Hochwasserkatastrophe im Eichsfeld (1956)

Ein wenig müde gingen die Bäuerinnen und Bauern am Sonnabendmittag von ihren Feldern heim. Eine arbeitsreiche Woche lag hinter ihnen. Trotz der brütenden Hitze hatten sie auch an diesem Tage fleißig auf ihren Äckern geschafft. Die Luft war drückend und schwül, und öfter als sonst mussten sie sich die Schweißperlen von der Stirn wischen. Jeder spürte es, heute wird es noch ein Gewitter geben, aber keiner ahnte, was dieses Wochenende den Eichsfelder Menschen bringen würde.

Am Nachmittag zogen dann schwarze Wolken vom Horizont herauf. Blitze zuckten, Donner grollte. In diesem Ausmaß kaum gekannte heftige Gewitter entluden sich über dem Eichsfeld. Der Himmel schien alle Schleusen geöffnet zu haben. Auch als der Donner längst nicht mehr zu hören war, regnete es ununterbrochen weiter, den ganzen Nachmittag, die ganze Nacht, bis zum Sonntagabend. Besonders in den Morgenstunden des Sonntags steigerten sich die Regengüsse wolkenbruchartig und verrichteten ein grausames Zerstörungswerk.

Nur wenige Reisende benutzten an diesem Sonntagmittag den Personenzug von Arenshausen nach Heiligenstadt, aber alle standen an den Fenstern. Gleich hinter Arenshausen fuhr der Zug langsam, und ein Mitreisender wusste auch warum. Der Nachtzug und auch der Frühzug konnten die Strecke nicht passieren, weil die Wassermassen die Böschungen herabgerissen hatten und dadurch der Bahnkörper verschüttet worden war. Feuerwehr, Volkspolizei und freiwillige Helfer hatten aber bis zum Mittag den Bahnkörper bereits wieder geräumt. Die sonst so friedliche, nur einige Meter breite Leine war zu einem reißenden Strom geworden, der an vielen Stellen über hundert Meter breit rechts und links die Äcker und Wiesen überspülte. Die Hühnerfarm der LPG Hessenau stand unter Wasser, und Brücke an der Rengelröder Straße konnte die Fluten nicht mehr fassen.

Der Rat des Kreises Heiligenstadt hatte die Bevölkerung der angrenzenden Teile Hessens und Niedersachsens telefonisch vor der ihnen bevorstehenden Flutwelle gewarnt. Der Hauptbrandmeister Butterbrot vom Landratsamt Göttingen bedankte sich für die Hinweise und versprach, alle Wehre zu öffnen, damit das Wasser besser abziehen kann. Dieses Beispiel gesamtdeutscher Zusammenarbeit zeigt, dass es in unserem Vaterland keine Grenzen gibt, wenn es gilt, große Gefahren abzuwenden. Sollte uns da die unselige Grenze an unserem gemeinsamen Kampf gegen die größte, die Kriegsgefahr, hindern?

In Heiligenstadt glich der obere Heinrich-Heine-Park einem See. Anlagen und Brücken wurden beschädigt. In der Straße der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft konnte auch die 4 m hohe Ufermauer die Wassermassen nicht mehr in das Flußbett zwingen. In der Dingelstädter Straße standen die Reparaturwerkstatt Huke und der Lehrbauhof unter Wasser. Große Schäden entstanden in der Papierfabrik, und zur, von den lehmbraunen Fluten eingeschlossenen Rosenmühle mussten die Kameraden der Feuerwehr einen Notsteg bauen.

Eine Fahrt am Sonntagnachmittag führte uns in die am meisten betroffenen Gemeinden des Kreises Heiligenstadt. In Geisleden war die Flut schon wieder abgezogen und hatte ein grausiges Bild der Verwüstung zurückgelassen. Die 2 m hohe reißende Welle hatte hier die Brücken zerstört, Bäume entwurzelt, Geröll angeschwemmt und Löcher bis zu 1 m Tiefe in feste Straßen gerissen. Aus den Gehöften wurden Tierkadaver geschleppt. Die vielen selbstlosen Helfer hatten nicht alles Vieh retten können; die Flut war zu schnell und überraschend gekommen.

Ein ähnliches Bild bot sich in Heuthen. Bis zu einem Meter hoch hatte das Wasser Steine und Geröll – etwa 2000 cbm – auf der Dorfstraße angeschwemmt. An verschiedenen Stellen mussten Mauern von Ställen und Scheunen durchbrochen werden, um dem tobenden Element einen Abzug zu geben. Die Kellerräume (Kulturraum und Lager) des Zweigbetriebes des VEB Strumpfwarenfabrik standen unter Wasser.

Bedeutende Schäden richtete eine 1 m hohe Flutwelle der Rosoppe in Martinfeld an. Auch hier wurde Kleinvieh weggeschwemmt, Masten brachen, Bäume wurden entwurzelt, Straßen aufgerissen und Kellerräume standen unter Wasser. Die Straße von Martinfeld nach Flinsberg war kaum zu passieren, und auch in Flinsberg selbst wurde eine Brücke zerstört. Unterwegs erfahren wir dann, dass auch im Kreis Worbis das Unwetter gewütet hatte. Wohl am schwersten betroffen wurden hier Dingelstädt und Kefferhausen. Am Flutgraben in Kefferhausen hatte sich eine 2,5 m hohe Welle gestaut, die Brücken wurden total zerstört. Leider forderte hier das Unwetter ein Menschenleben. Um bei den Rettungsarbeiten nicht weggespült zu werden, hatte sich der 60-jährige Einwohner Heinrich Haase angeseilt. Aber die Flut war stärker, das Seil riss. Erst in den späten Abendstunden fand man seine Leiche.

In Dingelstädt standen die Aue und die Riethwiese stellenweise 2 m unter Wasser. Am Mühlwehr in der Stadt erreichte der Wasserstand 4 m. Auch hier wurden Brücken zerstört. In Großbartloff hauste das Wasser fürchterlich. Die Lutter erreichte bei der Schenke eine Höhe von 6 m. Oberhalb des Ortes wurde das Wehr weggerissen. Auf der Insel vernichtete die Sturzwelle die Wirtschaftsgebäude des Einwohners Schwaneberg. Überflutungen gab es auch in Wachstedt, Küllstedt, Effelder, Niederorschel und anderen Gemeinden. Bei Ferna wurde der Damm überflutet.

Sowjetische Soldaten standen den arg durch die Wassermassen bedrängten Bürgern Kefferhausens tatkräftig helfend zur Seite und setzten selbstlos ihr Leben für deutsche Menschen ein. Die Bewohner des Eichsfeldes haben so schon einen Tag vor dem Abflug der Regierungsdelegation der DDR nach der Sowjetunion, wo bei den dortigen Verhandlungen die Unterhaltskosten der in Deutschland stationierten Truppen der Sowjetarmee um die Hälfte gesenkt wurden, erneut erfahren, dass die Sowjetmenschen stets bereit sind, unserem deutschen Volke beizustehen.

Es ist unmöglich, an dieser Stelle das durch das Unwetter angerichtete Chaos so zu schildern, dass sich der, der es nicht sah, auch nur annähernd ein Bild über die in die Millionen gehenden Schäden machen kann. Es ist auch nicht möglich, hier alle die vielen Helfer zu nennen, die sich oft unter Einsatz ihres Lebens an den Rettungsarbeiten beteiligten und wahre Heldentaten vollbrachten. In allen betroffenen Orten leisteten Kameraden der Feuerwehren und unserer Volkspolizei sowie Hilfstrupps Beispielhaftes.

Überall in den am schwersten in Mitleidenschaft gezogenen Gemeinden sahen wir ernste, besorgte Gesichter, aber nirgends trafen wir verzweifelte Menschen. Sie wussten, dass sie einen ungeheuren Schaden erlitten haben, sie wussten aber auch, dass sie in unserem Staat der Arbeiter und Bauern in ihrer Not nicht allein stehen. Sie wissen, dass das ganze Volk, dass unser Staat ihnen helfen wird, das eingetretene Unheil gemeinsam mit ihnen zu überwinden.

Die Hilfe ließ auch nicht lange auf sich warten. Hier nur einige Beispiele für viele: Schon am Tag der Katastrophe trafen 35 Offiziere und Soldaten der Nationalen Volksarmee in Geisleden zu Hilfs- und Aufräumungsarbeiten ein, und seit Montag stehen 130 Mann unserer Streitkräfte in Heuthen und Geisleden im Einsatz. Am Dienstag fuhren 75 Freunde der Freien Deutschen Jugend, Jungen und Mädel aus den Heiligenstädter volkseigenen Betrieben, zum Solidaritätseinsatz nach Heuthen. Acht Kollegen des Wasserwirtschaftsbetriebes errichteten in Heiligenstadt den Damm wieder, der die Firma Huke und die Lehrwerkstatt Bau schützt. Kameraden der Abteilung Feuerwehr der Volkspolizei befreiten die Reparaturwerkstatt Huke von dem eingedrungenen Wasser.

In großzügiger Hilfe unterstützt die, gesamte Bevölkerung des Eichsfeldes die schwer Betroffenen. Schon am Mittwoch lagen die ersten Ergebnisse einer breiten Solidaritätswelle vor. Alle Kolleginnen und Kollegen der Eichsfelder Strumpfwarenfabrik spendeten einen Stundenlohn, eine Summe von 200 DM war bis zu diesem Tag das Ergebnis einer Sammlung bei den Näherinnen der Bekleidungswerke in Heiligenstadt. 4.602 DM und viele Naturalien gingen bis zum Mittwoch bei der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (BHG) ein. Im Wohnbezirk III In Heiligenstadt sammelte allein die Kollegin Schramek etwa 500 DM. Auch das sind nur einige Beispiele von vielen, und noch viel mehr werden folgen.

Autor: unbekannt
(Quelle: „Eichsfelder Heimatbote“, Ausgabe vom 21.07.1956)