Als die Dorfjungen beim Bischof waren

Es hat mir immer eine besondere Freude gemacht, um die Beerenzeit die ersten Früchte zu pflücken. Wer das will, der muss die Plätze rundum gut auskennen. Bei schon vorgerückter Zeit freilich ist es kein Kunststück, zu einem Sträußel lachender Erdbeeren zu kommen. Da finden sie sich schier an jedem Rain. Aber die ersten haben, dazu gehört schon mehr. An der Winterseite darf man sie nicht suchen. Man muss an die sommerseitigen Waldblößen gehen, wo die glutige Mittagssonne gut hin kann. Eine solche Stelle kannte ich in meinen Kinderjahren. Jahr um Jahr hütete ich das Geheimnis meines Erdbeerendorados und brachte jedes Jahr das erste Sträußel Beeren heim, wenn sie anderwärts, an weniger günstigen Stellen, erst im Verblühen waren. Das hätte ich nun auch weiter so gehalten, wenn nicht besondere Umstände mich gezwungen hätten, mein Geheimnis dranzugeben. Der Weg zu jener sommerseitigen Waldblöße führte an einer schon mehr wie mannshoch gewachsenen Tannenpflanzung vorbei.

Da sah ich eines Tages ein zerlumptes Stromergewand zwischen den Tannen liegen. Wo in solchen Tannenpflanzungen Stromergewandungen liegen, da liegen auch Stromer, die die Gewandung am Leibe trugen, und wenn sie dagegen, so konnte es ebenso gut sein, dass sie noch drin waren, oder, sofern das nicht, wiederkommen könnten. - Da habt ihr mal wieder den Beweis, dass Dorfjungen richtig folgern können. Am Sonntagnachmittag nach dem Segen kam der Scheerenveit, einen derben Runks Bratpfannenkuchen auf der Faust, zu uns herüber, um mich abzurufen - "Wo es denn hin sollte für heute", fragte Mutter. "Mal sehen", sagte der Scheerenveit und kaute seinen Bratenpfannenkuchen. "Aber nicht etwän die Frucht verlatschen, oder fischen, oder baden gehn, das Wasser ist noch nicht reif!" "Reif - das Wasser", kicherte der Scherenveit. "Ja freilich reif", erwiderte ihm Mutter - "jed Ding hat seine Zeit. Vor Johanni ist's Wasser nit reif - das merkt euch, - Grünschnäbel." "Vielleicht aber, daß d' Erbeln (Erdbeeren)nun reif wären", warf der Scheerenveit die Frage auf. "Das könnt schon eher sein", meinte Mutter. - "Danach könnte man schauen", der Veit. "Dann ziehst den besten Faden aus", wandte sich Mutter an mich - "ins Beerensuchen ist die Strapazierhosen lange gut."

Also zog ich den besten Faden aus und schlüpfte in die Strapazierhosen. Als wir auf die Gasse traten, stand da der Seilerjochem und bemühte sich, mittels einer Steinschleuder die Schwalben vom Kirchturm tot herabfallen zu lassen. Klappernd rasselten die Steine an den Dachschieber und da solches, wie wir aus Erfahrung wussten, immer ein unangenehmes Nachspiel hatte, so entzogen wir den Seilerjochem seiner nächsten Gelegenheit, indem wir ihn mitnahmen in die Erbeln. Am Rieselbach schickte sich grade der Fliederselm an, einen "Tümpel" zu bauen. Solches ging als Werkeltagsunterhaltung wohl an - aber pfui Deixel - sonntags so was. Also redeten wir ihm ab und zogen als Glückskleeblatt hinaus in die lachende Sonntagssonne. "Alles gut und schön", warf der altkluge Scheerenveit, der überhaupt kein Dummkopf war, unterwegs die Frage auf, - "wo aber hätten wir die Erbeln zu suchen? - Grüne Erbeln könnten uns noch mehr schaden, als grünes Wasser. Da täten wir besser baden gehen". Dem redeten wir andern ab. Trotzdem ging der Veit den Tag noch baden, wenn auch nicht in voller Zustimmung des Willens.

Noch hütete ich mein Geheimnis der Erdbeerplantage in der Waldblöße. Aber einen sonderlichen Gewinn versprach ich mir nun in Anbetracht der Strolchgewandungen im Tannendickicht nicht mehr. - "Einen Plan wüsst ich, wo sie gut sein mögen, die Erbeln", sagte ich. "Ja , wo wär denn das", der Veit. "Drüben in der Burgwaldblöße", darauf ich. "Ja, dann hin in die Blöße", der Veit. "Ja, im Tann sitzen Stromer", ich. Darauf der Veit: "Stromer! Eh, die mach' ich zu Marmelade." Weil der Veit so mutvoll war, so bekam ich selbsten auch Mut und wir machten uns auf den Weg zu Gottweißwas. Das erste war, dass, als der Veit mit kühnem Sprung über den Fließbach setzen wollte, er die Distanz zu kurz gemessen hatte und klatschend ins Wasser schlug. Weil er aber alsbald merkte, dass das Wasser nicht "reif" war, so blieb er nicht lange darin, sondern krabbelte am jenseitigen Ufer ziemlich ungestümlich ans Trockene. Wir zogen es vor, an einer etwas unterhalb bei den Weiden gelegenen Stegbrücke den Übergang zu bewerkstelligen. Der Veit schalt uns darob ein feines Lumpengesindel, womit es ihn nicht gelüste, Strolche zu Marmelade zu verarbeiten. Er kehrte uns verächtlich den Rücken, auf dem ein graues Schlammpflasterbild nistete und schlich dem Dorfe zu. Dem war der Sonntag aus; aber er hatte dabei wenigstens gebadet.

Wir aber waren nun kein vierblättriges Glücksblatt mehr, sondern nur noch ein ganz gewöhnliches dreiblättriges Kleeblatt. "Drei ist verflixtig auch keine Glückszahl. Da ist uns nun am End der ganze Spaß hin", meinte der Seilerjochem. "Ja, mit den Strolchen und den Erbeln", bestätigte ich. Ganz innerlich war mir die Wendung unseres Geschickes doch nicht ganz ungenehmlich. Nach Stromermarmelade gelüstete mich überhaupt nicht absonderlich. "Nachher besinnen wir uns auf anderes", ratschlagte der Fliederselm. - Und wie wir nun für eine Weile still waren und auf das eine oder andere sannen, hörten wir deutlich, wie sich vom Westen her Glockentöne herüber trugen. "Da hätten sie späten Nachmittagssegen", sagte ich. "Das ist vom Hülfensberg. Da oben ist der Bischof auf Besuch", wusste der Fliederselm. "Wenn wir den sehen könnten, den Bischof", meinte der Jochem. Ich sah auf meine Strapazierhosen. Das war doch nicht die rechte Bischofsaudienzgewandung. Der Jochem schien meine Bedenken zu erraten. "Bischöfe sind ehedem auch Dorfjungen gewesen. Weißt nichts von Bischof Konrad Martin? - Nicht!? Der hat's Predigen auf den Apfelbäumen gelernt; dass er dabei nicht's beste Fronleichnam angehabt hat, magst dir denken."

Da waren meine Bedenken hin und in gelindem Dauerlaufe trabten wir den Wiesenzustreckeweg dahin, um dem Bischof auf dem Hülfensberge einen Besuch abzustatten. Es war spät nachmittags, als wir oben auf dem heiligen Berge ankamen. Ein wenig beklommen war uns denn doch zu Mute, als wir sahen, dass wir allein noch die Waller waren. Wir gingen nun zu der an der Südseite stehenden Bank und freuten uns der feinen Ausschau ins Werratal. Den größten Eindruck machte der majestätische Fluss selbst auf uns. Noch nie im Leben hatten wir soviel Wasser beieinander gesehen. Während wir so dieses erhabene Wunder bestaunten, hörten wir auf einmal leichten Schritt hinter uns. Als wir uns umwandten, stand ein braun bekutteter Mönch vor uns und lächelte uns an. "Gelobt sei Jesus Christus!" - "In Ewigkeit, Amen!" Dann fing der Kuttenmann ein Gespräch mit uns an. Wir waren anfangs schämig und gaben nur zögernd Antwort auf seine Fragen. Was er aber auch alles wissen wollte! Ob wir morgens und abends auch recht fein beteten, - ob wir Vatern und Muttern hübsch gehorsam seien; - ob wir beim "Gänsegrasholen" auch in die Kleestücke gingen; - ob wir in die "Ähren" gingen und dabei an den Stapeln "zuppten" - ob wir am End gar an Vaters Pfeiflein gingen und verbotenerweis Tabak schmauchten? O nein! Das alles machten wir nicht - denn wir waren Dorfmusterjungen. Tabakschmauchen! O wie wenig Weltkenntnis hatte dieser Kuttenmann! Wie konnte er so was denken? Wir rauchten doch nur "Wedewingen" (Ich glaube die Gelehrten nennen dieses Zeug Teufelszwirn).

Schließlich hatte er aus uns heraus, dass wir den Bischof sehen wollten. Er sagte uns, wir sollten warten und ging langsamen Schrittes unter den schattigen Linden dem Kloster zu. Auf halben Wege kehrte er jedoch um und winkte uns lächelnd heran. Er hieß uns, an der Ostseite der Wallfahrtskirche vorbei gehen, und ging dann fort. Wir machten die bezeichnete Runde und waren eben bei der mächtigen Linde, da sahen wir uns dem Bischof, der von zwei Patres begleitet war, gegenüber. Nun lag uns das Herz vollends in der Kniekehle. Aber der hohe Herr winkte uns freundlich heran und fragte, wo wir denn her wären. Wir nannten unser Heimatdörfchen. Da sah er uns ein Weilchen gütig lächelnd an und sagte dann: Und, ihr wolltet den Bischof gern einmal sehen? Darauf sagten wir nun gar nichts. Nur verlegen lächelten wir - nach Dorfjungenart. Da ließ uns der Bischof niederknien auf die Erden und machte erst dem Fliederselm, dann dem Jochen und zuletzt mir ein andächtiges Kreuz auf das strubbelige Haupt. Da war uns allen so wohl zu Mute, wie selten im Leben und ich wusste, dass ich das nicht vergessen könnte. Dann entließ uns der Bischof mit der Mahnung, gute Jungen zu bleiben und auch Messdiener zu werden. Das haben wir dem Bischof gehalten, alle drei, das mit den Messdienern - und das andere - wir wissen es nicht so sicher! Gesegnet sind wir im Leben noch mehr geworden, aber so schön und liebreich, wie damals der Weihbischof von Paderborn, Dr. Augustin Gockel, hat es keiner wieder getan. Der Scheerenveit hat von unserer Sache vernommen. Er ist den Tag auch noch, nachdem er gebadet hatte, gesegnet worden - aber nicht vom Bischof und nicht aufs Haupt.

Es ist somit erwiesen, dass "drei" keine Unglückzahl ist.