Der Totenbaum unserer Vorfahren (1936)

Der aufmerksame Naturfreund, der gern an den Muschelkalkfelsen unserer schönen Heimatberge emporklettert oder die schmalen Wege auf Steilkanten dahinwandert, begegnet hin und wieder auch einem Baum, mehr Strauch, von düsterem, verkrüppeltem Aussehen, den unsere Vorfahren den „Totenbaum" zu nennen pflegten. Es ist die Eide, taxus baccata.

Im alten Germanien war sie wohl zu Tausenden von Exemplaren vertreten und hat auch ohne Zweifel in den sagenhaften Vorstellungen unserer Ahnen eine wichtige Nolle gespielt. Wie häufig wohl hat die germanische Urgroßmutter ihre Enkelkinder vom alten, unter mächtigen Lindenbäumen gelegenen Herrenhof über den dahinbrausenden Gebirgsbach in den hl. Hain geführt, vorbei an Donars Opferaltar unter der uralten Eiche, hin zu den düsteren Eiben, um auf der unter ihnen hergerichteten Steinbank die alten schönen Geschichten zu erzählen. Eine heilige Ruhe liegt auf den Baumkronen ringsum. Nur leise bewegen sich die Zweige einer riesig alten Eibe im Winde. Urgroßmutter beginnt geheimnisvoll zu erzählen:

„Seht ihr dort jene tiefe Felsenschlucht? Wohl kein Mensch hat sie je betreten. Es ist ein unheimlicher Ort, wo Hexen und Druden wohnen. In einer großen Küche sitzt auf einem steinernen Hochsitz der feurige Reiter. Unaufhörlich brodelt in einem Kessel der Zaubertrank, bereitet aus Eibenzweigen, Beeren und giftigen Kräutlein. Aber in der Mitte der Küche steht ein Eibenbaum, viel dicker, höher und älter als alle, die ringsum hier wachsen. Von Zeit zu Zeit erhebt sich der feurige Reiter, ritzt die Rinde mit einem Messer an, so dass die Funken nach allen Seiten hin sprühen und gar schaurig die unheimliche Schlucht erhellen.“

Urgroßmutter schweigt. Die Kinder schauen unverwandt nach jener Stelle, wo sich die Geisterküche befinden soll. Einige Zweige pflückt Großmutter ab, legt sie kreuzweise übereinander und sagt bedeutungsvoll:

 „Kinder, diese Eibenzweiglein schützen vor den Unholden, vor Elben und Dämonen.“ Die Kinder sind nachdenklich geworden. Urgroßmutter schreitet mit ihnen langsam wieder der Siedlung zu, wo unter einer der Göttin Freia geheiligten, breitästigen Linde die Mutter schon der Kinder harret.

Auch schon zur Steinzeit müssen Eiben in unserm deutschen Raum nichts Seltenes gewesen sein. Vielfach findet man an Herdstellen der prähistorischen Menschrassen Geräte für Jäger und Krieger, die aus dem außerordentlich harten Holz der Eibe hergestellt waren. Zur Zeit der Kämpfe der Germanen mit den Römern ist die Eibe in Deutschland sehr häufig gewesen. Roch im Mittelalter waren größere Eibenbestände nichts Auffallendes. Seit dieser Zeit jedoch wird das Vorkommen dieses mit dem Mythos unserer Vorfahren so eng verbundenen Baumes immer spärlicher. Noch ist es Zeit, die Eibe dem Landschaftsbild unserer Heimat zu erhalten; wenn es sich jeder Naturfreund zur Pflicht macht, die Öffentlichkeit immer wieder und wieder auf den seltenen Baum aufmerksam zu machen und ihn dem ganz besonderen Schutz der heimatlichen Eichsfelder zu empfehlen.

Hermann Hanßmann
(Quelle: „Mein Eichsfeld“, Jahrgang 1936, S. 84 – 85)