Als das Unwetter über die Dorfheimat kam
In nachfolgenden Ausführungen soll ein furchtbares Naturereignis geschildert werden, welches am Nachtmittage des 27. Mai 1904 über meine Heimat und die umliegenden Ortschaften hereinbrach. Das damalige Unwetter will ich so dem Leser vor Augen führen, wie ich mich heute, nach 23 Jahren, der Einzelheiten erinnere. Es ist die Schilderung deshalb nicht als etwaiger Chronikauszug anzusehen. Allenfalls sind aber in den damals heimgesuchten Ortschaften Aufzeichnungen vorhanden. Geschehnisse, die mir nicht bekannt sind und mit dem Unglückstage in Berührung stehen, zu berichten, soll denen vorbehalten sein, die anhand von Aufzeichnungen noch weitere Angaben machen können. „Gewitter im Mai – singt der Bauer Juchhei“ – sagt wohl eine Bauernregel – und Mairegen schreckt bekanntlich die Kinder nicht, weil sie der Meinung sind, er sei ihrem Wachstum und Gedeih gleich der Pflanzenwelt förderlich. Aber vor einem solchen Maigewitter, wie das am 27. Mai 1904, möge uns Gott fürderhin alle Zeit bewahren.
Die heimatlichen Fluren gaben zu guten Erntehoffnungen Berechtigung. Wie jedes Jahr, so auch in diesem denkwürdigen, hatte wohl der eichsfeldische Landmann eindringlich gebetet: „Dass du die Früchte der Erde geben und erhalten wollest – wir bitten dich o Herr.“ Aber im weisen, undurchforschlichen Plan der göttlichen Vorsehung war es anders beschlossen. Einige Wochen später konnte mancher mit dem biblischen Job sagen: „Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen“. Und wer den Mut dazu aufbrachte, konnte noch weiter hinzufügen: „Der Herr sei gelobt und gebenedeiet. Amen.“
Mit erdrückender Schwüle zog der denkwürdige Tag herauf. Emsig waren die Anwohner mit dem Bearbeiten der Felder beschäftigt. Allmählich türmten sich über der „Gobert“ dunkle Wolkenballen auf. Aber auch vom „heiligen Grabe“ (Diedorf) und vom „Spreuwinkel“ (nordöstliche Richtung von Lengenfeld) stieg es gewitterhaft auf. Der Vogelsang verstummte und eine unheimliche, bedrückende Ruhe (vor dem Sturm) lagerte über dem Friedatal. In der Ferne rollten ab und zu schwache Donner. Mehr und mehr färbte sich der westliche Horizont schmutziggelb. Inzwischen waren die ersten Stunden des Nachmittags herangekommen. Da erhob sich jäh ein mächtiger Orkan, dichte Licht- und Atem hemmende Staubwirbel vor sich her treibend. Dann brach das (oder die) Gewitter mit zur Unheimlichkeit entfesselter Gewalt los. Blitz auf Blitz folgte, Donner auf Donner. Es war, als wenn die Gebäude in allen Fugen erbebten und das Ende der Welt sei gekommen. In das Weinen der geängstigten Kinder mischte sich das Schluchzen schreckensbleicher Frauen und Greise. Die wenigsten werden es fertig gebracht haben, in diesen furchtbaren Stunden die Ruhe zu bewahren. Menschen und Tiere drückten sich furchtsam aneinander. Mancher Hausvater holte die notwendigen „Papiere“ herbei und legte sie griffbereit.
Alle Familienangehörigen standen fluchtbereit. Zunächst ging ein furchtbarer Platzregen hernieder. Aber bald prasselten ungeheure Mengen taubeneidicken Hagels gegen die Scheiben und brachten sie zum Bersten. In den Gärten flogen Blüten, Blätter und Äste gebrochen zur Erde und bildeten ein unbeschreibliches Chaos. Da trat die schlammige Wellen führende Frieda aus ihren Ufern und setzte die Straßen unter Wasser. Aus dem Blanken- und Effeldertal schossen ebenfalls ungeheure Schlammwassermassen und das Tal glich einem aufgewühlten, reißenden Strom, der Tierleichen, Balken, Bretter, landwirtschaftliche- und Hausgerätschaften im gurgelnden Rachen mit fortführte. Ich war an dem denkwürdigen Tage in der Zigarrenfabrik „auf der Ziegelhütte“ tätig. Die Arbeiter und Arbeiterinnen hatten sich in ein angrenzendes Haus geflüchtet und beteten laut und gemeinschaftlich die Allerheiligenlitanei. Not lehrt beten!
So plötzlich, wie es gekommen, hielt das Hagelwetter auch wieder ein. Das Gewitter zog allmählich in östlicher Richtung ab. Aber noch konnte sich niemand hinaus wagen, denn unablässig schossen noch die schmutzigen Wasser daher. Nur einige beherzte Männer mit langschäftigen Wasserstiefeln suchten hier und da der Gefahr zu begegnen. Erst gegen Abend waren die Straßen wieder passierbar. Aber wo waren nun die blühenden Gärten und Felder? Alles atmete Vernichtung. Am schlimmsten war das Karl Kaufhold’sche Grundstück im Unterdorfe (jetzt dem Bäckermeister Rummel gehörig) mitgenommen, über dessen Hof sich die aus dem Effeldertale stürzenden Wasser einen Weg gebahnt hatten. Das angespülte Geröll hatte den Mustergarten in eine Steinritsche verwandelt.
Es bedürfte noch vieler Zeilen, den Eindruck anschaulich zu schildern, den alles machte. Am nächstfolgenden Sonntag war die große Hülfensbergwallfahrt. Waller, welche in Scharen unseren Ort besichtigten, konnten noch in den Gärten die Hagelstücke sehen. Mancher wird sich noch heute der Tatsache erinnern. Eine Regierungskommission, an deren Spitze der damals amtierende Regierungspräsident v. Fiedler stand, besichtigte das Unwettergebiet. Was von Seiten der Regierung getan wurde, die Schäden zu mildern, ist mir nicht bekannt. So ist das Geschilderte ein Beweis, dass auch der Wonne spendende Mai Gefahren hat. Mögen uns in Zukunft nicht solche, oder noch schlimmere Geschehnisse vorbehalten sein. Alljährlich in den Kreuzwochenbittgängen wollen wir Gott inbrünstig bitten: „Dass du die Früchte der Erde geben und erhalten wollest – wir bitten dich, o Herr.“