Adam Richwien – ein früh Vollendeter (1954)
Wir hatten schon manche seiner gemütvollen Gedichte, Plaudereien und Erzählungen gelesen, als wir uns auf den Weg nach Lengenfeld begaben und Adam Richwien an einem schönen Sommermorgen vor seinem blitzsauberen Häuschen gegenüber saßen. Ein kranker, hagerer Mann mit versonnenem Gesicht und abgeklärtem Herzen, geläutert durch Leid und doch so voll Freude, erzählte aus seinem Leben und pries die schöne Heimat an der jungen Frieda. Lassen wir ihn selbst sprechen.
„Am 25. April 1889 wurde ich zu Lengenfeld als zwölftes und letztes Kind meiner Eltern geboren. Mein Vater gehörte der Zunft der Raschmacher an, auch war er noch ein strebsamer Hausierer. Daneben betrieb er das Wollkämmen. Meine Mutter stammte aus kleinbäuerlichen Verhältnissen. Wie mein Vater mit ganzer Seele Geschäftsmann war, so hing ihr Herz an der Scholle. Nachdem mein Geburtshaus, das wegen seiner örtlichen Lage von den Bewohnern des Dorfes und der Umgebung „Spitze” genannt wurde, in den sogenannten Eisenbahnjahren, d. h. zur Zeit des Baues der Kanonenbahn um 1870, erbaut war, kaufte mein Vater auf Drängen der Mutter einige zusammenhängende Stückchen Land, den „Heilgenbarg“.
Es war das ein rechtes Armeleuteland, aber mit Sorgfalt, Liebe und Gottvertrauen rang Mutter Jahr für Jahr um den Ertrag. Oft genug mag das Stückchen Land dazu beigetragen haben, dass wir alle satt wurden. Uns Kindern war der Heiligenberg eine liebe Stätte. Wir haben dort oben Heimatliebe in uns aufgenommen. Wenn wir hinabschauten ins Tal, hinüber zum Wald und Bischofstein, unsere Augen an den überall auftauchenden schönen Naturbildern haften blieben, da mag uns das Herz aufgegangen sein ob unserer schönen Heimat. Mir ging es so, und heute, wenn meine in der Fremde wohnenden Geschwister hier weilen, unterlassen sie nicht, den lieben Heiligenberg zu besuchen. Er liegt auch so, dass wir von unserem Hause aus nach ihm Ausschau halten können. Und wir tun das oft. Aber auch die übrige Umgebung war dazu angetan, Liebe zur Heimat zu wecken und zu nähren. Der breite, schattige Kirchrasen war der Tummelplatz für unsere frohen Kinderspiele. Alles war dazu wie geschaffen, meine Fantasie anzuregen. Meine Mutter tat ein Übriges und erzählte mir gern von ihrer Jugendzeit Freud und Leid, von Großvater und Großmutter, überhaupt von Land und Leuten der Heimat. Ich glaube, sie hat ihre Heimat auch recht lieb gehabt. Aus diesem Bronnen vermag ich heute noch zu schöpfen.“
Nun berichtete der körperlich schwer leidende Mann, er sei in der Schule als mittelmäßig begabt hingenommen worden, habe in den letzten Jahren aber den ersten Platz errungen. Gern wäre er Maler geworden. Mit Vorliebe habe er nach der Natur gezeichnet. Doch sein Wunsch sei unerfüllt geblieben. Wie so viele junge Eichsfelder sei er in einer Ziegelei gelandet, um Brenner zu werden. Doch schon bald sei er nach überstandenem Rheuma herzleidend geworden. So sei er zur Zigarrenindustrie gekommen. In verschiedenen Fabriken arbeitete er. Als Sechzehnjähriger verfasste er seine ersten Gedichte, die er aber später vernichtete. Als Siebzehnjähriger wurde Richwien mit mehr Erfolg Lokalkorrespondent.
„Um 1910 machte ich mich selbständig. Das Betriebskapital brachten mir die sonntäglichen Taschengelder und der Erlös aus dem Verkauf der „Rauchzigarren“. Das war nun eine Fabrik, in der ich Arbeiter, Werkmeister, kaufmännisches Personal und Chef in einer Person war. Aber es ging nach Überwindung der ersten Schwierigkeiten langsam vorwärts.“
Nach den Kriegsjahren mit all ihrem Elend und den Schwierigkeiten in der Tabakindustrie gab Richwien seinen Betrieb auf. Das war 1920. Er wurde Handelsmann, erkrankte aber im Sommer 1923 schwer an Gelenkrheumatismus. Sein Herzleiden verschlimmerte sich und machte ihn arbeitsunfähig. Zu den körperlichen Beschwerden traten seelische Depressionen, nicht zuletzt die Sorge um die Existenz von Frau und Kindern. Im Sommer 1925 verschlimmerte sich sein Zustand so, dass er sich dem Tode nahe fühlte. Es war gerade am Feste Peter und Paul. Doch es trat noch einmal eine Wendung zum Besseren ein. Die alte Neigung, Verse zu machen, erwachte aufs Neue. „Ich tat es“, bekannte Richwien, „um die trüben Gedanken zu verscheuchen. Schließlich sandte ich einige von den Gedichten ein. Ich wartete lange, vergaß es. Endlich sah ich das erste Gedicht gedruckt vor mir. Ich wurde bettlägerig. Als es besser ging, sandte ich einige Prosasachen ein …“
Der Erfolg ist nicht ausgeblieben. Und Richwien freute sich. Er kannte sich und sein Leiden. „Die überstandene Leidenszeit hatte auch Sonntage”, schrieb er einmal. „Gott, der das Leid gibt, gibt auch die Kraft, es zu tragen. Vielleicht lässt er mich noch ein weniges für meine liebe Heimat tun. Es liegt mir fern zu scheinen, was ich nicht bin. Gleichwohl freut es mich, dass ich hier und da einige Anerkennung für mein Wollen fand . . .“
Andächtig haben wir zugehört. Jetzt verstanden wir ihn ganz. Seine Arbeiten wurden immer wertvoller, doch die Stunde kam, fand ihn bereit. Am Morgen des 26. September 1928 erschienen diese Verse:
Nun ist die letzte Frucht geborgen, —
Die Felder gähnen garbenleer.
Darüber hin an jedem Morgen
Wälzt sich ein graues Nebelmeer.
... Die letzte Frucht – ein hart Erkennen
– So bang in meine Seele steigt:
Noch ungefüllt sind meine Tennen.
– Nehm’ ich den Winter denn so leicht? …
Des Sichelliedes letzte Zeile
Verklang schon längst am fernen Ried.
Nun über eine kleine Weile
Formt sich daraus ein Sterbelied.
... Ein hart Erkennen – o wie bitter
Ist mir des Herbstes letzte Frucht.
Ich bin ein Armer, der der Schnitter
Verwehte karge Ähren sucht.
An diesem Morgen – es sind schon über 25 Jahre vergangen – ging die Meldung ein, der noch nicht vierzigjährige Volks- und Heimatdichter habe ausgelitten. Erschüttert standen wir an seiner Bahre. In seinem spiegelblanken Wohnstübchen lag er auf schneeweißen Kissen, der bescheidene Mann und Lebensphilosoph, bekränzt mit roten Rosen, den letzten Sommerblumen aus seinem geliebten Gärtchen. Frieden strahlte das leblose Antlitz aus. – Als großer Sohn wurde Adam Richwien von der ganzen Gemeinde Lengenfeld und vielen stillen Verehrern aus dem Eichsfelde am 30. September 1928 zu Grabe geleitet. Auf dem Heimwege lasen wir drei Gedichtchen, die er noch am Morgen seines Sterbetages niederschrieb, darunter dieses:
Lass die Schatten, lass den Gram,
Leicht macht er die Schwingen lahm.
Lerchenlied und Finkenschlag
Hörst du nicht am Regentag.
Vogellied liebt Sonnenschein.
So auch kann die düstren Grillen
Und die Sonnensehnsucht stillen
Heitrer Sinn nur ganz allein.
Sieh‘, wie heiter, klar und hell
Rinnt zu Tal der Bergesquell!
Froh, von Trübsal unentweiht,
Trinkt er blaue Seligkeit
Von der Sonne lichtem Schein.
Sieh‘, wie willig Blumen sprießen,
Wie sie froh und heiter grüßen
Her vom grünen Uferrain.
Sieh‘, nicht goldner Sterne Pracht
Blinket in bewölkter Nacht;
Und nicht essigsaurer Wein
Kann des Zechers Herz erfreu‘n
Und nicht Trauersanges Klang.
– Kleine Freuden aufzufinden,
Lasse große Sorgen schwinden,
Und kein Tag wird öd‘ und lang.
Quelle: Eichsfelder Heimatborn, Ausgabe vom 09.04.1954