„Da waren wir alle wie Träumende“ – Ein Zeitzeugnis aus dem Lengenfelder Konvent der Franziskanerinnen zur politischen Wende im Herbst 1989

DDR-5701 Lengenfeld u. Stein, 10.11.1989

Liebe Schwester Xaveria,
liebe Schwestern!

Die heutigen Ereignisse in unserem Land bewegen mich und uns so, dass ich meine, Euch an unseren Erlebnissen durch einen Bericht, den ich spontan in die Maschine schreibe, teilnehmen zu lassen.

Seit den Morgenstunden gibt es im Land, hier in der Gemeinde und in unserem Hause nur noch ein Thema: Die Grenzen sind offen, das Sperrgebiet und der Schutzstreifen verschwunden. Es ist nicht zu fassen, nicht zu glauben. Aber der erste Westwagen kam bereits mittags durch unser Dorf. Alles ist aufregend, strapaziös, es wirkt erlöst, befreit.

Die ersten jungen Leute sind mit dem Auto und nur einem Personalausweis in Richtung Grenzübergang gefahren, nur um zu schauen, zu sehen, vielleicht lieben Angehörigen die Hand zu drücken und dann – so hoffen wir es von den meisten – wieder ins Land zurückzukommen. Alles ist in freudige Bewegung geraten – und bis jetzt in eine disziplinierte Bewegung. Tagsüber arbeiten die Menschen, abends sind sie auf den Straßen, in den Kirchen, in großer Solidarität mit Christen und Nichtchristen. Es bewegt alle dasselbe Anliegen: eine grundlegende Wende möge uns allen beschieden sein!

Ihr seht an den Fernsehgeräten, was sich tut. Aber das Fernsehen der DDR – die Aktuelle Kamera – ist fast interessanter geworden als die Heute-Sendung des ZDF oder der ARD. Dasselbe gilt für unsere Zeitungen, sie sind zurzeit lesbar, interessant sogar. Es wird nichts mehr beschönigt, Lügen werden aufgedeckt und eingestanden. Jeder sagt zurzeit, was er denkt. Was sich in Berlin auf dem Alexanderplatz in der Öffentlichkeit zutrug, gab es in jeder Stadt und Gemeinde. Was in den Kirchen Leipzigs und Berlins an ökumenischen Gottesdiensten gehalten wurde, übernahm man in allen Kirchen der DDR.

Am vergangenen Montag nahm ich in Oschersleben an einem ökumenischen Friedensgottesdienst teil, der um 19:00 Uhr begann; gegen 20:20 Uhr zogen alle Teilnehmer mit Kerzen und „Herr, gib uns deinen Frieden“ singend aus der Kirche, um dann schweigend durch die Stadt zu ziehen. Die Sitzplätze der großen Kirche waren um 18:00 Uhr besetzt. Es kamen alle, Christen und Nichtchristen, vielleicht mehr Ungetaufte als Getaufte. Die Pfarrer der katholischen und evangelischen Gemeinden leiteten sehr gut den Gottesdienst. Einige junge Leute sangen Friedenstexte, die leicht eingingen, begleitet von einer Gitarre.

Eine Perikope aus dem Propheten Amos deutete die Zeit damals und offenbar – so frisch und neu wie nie zuvor gehört – auch heute. Das Volk lachte laut zustimmend, klatschte laut, dann folgte ein Friedensgesang. Pfarrer Krause flocht immer wieder ein: „Der Geist Gottes weht, wo er will.“ Es wurde informiert über die Ereignisse in Dresden in der Oper, über das in der Stadt Oschersleben errichtete Neue Forum, dazwischen Gesänge, Gebete. Nach einer halben Stunde änderte sich die Struktur etwas. Zwei Mikrofone in den Seitengängen boten allen Anwesenden die Möglichkeit, Bitten, Fürbitten, Wünsche oder Klagen vorzutragen, auf die mit einem Kyriegesang geantwortet wurde. Sogar der Bürgermeister der Stadt, ein SED-Mann, kam ans Mikrofon.

Er bekannte, dass die Partei viele Fehler gemacht habe, bat aber um die Chance, einen neuen Anfang mit ihnen allen zu wagen. Er bekam große Zustimmung durch Klatschen. Nachher ging er auch mit durch die Stadt.

Die Reaktion auf den Bürgermeister zeigte, dass er ein guter Mann war und ist. Er wird vermutlich im Amt bleiben. Die Partei hat allseits mit einer Reinigung begonnen. Die meisten leitenden Orts-, Betriebs-, Kreis- und Bezirksleiter werden ausgewechselt.

Ein heutiges Telefonat mit unserer kirchlichen Dienststelle in Berlin sagte mir, dass dort heute keiner arbeite, es sei alles zu aufregend. Die große Freude sei aber auch gemischt mit Sorge um die Zukunft ob der anhaltenden Ausreisewelle von DDR-Bürgern. Die entstandenen Lücken in allen Bereichen der Wirtschaft und in den Sozialeinrichtungen sind nicht zu schließen.

Die Ereignisse in unserem Land zeigen, was unterschwellig gelebt hat und was erlitten worden ist. Bei einem Elternabend in der Schule wurde mitgeteilt, dass ab sofort der Politunterricht in der Schule wegfällt, ebenfalls Staatsbürgerkunde in der bisherigen Form. Die kirchlichen Feiertage will man wieder anerkennen, die Jugendweihe fällt weg, die Schlagbäume zu den Eingängen der Orte im Grenzgebiet und Schutzstreifen sind nicht mehr besetzt und werden verschwinden. Der Beitritt zur FDJ soll freiwillig sein.

Auf all diese sich überschlagenden und unfassbaren Erneuerungen reagieren die Bewohner mit Familienfesten bei Wein und Sekt. In einem kleinen Geschäft wurden heute allein 20 Flaschen Sekt gekauft. Und unser Pfarrer trinkt heute mit seiner Haushälterin und deren Familie eine Flasche Sekt zum großen Ereignis; diese Flasche wartet seit elf Jahren. Bei seinem Einzug ins Sperrgebiet nach Lengenfeld vor mehr als elf Jahren stellte der Pfarrer sie in der Hoffnung auf Freiheit für diesen Zweck hin. Diese Hoffnung gab er nicht auf.

Auch wir saßen heute Abend in und mit der Gemeinschaft der Schwestern zusammen, um alle derzeitigen Ereignisse auszuwerten, darüber zu sprechen und Pläne möglicher Reisen, besonders ins Mutterhaus zu machen.

In nächster Zeit werden wir für alle Schwestern ein Visum beantragen.

Aus unserem Ort fahren heute, morgen und Sonntag viele Menschen nach Duderstadt zu einem Stadtbummel, um sich umzusehen. Nach diesem ersten Rausch wird hoffentlich bald wieder Besonnenheit zurückkehren.

In all den Ereignissen sehe ich persönlich das Walten und Fügen Gottes, auf dessen gute Führung wir auch für die Zukunft hoffen. Die Erfahrung der Nähe Gottes ist zurzeit dichter denn je. Diese Zeit ist in besonderer Weise eine Zeit Gottes und der Kirche. Die Kirche und Kirchen rücken in unserem Land mehr als sonst ins Bewusstsein der Menschen. Spontane Dankworte bei den Gottesdiensten sind Zeuge dafür. Und es ist noch immer wahr, was Kardinal Newman in einem Gebet so sagte:

O Gott, die Zeit ist voller Bedrängnis.
Die Sache Christi liegt wie im Todeskampf.
Und doch – nie schritt Christus mächtiger
durch die Erdenzeit;
nie war sein Kommen deutlicher;
nie seine Nähe spürbarer;
nie sein Dienst köstlicher als jetzt.
Darum lasst uns in diesem Augenblick
zwischen Sturm und Sturm
in der Erdenzeit beten:
O Gott, du kannst das Dunkel erhellen,
du kannst es allein!


In diesem Glauben mit Euch allen verbunden, grüße ich Euch, auch von allen Schwestern hier.


Eure Schwester M. Laurentiana (Antpöhler)
Lengenfeld unterm Stein, den 10. November 1989 (ein Tag nach dem Mauerfall)
(Quelle: „Anbeten und Anpacken. Franziskanerinnen von der ewigen Anbetung e. V. Olpe.“ Strasbourg: Editions du signe, 2012, S. 58 – 65)


Zur Autorin
Sr. Laurentiana Antpöhler wurde am 3. April 1925 in Sende (Nordrhein-Westfalen) geboren und trat am 2. Mai 1947 in die Ordensgemeinschaft der Olper Franziskanerinnen ein. Sie arbeitete überwiegend im Verwaltungsbereich großer Krankenhäuser in der Bundesrepublik, aus deren Erfahrungen man später in Lengenfeld profitierte. Am 6. Februar 1961 kam sie von Olpe nach Oschersleben. Hier wurde ihr das Amt der Oberin übertragen. Nach der Verlegung des Noviziates nach Oschersleben übernahm sie als Novizenmeisterin die Einführung der jungen Schwestern in das Ordensleben und trug Sorge für deren Ausbildung.

Von September 1962 bis November 1986 war sie als Provinzoberin für den Konvent in der DDR zuständig.

Am 13. Januar 1986 kam sie als zehnte Oberin seit der Gründung des St.-Elisabeth-Krankenhauses nach Lengenfeld unterm Stein und stand seit dem 15.01.1986 dem hiesigen Schwesternkonvent der Franziskanerinnen vor.

In Berlin nahm sie an einer berufsbegleitenden Weiterbildung zur Pflegedienstleiterin teil, die sie erfolgreich abschloss.

Schwester Laurentiana war die Wegbereiterin für das heutige geriatrische Krankenhausprofil in Lengenfeld. Mit Engagement, Klugheit und Weitsicht verhalf sie in schwierigen Zeiten dem Krankenhaus zu einer zukunftsweisenden Existenz. Ihre ganze Kraft setzte sie für den Erhalt des Krankenhausstandortes ein. Es war ihr ein großes Anliegen, die Arbeitsplätze aller Mitarbeiter zu erhalten. Für ihren großen Einsatz und für ihren Weitblick wurde ihr von Herzen gedankt, als sie am 21. Januar 2003 aus gesundheitlichen Gründen nach Königswinter-Oberpleis ging, um dort ihren Lebensabend zu verbringen. Hier verstarb sie am 8. Juni 2006 und fand ihre letzte Ruhe auf dem Friedhof Königswinter-Oberpleis.