Abschied von Bischofstein – Vor 30 Jahren verließ Dr. Ripke seine Lebensheimat (1993)

In der zu Weihnachten 1963 erschienenen „Bischofsteiner Chronik“ berichtete Dr. Wilhelm Ripke über den Weggang von Bischofstein und die Gründe, die ihn dazu bewogen hatten, das Schloss, das ihm 44 Jahre lang Heimat und Lebensaufgabe für junge Menschen gewesen war zu verlassen, um in die Bundesrepublik zu übersiedeln.

Das Leben war für ihn zu einer schweren seelischen Belastung »durch ein freudlos und inhaltsarm gewordenes in seiner Bewegungsfreiheit eingekerkertes Dasein« geworden. Ripke litt unter der inneren Vereinsamung und geistigen Isolierung. Es war ihm unmöglich wie früher die Werke der Weltliteratur zu erhalten und am kulturellen Leben außerhalb des örtlichen Raumes teilzunehmen.

Dazu kam die Ausweglosigkeit der wirtschaftlichen Lage. Der größte Teil der Jahrespacht, die er vom FDGB (Gewerkschaft der DDR) erhalten sollte, wurde zur Bestreitung der allernotwendigsten Reparaturen des Schlosses einbehalten. Hierfür opferte er auch die bescheidenen Erlöse durch den Verkauf des Doktorhauses und einiger Baugrundstücke. Hätte er nicht die Unterstützung früherer Schüler durch Lebensmittelpakete gehabt, wäre seine materielle Lage noch trostloser gewesen.

So entschloss er sich, am 15. Dezember 1962 ein Schreiben an die Behörden der DDR zu richten mit dem Gesuch auf Genehmigung der Übersiedlung nach Westdeutschland. Er berief sich dabei auf sein hohes Alter und die Pflegebedürftigkeit, sowie auf die Tatsache, dass sämtliche Blutsverwandten im Westen lebten. Acht Monate dauerte es, bis der zugleich für die treue Frau Mund gestellte Antrag entschieden war und er im Juli 1963 die Genehmigung endlich in der Hand hatte.

Es folgten Wochen bis alle erforderlichen Dokumente, Bescheinigungen und Unbedenklichkeitsbescheide zusammen waren. Mit dem FDGB wurde im August ein erweiterter Pachtvertrag abgeschlossen, der sicherstellte, dass Ripke weiter Eigentümer des Besitzes blieb. Die erhöhte Pachteinnahme ging auf ein Sperrkonto, von dem Ripke nur bei einem Aufenthalt in der DDR kleinere Tagesbeträge abheben konnte.

Am schwierigsten war es für ihn, sich von der geliebten über 2 000 Bände umfassenden Bibliothek zu trennen. Sie war ihm in den schweren Jahren immer eine Insel geistiger Werte gewesen, auf die er sich zurückziehen konnte. Bis auf 200 Bände, die er nicht missen wollte und mit in den Westen nahm, gab er alles an einen Erfurter Antiquar und Buchhändler.

Über die schweren Stunden des Abschiedes folgen wir Dr. Ripkes Ausführungen in der „Bischofsteiner Chronik“ 1963:

„Und dann kam die Stunde des Abschieds heran, des Abschieds von den Menschen, die uns nahe standen, die jahrelang durch ein gleiches oder ähnliches Schicksal mit uns verbunden gewesen, des Abschieds vom Hause mit den vertrauten Räumen, ihrer Weite und Herrlichkeit, der wuchtigen Treppe, den Fluren und Kammern, den Eckchen und Gängen; von der Landschaft, die ein Teil war von uns wie wir von ihr, die schweigend zu uns sprach, die uns enteinsamte, weil wir ihr unsere Freude und unser Leid anvertrauen durften.

Am Tage vor unserer Abreise nahmen wir uns eine Taxe und machten eine letzte Rundfahrt durch das Eichsfelder Land: über Großbartloff, die Spitzmühle mit dem Wasserfall, dem Westerwald, Wachstedt, das „Klüschen“, Martinfeld, Bernterode, Lutter, Uder, Heiligenstadt, Geisleden und nochmals durch Großbartloff nach Hause zurück. War der aufschäumende und sich verflüchtende Inhalt unserer letzten Flasche Sekt, die wir an jenem Abend tranken, vielleicht ein Sinnbild alles Entstehenden, Sichwandelnden und Vergehenden?

Am Morgen des folgenden Tages stand der Wagen, der uns nach Gotha zum Interzonenzug bringen sollte, auf dem Schlosshof, vor dem Portal mit dem Wappen, das wir zum letzten Mal grüßten. Dann fuhren wir langsam zum Tor hinaus, begleitet von Abschied winkenden Händen. Es war der 13. September 1963 und dazu noch ein Freitag, Daten also, die von vielen als unglückverheißend beargwöhnt werden, was uns aber nicht anfocht, da wir durch abergläubiges Zwangsdenken nicht belastet sind, woran auch die schwarze Katze, die uns bei der Ausfahrt aus Lengenfeld über den Weg lief, nichts zu ändern vermochte. Denn irgendwie waren wir von der Hoffnung erfüllt, ja von der Zuversicht getragen, das Schicksal werde uns gnädig sein.

Von Gotha brachte uns der Interzonenzug nach Bebra, wo Annchen v. Scharfenberg uns abholte und nach dem Kalkhof fuhr. Am folgenden Tag machte Wölfi mit uns einen kleinen Ausflug nach der mit dem Auto in wenigen Minuten erreichbaren verhängnisvollen Zonengrenze, deren stacheldurchsetzter Zaun doch im letzten und tiefsten nichts anderes ist als ein Monument und Ausdruck der Angst vor der Freiheit. Aber über das traurige Gebilde hinweg sahen wir – gleichsam versöhnend – das nur wenige tausend Meter entfernte, im strahlenden Sonnenschein liegende Bischofstein vor uns, auch mit bloßem Auge gut erkennbar. Da kam mir der Gedanke: Ist das noch Wirklichkeit, ist das noch Gegenwart, oder ist Bischofstein, jetzt für uns unerreichbar, zum Mythos geworden, der nur noch in der Erinnerung weiterlebt?“

Bis zum Jahreswechsel blieben Dr. Ripke und Frau Mund bei den gastfreien Annchen und Wolfgang v. Scharfenberg auf dem Kalkhof. Kurz nach dem Neujahr 1964 bezogen sie dann in Hannover-Linden eine Zweizimmerwohnung im Parterre eines in einem Park gelegenen Hauses, die ihnen Arnd v. Jagow in großzügiger Weise zur Verfügung gestellt hatte. Dort verlebten sie noch 14 glückliche Monate in engem Kontakt mit alten Bischofsteinern. Kurz nach seinem 79. Geburtstag ist der Mann, der uns auf unseren Lebensweg so viel mitgegeben hat, dort verstorben.

(Quelle: „Bischofsteiner Rundschreiben“, Weihnachten 1993, S. 4-5)