Als im Eichsfeld Eisenbahn und Auto noch etwas Besonderes waren

Direkt am Fuße des Obereichsfelder Domes, von wo der Blick über den Westerwald zum Hülfensberg und den in blauer Ferne aufragenden Hohen Meissner geht, lagen Schule und Dorflehrerwohnung, wo ich Mitte der 20er geboren wurde. 4 Jahre alt, kannte meine Aufregung keine Grenzen, wenn es mit der Eisenbahn in das Unstrutstädtchen Dingelstädt zu meiner Großmutter ging. Die tief unten im Tal gelegene Bahnstation Effelder unterschied und unterscheidet sich kaum von einer klassischen Western-Bahnstation: klein, flaches Dach, beengter Schalter- und Warteraum. Hielt der Zug, beförderte der Stationsvorsteher höchst eigenhändig Stückgut auf einer Schubkarre zum Gepäckwagen. Alles glich einer Spielzeugeisenbahn und war deshalb so liebenswert. Auch der Begriff Kanonenbahn schreckte nicht, denn lang’ war es her, dass nach dem 1870er Krieg und aufgrund französischer Reparationszahlungen die Strecke gelegt werden konnte. Im Kriegsfall sollte sie schnellere Truppenverschiebungen zwischen Königsberg und Koblenz ermöglichen. Der vom Werratal bis zum Dun geführte romantische Streckenabschnitt prägte sich mir bleibend ein. „Schullehrers“, wie Vater und Mutter genannt wurden, fuhren 4. Klasse. Das war das Abteil, in dem Reisende mit Traglasten wie Heuschrecken einfielen. Im Waggon waren die Sitzbänke, Kiepen und Spankörbe zuhauf, als reiste die gesamte dörfliche Vielfalt mit. Natürlich wurden auch Ziegen und Federvieh, letzteres in Verschlagen, transportiert. Meckern und Gackern übertönten die rhythmischen Schienenstöße. Frauen, wie Kaffeemützen rund und zumeist in dunkler Kleidung, schauten mit Wohlgefallen auf ihr lebendes und totes Inventar. An Weihnachten waren es häufig Gänse, denen die Eisenbahnfahrt eine verlängerte Lebensfrist gönnte.

Aufregung gab es jedes Mal, wenn das zischende Ungetüm von Dampflokomotive gleich hinter Effelder in undurchdringlichen Dampf gehüllt, im dunklen Schlund des Tunnels verschwand und die angekoppelten Wagen wie Raupenglieder nachzog. Im plötzlichen Dunkel flackerte das blasse Licht blaugrüner Glühstrümpfe auf, das dem der Straßen-Gaslaternen nicht unähnlich war. Das Rumpeln und Stoßen des Zuges hallte wie Donnergrollen von den U-förmig eingewölbten Tunnelwänden wider. War die Bahn aus dem einen Tunnel heraus, gähnte bereits der dunkle Schlund des nächsten. Voller Herzklopfen harrte ich des längsten über 1 km langen vor der Küllstedter Bahnstation. Mit schrillem Pfiff verschwanden Lokomotive, Tender und Waggons urplötzlich in der Nacht des Berges. Rauch kroch in die Abteile und drang stickig in Nasen und Lungen. Vor Kefferhaussen wurde es sensationell, wenn die als abschätzig apostrophierte Bimmelbahn über die Große Unstrutbrücke ratterte. Für mich war sie unheimlich hoch und wolkennah. Jedes Mal stockte mir beim Darüberfahren der Atem, wenn sich tief unten bindfadendünn die junge Unstrut hinschlängelte. Ich blickte auf Dingelstädt und die nahe Franziskanerkirche auf dem Kerbschen Berg. Kurz hinter der Brücke hielt der Zug. Kefferhausen. Das Stationsschild war und ist noch immer fast so groß wie die Station selbst. Vom Brückenhöhenrausch ganz benommen, rief mich das Rucken des anfahrenden Zuges in die Wirklichkeit zurück. Viel später, leidenschaftlicher Segelflieger geworden, erinnerte ich mich gern der „Großen Brücke“, wenn ich meine Kreise im Blau oder unter den Wolken zog.

Am 400 m hoch gelegenen Dingelstädter Bahnhof angekommen, ging es im Sauseschritt in die für mich Dorfkind „große“ Stadt hinunter. Selbst von der „Eichsfelder Höhe“, der Vater „in der tief gelegenen Brehme“ beheimatet, wo die Menschen ihre Kiepen schwer bergan trugen und dabei schon mal das „wenn doch de leiwe Chott mant käme“ beschworen, war Mutters gaslampenbeleuchtetes Dingelstädt fast schon Großstadt. Dort balancierten die Stadtfrauen ihre Kuchenbleche auf den Köpfen ins „Backs“. In der Wilhelmstraße gab es unheimlich viele Schaufenster mit schönen Dingen, und sonntags „zeigte man sich“ in der Kirche, links die Frauen, rechts die Männer. „Hoffahrt“, befand meine Großmutter.

Für halbwegs Betuchte war freilich das „Automobil“ das Endziel aller Wünsche. Ich erinnere mich noch des Jahres 1929. Selten nur knatterte eine Benzinkutsche die Lindenstraße entlang. Auf den Trittbrettern zu beiden Seiten waren „Pannenräder“ aufgeschnallt. Die Gänge betätigte der Chauffeur mittels außenbords angebrachter „Kulissenschaltung“. Ging der Motor aus, wurde er mit einer Kurbel und ruckartigen Drehbewegungen wieder angeworfen. Dabei musste der Automobilist höllisch aufpassen, dass ihm bei Rückschlag die Kompression nicht den Unterarm verletzte. In der Tat, zum Autofahren brauchte man Mut und Geld. Für mich waren Autos puffende Ungeheuer. Eins behielt ich wegen seiner außergewöhnlichen Form in Erinnerung. Es hatte einen spitz zulaufenden Kühler und wurde deshalb auch „Spitzkühler“ genannt.

Schwarz, 6-sitzig offen, nutzte es ein Gastwirt, um Logiergäste vom Dingelstädter- und Silberhäuser Bahnhof abzuholen bzw. sie dort wieder hinzubringen. Der Wirt bemerkte mein Bestaunen und erklärte: „Das ist ein ‚Benz’“. Ungewollte Werbung, die noch nach 63 Jahren im Ohr ist.

Alle Automobile hatten Probleme, wenn bei Minusgraden das Kühlwasser einzufrieren drohte. Damals war es im Eichsfeld noch bitterkalt. Winter waren richtige Winter und nicht schmuddelige wie heute. Also sah man Chauffeure die Kühler vorsorglich in Decken packen. Bei längerem Abstellen musste das Kühlwasser abgelassen werden. Dann aber trieb es Automobilisten ständig mit Gießkannen um. Sommers fuhr man „ohne Verdeck“, wenn es das Automobil hergab. Die postkutschenähnlichen Lederdächer wurden dafür zurückgeklappt. Goss es in Strömen, zerfloss vor der Frontscheibe die Straße und war nur noch schemenhaft zu erkennen. Erste von Hand zu betätigende Scheibenwischer schufen nur unzulängliche Abhilfe. Problematisch waren sie allemal. Sportliche Fahrer trugen Lederkappen, wie man sie von den Piloten „in ihren fliegenden Kisten“ kannte. Den Wollschal um den Hals gewunden, die unvermeidliche Schutzbrille vor den Augen, schwoll ihnen die Brust, wenn sie ihre „Miteichsfelder zu Fuß“ staubaufwirbelnd überholten. Immerhin konnten die mehrzylindrigen Autos bereits 80 Stundenkilometer und schneller fahren, und das auf Landwegen, die das Werk von Steinklopfern waren.

Mir hatten es die von Hand zu betätigenden Autohupen mit den aufgesteckten Gummibällen angetan. Drückte man sie, gaben ihre Messinghörner ein unnachahmliches „Tot“ von sich. In Dingelstädt sah ich auch die erste Zapfsäule, die heutigem Umweltschutz zuwider auf einer Unstrutüberbrückung stand. Längst war die Zeit von Frau Benz vorbei, die das erste Automobil fuhr und den dafür benötigten Alkohol in der Apotheke bekam. Mich faszinierte wie an der Unstrut-Tankstelle die Autos betankt wurden. Hoch an einem aufrecht stehenden Kessel waren 2 Glaskolben angebracht, dazwischen ein hin- und herzubewegender Pumpenschwengel mit Holzgriff. Der Tankwart schwenkte ihn solange, bis einer der Glaskolben gefüllt war. Beim Weiterpumpen füllte sich auch der zweite, während das erste über einen Schlauch in den Benzintank des Autos gurgelte, immer nach dem Prinzip: alles fließt nach unten. Auf den Straßen waren Pferdefuhrwerke noch in der Überzahl. Auch bei Dunkelheit waren ihre unter den Wagen schaukelnden Laternen gut auszumachen. Viel seltener tasteten die schwachen Lichtkegel von Autokarbidlampen die Straßen und Wege ab.

Umweltprobleme kannte man nicht. Im Gegenteil, noch war jedes Auto, jeder qualmende Fabrikschlot Ausdruck industriellen Fortschritts. Dafür häufte sich Pferdemist wie selbstverständlich auf den Straßen, für die Gartendüngung quasi frei Haus geliefert. Meine Großmutter freute sich, wenn ich allabendlich vor ihrem Haus „Gefallenes“ ihrem Gärtchenkompost zuführte. Entsorgung war unbekannt. In den Haushalten gab es ohnehin einen natürlichen Kreislauf in der Verwertung von „Organischem“. Auch regte es niemanden auf, wenn ein vorbeifahrendes Auto „blauen Dunst“ ausstieß. Nach Benzin Stinkendes signalisierte neue Wohlhabenheit, selbst wenn der „fahrbare Untersatz“, wie so oft, auf Pump gekauft war.

Eine schöne Zeit? Gewiss ja, weil man das Leben noch vor sich hatte und Gutes aus vergangenen Tagen sowieso in verklärtem Licht sieht.

Wolfgang Trappe
(Quelle: Eichsfelder Heimathefte, 37/1993)