschaffen.

Die seltene Gabe, Erzieher der Jugend zu sein, besaß Gustav Marseille nur deshalb, weil ihm nie sein persönliches Führertum wichtig war, sondern nur die Sache, der Bischofstein geweiht war: jugendlichem Menschentum zu dienen. Nicht um Grundsätze und Programme, um Richtungen und Ansichten war es ihm zu tun, sondern im Tiefsten beseelte ihn der Wunsch, die seiner Obhut anvertrauten jungen Menschen das erleben zu lassen, was so stark und ursprünglich in ihm lebendig war: Ehrfurcht vor allem wahrhaft Wirklichen, es sei auch, was es sei, Ehrfurcht vor dem Leben in seiner Mannigfaltigkeit, seiner Farbigkeit und Vielförmigkeit, in seiner nie zu erschöpfenden Tiefe und Fülle. Denn ein Mensch, der wie Gustav Marseille sich zum Wahlspruch seiner Lebensarbeit das schlichte Wort eines deutschen Mannes erwählt hatte, Erziehung sei Hilfe am werdenden Menschen, der war in seinem Innern demütig und wusste, dass von Erziehung nur da die Rede sein kann, wo dem Kinde die Möglichkeit gegeben wird, sein ganzes Menschentum zur Auswirkung zu bringen, wo ihm dazu verholfen wird, den Weg zu seinem inneren Schicksal zu finden, auf dass es in freudiger Bejahung seines eigenen Wesens den Mut finde, sich selbst zu bekennen. Darum ist Erziehung nur möglich durch Freiheit, sonst wäre sie nicht, was sie sein soll: Wagnis; denn auch das Leben selbst ist Wagetat, und die Freiheit ist der ewig glühende Atem der Welt.

Und ich glaube, es ist im Sinne des Begründers von Bischofstein gesprochen, wenn ich sage: jeder Erziehung, welche Wege sie auch gehen möge, welche Ziele sie sich auch setzen mag, liegt das Ergebnis zugrunde, dass Jugend und Alter, Kindheit und Mannestum, Werdendes und Gewordenes, Wachsendes und Gewachsenes, Reifendes und Gereiftes innerlich zusammen­gehören, nicht nur in dem Sinne, dass alles, was wir in unserer frühesten Kindheit eingesogen, bis in unser Alter hinein wirk­sam bleibt und nie verschwindet, sondern auch noch in einer tieferen Bedeutung: wie nämlich zum Kindsein auch der Wunsch gehört, nicht mehr Kind zu bleiben, und die Jugend nicht nur freudige Hingabe an das Glück des Augenblicks ist, sondern ebenso sehr Ungeduld, zur Reife zu gelangen, so heißt reif sein nichts anderes, als sein Inneres öffnen den wiedergewonnenen und doch nie verlorenen Schätzen der Kindlichkeit, wieder eingehend in den nie versiegenden urhaften Daseinsstrom, der uns einst durchflutet hat. Denn alles Leben ist Rückgriff in Vergangenes und zugleich Vorgriff in Künftiges.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass das gegenwärtige Zeitalter nicht nur für uns, sondern auch für die heranwachsende Generation differenzierter und komplizierter geworden ist als die Jahrzehnte, auf die wir in unserer Erinnerung zurück­schauen. Man liest und hört viel von der Fragwürdigkeit, ja der Ausweglosigkeit des Daseins inmitten einer mürbe und brüchig gewordenen Zivilisation; von Lebensangst und Existenzangst, von der inneren Heimatlosigkeit, der Unbehaustheit, ja der Selbstentfremdung einer geistig entwurzelten Menschheit, von dem entseelenden Räderwerk der Mechanisierung und Technisierung, vom schwindenden Einfluss des Elternhauses auf die Kinder in Folge der Überforderung und beruflichen Beanspruchung des Vaters, ja oft auch der Mutter von der Reizüberflutung der Jugend durch die unaufhörlich auf ihr emp­fängliches Gemüt einstürzenden vielfältigen Eindrücke und Erlebnisse. Die Klagen über diese und ähnliche Erscheinungen, von denen die Gegenwart begleitet ist, wollen nicht verstummen: aber ich glaube kaum, dass die Welt schon jemals gebessert oder verändert worden ist von den Klagenden und Anklagenden und erst recht nicht von den Aufgebenden, Verzagenden, Hoffnungslosen, Verzweifelnden, wohl aber von den Mutigen, Bejahenden, die mit dem Schicksal verschmelzen zu einem tapferen Geschlecht, das getragen ist von dem Willen, auch der harten Wirklichkeit zu dienen und das Leben zu meistern. In diesem Sinne bekenne ich mich zu der Jugend, die hell und wach, aufgeschlossen und ohne Illusionen, klug und klar, wis­send und sehend sich dem Leben öffnet, um von ihm zu lernen.

Was wir, die Reiferen an Jahren und Erfahrungen, da hinzutun können, ist Liebe und Vertrauen, Gelassenheit und vor allem Freude; denn sie ist die einzige Vollkommenheit auf Erden. Wo Freude erblüht, da ist auch Weisheit, da ist auch wahrhaft menschliche Güte.

Wir, die wir irgendwie in das Schicksal Bischofsteins verflochten sind, haben uns hier versammelt, um in der Erinnerung das nachzuerleben, was Bischofstein uns gewesen ist und gegeben hat. Für mich, den an des Lebens Ausgangstor Stehenden, ist diese Stunde zugleich wohl ein Abschied, der aber bei aller Wehmut geläutert und verklärt wird durch die Freude und die Beglückung, dass es mir noch einmal vergönnt gewesen ist, diesen Tag in Eurer Mitte zu verleben.

Diesem für mich so ergreifenden Bekenntnis Eurer Treue zu Bischofstein sei die schimmernde Lebensglut in meinem Glase dankbar dargebracht.“

Dr. Wilhelm Ripke
(Quelle: „Bischofsteiner Rundschreiben“, Weihnachten 1992, S. 13-14)