Zwei Wanderungen durch dasselbe Tal (1954)

Erschrick nicht, lieber Leser, wenn ich dich zweimal in dasselbe Tal führe. Es soll aber kein nutzloses, müßiges Wandern werden, wir wollen vielmehr beobachten, vergleichen und erkennen, wie sich eine Landschaft unter der starken Hand des schaffenden Menschen  verändert und wie er die Kräfte der Natur bändigt, auf dass sie für ihn zum Segen werden.

Denn den Menschen ist von Gott der Auftrag geworden, sich die Erde untertan zu machen, und dass sie es können, wollen und tun, und was sie in einer kurzen Zeit­spanne von kaum 50 Jahren erreichten, das wirst du erfahren, wenn du zweimal mit mir durch dasselbe Tal wanderst. Ich meine das Luttertal bei Großbartloff.

Meine erste Wanderung durch das Luttertal

Das ist schon lange her; 1909 ist es ge­wesen. Ich war damals noch ein junges Blut und hatte als Schüler des Lehrersemi­nars in Heiligenstadt gerade lange Ferien bekommen. In mir war trotz des heißen Julitages frohe Wanderlust; ich hatte mir vorgenommen, kreuz und quer durchs Eichsfeld zu ziehen, das Stück Land, das wir Heimaterde nennen, zu erwandern und gründlich kennenzulernen. – Aber ich wusste jetzt für meine Sehnsucht in die Ferne zunächst gar kein Wanderziel. Da fielen mir zur rechten Zeit die begeisterten Ruhmreden eines Schülers aus Großbartloff ein, der unentwegt und immerfort behaup­tete, sein Heimatdorf wäre der feinste Ort weit und breit, kein anderes Dorf im Eichs­felder Lande käme ihm gleich. Wenn seine Begeisterung zum Überfließen kam, rühmte er nicht nur das stattliche Dorf, mehr noch pries er die hohen Berge, die es schützend umgaben und die mit ihren schroffen Felswänden so stolz ins Tal schauen, und noch mehr lobte er das lieb­liche Luttertal mit seinen forellenreichen Bächen und dem brausenden Wasserfall. Er prahlte auch gern von dem ausgedehn­ten Waldrevier, dem Westerwald, und behauptete in allem Ernst und mit viel Nach­druck, dass in diesem weiten Forst auch muntere Hirsche sprängen. – Die Wander­lust in mir und mein Hang zur Romantik hatten bei solchen Erinnerungen bald ihr Ziel gefunden: ich schnürte mein Ränzel, nahm den Wanderstab zur Hand und zog ins vielgerühmte Luttertal.

Da, wo man hinter Küllstedt die kahle „Höhe“ übersteigt, der Weg merklich zu Tal führt und dem Auge sich in der Ferne das herrliche Panorama der Hessenberge auftut, steht einsam am Wege in stummer Trauer das Kreuzbild Gottes. Von allen Bildern auf den Wanderwegen meines Le­bens hat keines mein Herz je so tief getrof­fen wie dieses Kreuz mit der frommen Mahnung, die an seinen Stamm geheftet war:

„Halt an, Halt an! du lieber Wandersmann! Bedenke meinen blut‘gen Schweiß! Dann geh‘, und ende deine Reis‘!“

Es geht nun rasch zu Tal, den Ölstieg hinab. Ein prächtiges Dach schattiger Bu­chen verleiht duftende Kühlung und lässt mir auf einmal die Landschaft entfliehen. Ich ziehe jetzt den alten Pilgerstieg, den Hunderttausende wanderten, das ferne Heiligtum auf dem Hülfensberge, dessen Kegel eben noch zu sehen war, zu besu­chen. – Der Sommerwald scheint zu träu­men. Die Luft ist getränkt mit dem würzigen Geruch von Waldkräutern und dem Ozon, den mächtige Tannenbäume verströ­men. Im Wipfel einer Buche gurrt eine ver­liebte Holztaube; in der Ferne hämmert der Specht. Aus dunklem Moose gucken wie kleine Männlein junge Pilze mit ihren dicken braunen Köpfen. – Bald wird es lichter; ich trete am Bergfuße aus dem ge­öffneten Walde und stehe wieder in der Sonne. Ich bin im Luttertal.

Rechts geht es von hier den Steingraben hinauf, den die Küllstedter so lieben und in dessen Grunde sie ihre Sommerfeste feiern. Links steigt und windet das Hübental mit seinen wunderlichen Baumgruppen langsam bergan. Es ist ein herrliches Fleck­chen Erde, das ich hier gefunden habe. – Ein Weiblein mit einer Hucke Waldgras kommt schweratmend des Wegs; es will nach Effelder, wo es eine Geiß im Stalle hält und der es so weither nun das Futter holt. Ich freue mich, hier jemanden zu fin­den, der mich in der fremden Weit zu­rechtweisen kann, lade darum das Mütter­chen ein, Rast zu machen, helfe ihm von der drückenden Last und lade es zu einem Imbiss ein.

Es lehnt zunächst dankend ab, lässt sich aber freundlich zureden, setzt sich zu mir, ziert sich noch ein Weilchen; aber dann nimmt es gern den Ranft Eichsfelder Schwarzbrot und das Stückchen Wurst dazu, und wir „tafeln königlich“ nach alter Art, ohne Messer und Gabel; wir halten ein kräftiges Mahl. – Darauf wird das Weiblein gesprächig, es erklärt und erzählt: es nennt die Berge und Täler, bezeichnet die Wiesen und Wälder, kennt auch die Quellen und alle Wässerlein, die hier flie­ßen, es kann von Mühlen und Müllern im Talgrund berichten und zuallerletzt er­zählt es gar noch eine schaurige Geschichte von einem Schatzgräber, der hier am Kreuzweg in schwarzer, stürmischer Nacht einen Goldschatz heben wollte, dem aber der Böse, dem er sich verschrieben hatte, das Genick umdrehte und ihm das Teufels­geld in hartes Gestein verwandelte.

Einen Steinwurf weiter glucksen und sprudeln am Bergfuß neun muntere Quellchen aus der Erde, reichen sich aber gleich zwischen den Felsbrocken und unter hoch­gewachsener Brunnenkresse die Hände und eilen und springen nun vereint durchs Tal. Das sind die Neun Börner, die bei der Obermühle all ihr Wasser in die Lutter ergie­ßen. – Hoch oben an steiler Bergwand haben die Menschen das harte Gestein ge­sprengt und an dem Felsenhang für ein Schienenpaar Platz gemacht. Darüber braust und jagt jetzt ein Züglein hin, das eben einem langen, dunklen Tunnel ent­flohen ist.

Nach gehabter Rast und Stärke wandere ich im Schatten der hohen Buchen, die am Rande des Westerwaldes so stark wachsen, weiter und komme über eine frischgemähte Wiese zur Quelle der Lutter, die so viel Wasser aus der Erde bringt, dass der Bach schon nach wenigen Schritten das große Wasserrad der Luttermühle drehen kann. Gerade als die Lutter sich über das Mühl­rad werfen will, springen die Neun Börner herbei und helfen ihrer größeren Schwe­ster bei der schweren Arbeit. Das Wasser rauscht, die Räder in der Mühle laufen flink und drehen den großen Stein, der das Korn mahlt.

Dann ziehe ich wieder meine Straße. Es ist schon Mittag, Die Julisonne brennt un­barmherzig heiß vom wolkenlosen Him­mel; drückende Schwüle liegt in der Luft. Aber mich ficht das wenig an; denn ich habe jetzt unversehens ein schützendes Asyl gefunden, lasse mich da nieder und raste, sinne und träume nun an der herr­lichsten Waldquelle, die ich je gefunden habe. Breitästige Linden und dicke Ahorn­bäume umstehen schützend einen klaren Wasserkessel, da hinein springt aus dem Felsen der starke, lebendige Quell. Hier ist gut sein; der Born schafft so erquickende Kühlung, das Glucksen des Wassers wirkt so heimelig, und das leise Rieseln des ab­fließenden Bächleins klingt wie eine wun­dersame Melodie.

– Aus dem Walde kom­men jetzt zwei sonnengebräunte Frauen. Sie haben am Berghang Himbeeren ge­pflückt, und jede schaut beglückt auf die reiche Ernte, die sie im vollen Eimer am starken Arm trägt. Auch sie streben zum Rastplatz an der Quelle, sich zu erfrischen und zu laben. Ich beginne mit den Frauen ein Gespräch und erfahre nun rasch alles, was ich gerne wissen möchte: hier das ist die berühmte Gläsenerquelle, das Wasser ist so frisch und erquickend, es ist weit und breit kein gleiches zu finden. Sonntags trifft sich hier die frohe Jugend von Effel­der und Bartloff, und auch die verliebten Pärchen aus beiden Orten wissen keinen besseren Platz zu finden als den unter die­sen schützenden Bäumen, und wäre die Quelle nicht so unruhig und geschwätzig, würde sie manches Liebesgeflüster gut ge­hört haben. – Der große Wiesenplan, der den ganzen Talgrund ausfüllt, das ist die Klosterwiese, und die Klostermühle da drüben, die musste einstmals für die Benediktinerinnen in Zella das Korn mahlen. – Die waldgekrönte Höhe dahinter nennt man den Mühlberg. – Hier in diesem Tal lag vor vielen hundert Jahren das Dorf Luttershausen.

Nun bin ich schon wieder am Wandern und schreite eine alte staubige Landstraße fürbass. Aber es dauert nur zehn Minuten, und es bietet sich mir ein seltenes, inter­essantes Naturschauspiel: die Lutter, die so friedlich durch die Wiesen rinnt, staut auf einmal ihr Wasser, schickt einen Arm in das schmale Mühlwehr, springt selbst zö­gernd zunächst einige Steinstufen abwärts und stürzt sich dann plötzlich brausend und schäumend über einen mächtigen Tuff­steinfelsen hinab in die tiefe Schlucht. – Dicht am Flussbett stehen ganz eng beiein­ander die beiden Spitzmühlen, jede mit einem großen Wasserrad, und neben dem Brausen der ungebändigten Naturkraft des Wasserfalls hörst du das Sausen der Räder in den Mühlen und das Rauschen des Was­sers, das der Mensch in seinen Dienst nahm.

Dicht vor mir liegt jetzt, eng ins Tal ge­bettet, Großbartloff, dem ich nun auf schmalem Pfade, am tiefausgewaschenen Flussbett entlang, zustrebe. Von links kommt hurtig ein Wässerlein gesprungen, das nimmt die Lutter als kleinen Helfer noch mit; denn im Dorfe sind drei Mühl­räder, groß und schwer, da gibt es saure Arbeit. – Ich lasse das Wasser fließen – es findet seinen Weg — folge nun der brei­ten Dorfstraße, suche und treffe in einem alten Bauernhause meinen Schulfreund Ru­dolf Hahn, dessen Eltern mich gastlich auf­nehmen.

Da gab es nun gar bald eine angeregte Unterhaltung; man griff zurück in die Vergangenheit und erzählte von der wirtschaft­lichen Blütezeit des Dorfes, da Bartloff der Sitz einer bedeutenden Manufaktur war, die durch einen Mann, Valentin Degenhardt, begründet wurde. Aber da ich bei einem Bauern eingetreten war, so hielten die Erinnerungen aus den vergangenen Zeiten nicht lange an, und man sprach von der frühen Ernte und von der mühseligen Feldarbeit an den Berghängen, von Mer­gel-, Sand-, Stein- und Lehmböden, und dass man immer noch keine Separation durchgeführt habe, und wovon man sonst in Bauernhäusern gern redet.

Es wurde Zeit, ich musste Abschied neh­men. Mein Kamerad begleitete mich durch das stattliche, saubere Dorf und zeigte mir stolz alle „Herrlichkeiten“. Dabei versuchte er um alle Dinge seiner Heimat eine schim­mernde Gloriole zu legen. Aber an der altersschwachen Kirche ging er still vorbei, und als ich nach dem Zweck der großen Häuser hinter der Kirche, die so gebrech­lich dastanden, fragte, wurde er sichtlich verlegen, und es war ihm peinlich, als er bekennen musste: „Das hier ist die Schule, und das da das Waisenhaus“.

Nun brachte er mich bald wieder auf den rechten Weg; denn ich wollte zum Zuge. Wir stiegen über den Kummerberg, gingen an einem schmalen Rain durch die reifen­den Haferfelder und kamen bald zu dem bescheidenen Bahnhöfchen, das nun ganz und gar nicht in die Landschaft passen wollte.

Und ehe der Zug einlief, nahm mich mein gesprächiger Freund am Arm, zeigte mit dem Finger nach der steilen Höhe: hier hinauf steigt man zum Heiligenberg, die Klippen dort, das sind die Steinfelsen des Uhlenstein, und weiter unten das ist der Entenberg, durch den ein Tunnel gebaut ist. Dann wies er nach Westen: der Berg, der an seinen Hängen so kahl dasteht, das ist der Schimberg, hinter dem Ershausen liegt. Dort gehts in Wolfental. Die trotzige Höhe im Norden das ist der Klusberg, da hinauf steigt man, wenn man nach Wach­stedt und dem Klüschen will. Jetzt kam das Bähnlein prustend und stöhnend den Berg herauf, die Lok puffte dunkle Rauch­wolken in die Luft; denn der Weg auf die „Höhe“ wurde ihr sauer. – Ich sprang in ein Abteil, der Zug fuhr ab und fing gleich an, „Tag und Nacht“ zu spielen. Denn es waren vier Tunnel für ihn gebaut. Aber jedes Mal, wenn er aus dem dunklen Schoße der Erde hervor ans Licht kam, schaute ich gleich wieder in das freund­liche Tal, das ich heute so froh durchwan­dert hatte und das nun in seinem Abend­frieden ganz still dalag.

Meine letzte Wanderung durch das Luttertal

Das war im Juli 1954, genau 45 Jahre später. Ich wandere dieses Mal talaufwärts, komme von Lengenfeld, verlasse bald die Landstraße, steige den Abhang des Enten­berges hinan und gehe dann zu Tal, stracks auf eine Mühle los, die breit und behäbig in der Mittagssonne liegt. Auf dem Mühlenwasser schwimmen und gründeln eine Un­zahl Enten, und hätte ich nicht gewusst, dass das die Entenmühle war, ich hätte sie gerne so getauft.

Die Berge, die sich hier dicht an die Straße herandrängen, treten bald zurück, und vor mir liegt das geöffnete Luttertal. Uhlenstein und Heiligenberg stehen da wie trotzige Wächter, das Tal im Osten zu schützen. Aber der alte Schimberg, den ich einst so vergrämt wie einen müden Greis seinen langen Rücken im Westen dehnen sah, der an seinen Hängen nackt und kahl dastand und der nichts vollbracht hatte, als dass er mit seinem stachlichten Wacholder den Bartloffern den Spottnamen „Wacholderknüppel“ einbrachte, dieser Berg ist mit den Jahren wieder jung ge­worden; an seinen Hängen wächst jetzt ein dunkler Kranz lebensfroher Fichten. Man hatte seine Nacktheit nicht mehr sehen wollen, und Frauen und Kinder waren mit frischen Setzlingen zu Berg gestiegen und hatten viele tausend junger Tannenbäum­chen gepflanzt, die nun fröhlich wachsen und die ganze Landschaft verschönen.

Die Lutter, die jetzt zu meiner Linken durch die Wiesen rauscht und die sich ehe­dem in vielen Windungen krümmte, hat jetzt ein fein reguliertes Flussbett, gerade, wie mit der Schnur gezogen, und eine neue feste Brücke ist über ihre Ufer gespannt.

Unweit des Dorfes, wo der Bach ein be­sonders tiefes Bett gegraben hat, war einst­mals die Schuttabladestelle für ganz Bartloff gewesen; man ging als Naturfreund immer eilig vorbei. Dieser Schandfleck ist nicht mehr. – Aus der hässlichen Wüstenei und der Heckenwirrnis ist ein wundervolles idyllisches Plätzchen geworden, ein klei­ner Park, „dem Wandersmann zur kur­zen Ruh‘ bereitet“ und den fleißigen Be­wohnern des Ortes als eine Stätte der Ruhe und der Entspannung geschenkt. Solch herrliches Fleckchen Erde wirst du selten finden. Steige hinab in den kühlen Grund! Dich umfängt ambrosische Nacht, und nur ab und zu glückt es einem Sonnenstrahl, im Husch durch das Blätterdach zu drin­gen. Tief unten im Kessel murmelt und plätschert die fröhliche Lutter; bequeme Ruhebänke laden zum Rasten ein. Hier möchte ich träumen und an späten Frühlingsabenden die Nachtigallen im Gebüsch Schlagen hören. – Der Park ist die Zierde des Dorfes, und ich sage als wandernder Fremdling all denen, die mit fleißigen Hän­den hier schafften, das Große und Schöne zu vollbringen, herzlichen Dank für alle Mühen und Opfer, die sie auf sich nahmen und bitte sie, das Geschaffene mit Liebe zu pflegen und vor jeder Verwahrlosung zu schützen.

Von einem Hügel, hoch über dem Dorf, grüßt ein stattlicher Bau, die neue Schule. Sie fand in der Enge des Tales keinen Platz mehr und stieg drum ein Stückchen die Höhe hinan. Wie glücklich dürfen die Kinder sein, die in einem so lichten, freundlichen Schulhaus ausgebildet werden. Hier ist auch der Lehrer von aller Enge befreit, und er kann in den wohlausgestatteten Klassen- und Fachräumen beste Ergebnisse seiner Arbeit erstreben und er­hoffen. Alle Bewohner des Dorfes aber werden die große Fürsorge der Regierung für die heranwachsende Jugend dankbar anerkennen und den Wert einer gediegenen Schulbildung hoch schätzen.

Jeder Fremdling, der jetzt nach Bartloff kommt, wird überrascht sein von der Viel­zahl der in allerjüngster Zeit aufgeführten Wohn- und Wirtschaftsgebäude. Während anderenorts die Bautätigkeit nur zögernd vorankommt, wächst und erweitert sich dieses Dorf nach allen Seiten hin, und du kannst ganze Straßenzeilen mit geschmack­vollen Neubauten finden. Das Rätsel ist bald gelöst; Bartloff besitzt einen großen, den Abbau lohnenden Tuffstein­bruch. Und da nach dem alten Sprich­wort jener, der das Kreuz trägt, sich auch zuerst damit segnet, so haben die unternehmungslustigen Bewohner das rare Bau­material nicht alles nach auswärts ab­fahren lassen, haben vielmehr selbst die Hand darauf gelegt und für sich und ihre Kinder gesunde, freundliche Wohnungen hingestellt.

Nun ziehe ich meines Weges, die breite Hauptstraße hinauf. Die Häuser, die so stolz und gerade ausgerichtet stehen, wie selten in einem Dorf, haben ihr Gesicht gegen einst nur wenig verändert, aber auch hier hat das Alte dem Neuen dann und wann weichen müssen. Die alten Gast­stätten „Zur Traube“, „Zum Löwen“ und von „Ed. Koch” sind nicht mehr. Neu ein­gerichtete Kaufläden mit freundlichen Schaufenstern zeigen in ihren Auslagen die Aufwärtsentwicklung unserer Wirtschaft und bieten ihre mannigfachen Waren an. – Auf einem engen, nicht glücklich gewähl­ten Platz, finde ich in der Mitte des Dorfes einen Erinnerungsstein an Bartloffs großen Wohltäter, Valentin Degenhardt. – Die Waisenkinder sind schon längst aus dem alten gebrechlichen Haus, in dessen Gebälk seit langem der Wurm fraß, ausgezogen. Wenn wir aber das Dorf durchwandert haben, finden wir oben bei der „Biege“ eine neue Brücke über den Wasserlauf gelegt, und gleich, wenn du die überschritten hast, stehst du vor einem großen, modern auf­geführten, gut eingerichteten Bau, dem neuen Waisenhaus. In diesem Heim werden die Kinder jetzt fürsorglich untergebracht, gut betreut und bestens verpflegt.

Jetzt brauchen wir nur noch wenige hun­dert Schritte zu gehen, und wir sind wieder da, wo sich das Wasser der Lutter über den harten Felsen stürzte. Hier hat sich nun aber alles völlig verändert: die beiden Müh­len mit ihren großen Wasserrädern sind längst verschwunden, bloß das Müllerhaus in der Tiefe steht noch da. Die Lutter nimmt sich jetzt nur selten die Zeit, lustig und verwegen über den großen Felsen zu springen; sie hat anderes zu tun. Mit ihrer frischen Jugendkraft treibt sie in der nahen Pumpstation eine Turbine, arbeitet in gleichmäßigem Rhythmus mit starken Motoren um die Wette und schickt Tag und Nacht frisches, gesundes Wasser auf die Eichsfelder Höhe. Das köstliche Wasser aber, das mehr als 200 Meter hoch den Berg hinaufsteigt in den großen Hoch­behälter auf dem „Rain“ über Effelder, ist das der Gläsenerquelle, die ich vor 45 Jahren so unversehens am Fuße des Westerwaldes fand und die mich einst so gütig erquickte. Und gerade in der Zeit, da ich damals für mich die frische Quelle entdeckte, suchten Menschen auf der dur­stigen Höhe nach gutem Trinkwasser, und sie kamen auch ins Tal zum Gläserner, prüften den Born und fanden, dass ein besseres Wasser nirgendwo zu finden sei, und sie errechneten, dass die Quelle so er­giebig ist, dass sie Wasser genug gab, um alle Menschen in Effelder, Struth, Eigen­rieden, Küllstedt, Wachstedt, Büttstedt und Kloster Zella gut zu versorgen und auch alles Vieh zu tränken, das da oben auf der „Höhe" in den Ställen steht. Schon im Jahre 1911 fasste man den Gläsener ein und leitete sein Wasser hier in die Pumpstation. Und nun steigt seit Oktober desselben Jah­res das Wasser den Berg hinauf, und nur wer die katastrophale Wassernot erlebt hat, die einst in den Höhendörfern zu Hause war, kann recht den reichen Segen ermessen, der nun Tag für Tag aus dem Tal auf die Höhe fließt.

Nun wollen wir noch zur Kloster­mühle. Auch hier hat sich in der Zeit, die ich meine, alles verändert. Der alte Müller ist schon längst gestorben, das Wasserrad dreht sich nicht mehr. Aus der klappernden Mühle ist eine einladende Gaststätte geworden, in der die Wander­lustigen von fern und nah so gern einkeh­ren, um dort nach „sauren Wochen“ Ent­spannung, Erfrischung und Erholung zu suchen. Sie werden nicht enttäuscht. In der Sommerzeit aber hallt von hier das Jauchzen der spielenden Ferienkinder hell das Tal entlang.

Ich muss jetzt zurück ins Dorf. Ich habe in froher Gesellschaft mit lieben Menschen einen guten Abend zu erwarten; denn es ist der 26. Juli, St. Annentag. Aber die Sonne steht noch hoch am Himmel, drum nehme ich mir Zeit. Ich meide die staubige Straße, schlendre auf bequemen Pfaden durch die Felder, springe an einer Stelle über den Rottenbach und steige dann den kleinen Hügel hinan, von dem ich das ganze Tal noch einmal überblicken kann. Hier habe ich früher, als ich von Effelder noch so oft die Berge herunterkam, manch liebes Mal gesessen und das freundliche Bild in mir aufgenommen. Aber jetzt sehe und spüre ich so eindringlich, dass sich in den dahingegangenen Zeiten auch in der Flur so vieles geändert hat. Großbartloff hat nämlich endlich auch seine Separation durchgeführt. Durch die Felder führen nun überall breite Wege und winden und stei­gen bequem zu den steilen Hängen empor. Die vielen Feldraine mit ihren Stein­ritschen und Schwarzdornhecken sind ver­schwunden. Die langgezogenen schmalen Pläne siehst du nicht mehr. Die Flur, die immer so ausschaute, als ob hier im 20. Jahr­hundert noch die alte Dreifelderwirtschaft herrsche, ist neu vermessen, abgesteint und verteilt worden. Darum vor allem schaut das Tal jetzt so anders aus.

Die Sonne sinkt hinter dem nächtlichen Bergwald, der Himmel färbt sich purpurn, und in den Klüften webt schon die Däm­merung. Ich lenke meine Schritte nun dem gastfreundlichen Hause zu. Aber die Er­kenntnisse, die mir der Tag und die Wan­derung gegeben haben, überdenke ich noch lange. Eines weiß ich und bin des gewiss: Alles, was hier geschaffen wurde, ist nur durch die entschlossene Tatkraft, den un­ermüdlichen Fleiß und den fortgeschrittlichen Gemeinschaftswillen der Bewohner dieses Tales möglich geworden. – Das Luttertal aber möge ewig in seinem Frie­den bleiben und niemals „darf der Tag er­scheinen, wo des rauen Krieges Horden dieses stille Tal durchtoben“.    

Franz Hunstock
(Quelle: „Eichsfelder Heimatborn“, Ausgaben vom 18.09.1954 und vom 02.10.1954)