Abschied

Nun steht er wieder in buntprächtigem Herbstgewand, der liebe Heimatwald. Glühend, leuchtend, flackernd wie lohende Feuergarben ragen seine stolzen Baumwipfel ins Tal, ins Dorf und winken, winken … Nun muss ich noch einmal hinauf, muss mich in trunkener Wonne noch einmal an seiner herben, wehmutsvollen Schönheit laben, ehe sie erstirbt, vergeht, verweht.

So schreite ich nun dahin durch raschelndes Laub und kann wieder lautlos, mit unhörbarem Schritt über Moos und Humus, unter schillernden Laubengängen, durch Lichtungen, über Steingeröll und dürres, totes Reisig, hin über hundertfältig verstreut liegende Kleinigkeiten und Wenigkeiten.

Einsamkeit umfängt mich, Märchenstimmung. „Da kamen sie in einen großen Wald.“ So ist er die Geburtsstätte so vieler schöner, einfältiger Kindermärchen geworden. Geheimnisvoll raunt es in den Wipfeln, wie Ruderschlag eines Fährmannes, der im gleitenden Nachen durch kräuselnde Wellen zieht. Säuselwind greift in die Wipfel hinein, und Blättern tanzen, gaukeln wie bunt schillernde Falter dahin, bis sie irgendwo zur Erde gehen, neue Humusschichten bildend, Keime bergend für neues Leben. Alte Baumstümpfe schneiden Grimassen; zu ihren Füßen modernde Pilze, dunkles Flechtengebilde.

Da tönen Kinderstimmen, Kinderlachen. Arme Kinder sind’s unten aus dem Dorf. Behend klettern sie am Hange und raffen Reisig – dürres Reisig. Es ist nicht viel Wert wie all die Kleinigkeiten und Wenigkeiten, die verstreut liegen. Aber doch, es ist etwas wert, wenn es zusammengerafft wird, wenn es auf der Hofstätte liegt, wenn es knistert und rote Flammenreflexe an die Wände des trauten Stübchens zaubert und wohlige Wärme spendet am häuslichen Herd. Beim Schauen der kleinen Rangen, dieser naturwüchsigen, unverhätschelten Dorfkinder, die früh den Wert der Arbeit kennenlernten, erinnere ich mich, wie ich mit der Mutter Reisig sammeln ging, wie sie mich all die Kleinigkeiten, die unbeachtet am Wege liegen, achten und schätzen lehrte. Einmal weiß ich, da habe ich sie gefragt in kindlicher Einfalt: „Mutter, warum sammelst du das dürre Holz?“ – „Ei, mein Junge, dass du Weihnachten ein warmes Stübchen hast!“ Heute weiß ich, dass man sich erwärmen kann, lange, ein ganzes Leben lang, an einem Mutterwort aus Kinderzeit. Ach, hätte ich es damals schon so gewusst, ich hätte viel, viel mehr hingeschaut.

Nun, da mir das Wort „Weihnachten“ in den Sinn kam, da hob ich hier ein Stückchen Rinde auf, dort wuchernde dunkle Flechte und Moos, ein groteskes Wurzelgebilde, ein seltsames Steinchen. Wisst ihr, wozu? Diese Kleinigkeiten sollen mein Herz erwärmen im kalten Novembertag, wie das Reisig dort die frierenden Kinder. Ein feines Weihnachtskripplein wird daraus. Macht’s auch so!

Nun leb’ wohl, du schöner Heimatwald! Mein Auge ruht auf einem Grüpplein kleiner Tannen. Ein kleiner Baum lacht und verspricht mir: Ich komme herab zu dir, wenn’s Christkindlein kommt. Dann steckst du bunt schimmernde Vögel als „Grüße vom Wald“ in mein Gezweig – und brennende Lichtlein! Mit dem Vorschlage bin ich einverstanden. Ich winke dem Herbstwald Abschied zu, steige talab und summe: O Tannenbaum – o Tannenbaum –
wie treu sind deine Blätter.

Und wie ich unten bin, an der Weißdorneinfriedigung der Bahnstrecke, rollt der Zug aus dem Bahnhof. Tücher flattern, Hände winken. Bekannte Gesichter an den Wagenfenstern … Nun winken sie auch mir: „Mach’s gut!“

Es sind Saisonarbeiter, die auf die Zuckerfabrik gehen – und gleich mir nimmt mancher heute auch, wenn ihn das Dampfross die waldumsäumte Strecke dahin trägt, Herbstabschied vom Heimatwald.