Vergessene Bildstöcke - Dem Untergang geweihter Erinnerungsstein in der Wüstung Wolkramshausen bei Dingelstädt

Jeder Fremde, der in der Eisenbahn oder im Auto durch unser Eichsfeld fährt, mehr aber noch die Besucher, die in ihren Urlaubstagen das friedliche Ländchen durchwandern, sie alle werden bald feststellen können, dass dieser Landschaft ein ganz besonderer Cha­rakter eigen ist, wodurch sie sich von allen anderen Gegenden Mitteldeutschlands auf­fällig unterscheidet. Es ist das aber nicht so sehr der romantische Zauber, den die Natur dem Eichsfeld verliehen hat – solchen findet man auch anderwärts und oftmals noch in reicherer Fülle – nein, es ist das typische Gepräge, das die Bewohner selbst in ihrem tiefreligiösen Sinn der Heimat gaben und zwar so, wie man es in deutschen Landen immer nur da findet, wo die Menschen katholisch sind. Ich meine die mannigfachen und vielartigen Denkmale starken Glaubens und religiösen Lebens, die uns überall im Eichsfeld begegnen.

Weithin grüßen da von den Bergen und Hügeln gewaltige Kreuze als Sinnbilder der Erlösung in die Täler und Auen – an allen Wegen und Stegen stehen die Kreuzbilder Gottes – vielerorts hat frommgläubiger Sinn den nahen Berghang hinauf die Stations­bilder vom Leiden des Herrn aufgestellt – an stillen Plätzen laden Kapellen, Grotten und Wallfahrtskirchen den Pilger zum Beten ein – alte verwitterte Bildstöcke erzählen von fernen Tagen, schweren Zeiten und frommen Gelübden – auf allen Fluren, bei Dörfern und Städten sind unter schützenden Lindenbäumen „Wetterkreuze“ aufgestellt. Diese Wahrzeichen des Glaubens mit Liebe, Bekennermut und oft unter großen Opfern errich­tet, erheben das fromme Gemüt und lenken Denken und Sinnen der Menschen himmel­wärts. Das soll ja auch ihre Aufgabe sein.

Leider kann man das nicht mehr von all diesen religiösen Denkmälern behaupten. Man­che von ihnen, insbesondere jene, die schon vor Jahrhunderten aufgestellt wurden, schei­nen vielmehr vergessen zu sein; man geht achtlos an ihnen vorüber. Das ist tief bedauer­lich; denn gerade diese alten Bildstöcke haben uns so viel zu sagen; sie sind nicht nur frommes Erbe unserer Ahnen, sie sind oft mehr; es verbindet sich mit ihnen nämlich zumeist auch ein Stück unserer wechselvollen Heimatgeschichte.

Nun wird es so sein, dass manch einem beim Lesen dieser Zeilen jetzt gleich ein verwahr­lostes Zeichen alter Glaubenskraft einfällt, von denen das gesagt werden kann, und das vielleicht gar in seinem eigenen kleinen Dörfchen oder dessen Umgebung einsam und verlassen dasteht. – Ich denke auch gerade an solche, und weil ich nicht möchte, dass diese Mahnmale aus alter Zeit ganz in Verfall geraten oder völliger Vergessenheit an­heimfallen, eben darum schreibe ich jetzt diese Zeilen. Im Folgenden sollen einige dieser alten Bildstöcke erwähnt werden, für die das zutrifft, was oben gesagt und beklagt wurde. Es wird aber nur von jenen die Rede sein, die sich in der Ecke des Eichsfeldes finden, in der Dingelstädt liegt.

Ein solch vergessener Bildstock, dessen Schicksal mich besonders berührt, ist jener, der am alten „Bickenrieder Wege“ steht, der von Dingelstädt durch das Merteltal führt. Er ist von wucherndem Gebüsch ganz eingeschlossen und man muss schon achthaben, dass man ihn nicht übersieht. Wenn du das Gesträuch aber auseinanderteilst, kannst du oben in den verwitterten Steinreliefs noch die Bildnisse des gekreuzigten Heilandes, der Mut­ter Maria, des Lieblingsjüngers Johannes und der heiligen Brigitta erkennen. Frage: War­um steht hier in solcher Einsamkeit dieser altehrwürdige Bildstock? – Dieses ist die Ant­wort: Der Stein soll und will die Erinnerung an das „untergegangene“ Dorf Wolkrams­hausen und vor allem seine Kirche wachhalten. Niemand weiß, wer ihn errichtet hat und wann er aufgestellt wurde; aber die Art seiner Ausführung lässt vermuten, dass er schon im 17. Jahrhundert gesetzt wurde.

Dieser Bildstock hat mehrfach seinen Platz wechseln müssen. Man hatte das steinerne Erinnerungsmal zunächst auf der Stelle errichtet, auf der einst die Kirche von Wolkrams­hausen gestanden war. Als man aber vor 90 Jahren den noch erhaltenen „Wüsten Kirch­hof“ zur Separationsmasse mit heranzog, musste der Bildstock dem Ackerpfluge wei­chen. Man setzte ihn pietätvoll abseits auf dem Felde, pflanzte zu seinem Schutze einen Lindenbaum, schmückte den Platz um ihn mit Sträuchern und friedigte ihn wie ein Gärtchen ein. So habe ich als Kind diese stille Erinnerungsstätte kennengelernt und liebgewonnen. – Weil aber das umfriedete Gärtchen ein paar Quadratmeter dürftiger Ackerfläche beanspruchte, musste der alte Bildstock später erneut weichen; man beraubte ihn allen Schmucks und setzte ihn ganz nackt an den Wegrain. Da steht er nun, gebrech­lich und verwittert; er wird Zusammenstürzen, wenn nicht bald verständnisvolle Heimat­freunde sich seiner erbarmen.

Seit undenklichen Zeiten steht am Straßenrande zwischen Dingelstädt und Silberhausen, genau in der Mitte des Weges, ein behauener, schlichter Sandstein, dem einstmals ein Kruzifix ein religiöses Gepräge gab.

Wenn Menschen vorbeikamen, zogen sie andächtig die Mütze oder beteten einen from­men Spruch. So kannte ich das viele Jahre. Als ich aber nach langer Zeit die Straße wieder einmal heraufwanderte, war zwar der Stein noch da, aber er war tot. Was ihm einst Sinn und Leben gegeben hatte, das Christusbild, das war nicht mehr zu finden. So steht er denn heute ganz unschön am Straßengraben, niemand beachtet ihn. Das ist recht bedau­erlich; denn auch dieser Bildstock war wahrscheinlich noch mehr als ein frommes Mahn­mal; er war zugleich Erinnerungsstein, errichtet an der Stelle, wo nach Meinung bewähr­ter Heimatforscher ehedem das Dorf Undankshausen, das schon vor 1440 zur Wüstung wurde, gelegen haben soll. Diesem toten Sandstein wieder Leben zu geben und ihm im Sinne seiner Stifter die Aufgabe erneut zuzuweisen, Erinnerungs- und Mahnmal zu­gleich zu sein, das wäre not und scheint mir eine Aufgabe zu sein, die mit geringen Mitteln leicht zu lösen wäre.

„Wetterkreuze“ gibt es im Eichsfeld gar viele, aber ich glaube nicht, dass eines von ihnen wuchtiger ist als jenes, das südlich von Dingelstädt auf dem Flurteil errichtet wurde, den man „Auf der Melmen“ heißt. Man hat dem Kreuz einen erhöhten Platz gegeben, und es könnte, wenn nicht die Krone einer breitästigen Linde es ganz überdeckte, weit ins Land schauen, bis Beberstedt hinauf. Aber eben diese Linde ist seit vielen Jahren dabei, den mächtigen Obelisken samt dem Kreuz obendrauf, umzuwerfen. Und es hat seine Gründe. Als man nämlich das Wetterkreuz Anno Domini 1899 errichtete, wurde ihm, es zu schmücken und seinen Standort weithin sichtbar zu machen, eine junge Linde beigege­ben. Man setzte dieselbe dicht hinter den schweren Sockel des Kreuzes. Das Bäumchen erstarkte allgemach; die Wurzeln in der Erde dehnten und streckten sich, sie brauchten Platz. Da aber der großmächtige Stein über ihnen seinen Standort steif und fest behaup­tete, so fingen die Wurzeln an, erst langsam und schwach, dann aber immer drängender und stärker, den eigensinnigen Bildstock aus seinem Fundamente zu heben. Das ist nun bereits so weit gelungen, dass man schon an den Fingern ablesen kann, wieviel Jahre es wohl noch dauern wird, bis der mächtige Obelisk dem Drängen des Lindenbaumes nachgeben und in dem zähen Zweikampf zu Boden gehen muss. Ich denke, dass man dem bedrängten Stein, der einst in gläubiger Gesinnung und unter großen Opfern gesetzt wurde, noch rechtzeitig zu Hilfe kommen wird. Es ist aber hohe Zeit.

Wenn man die langweilige Chaussee von Dingelstädt nach Wachstedt hinaufwandert, so gewahrt man schon von weitem oben auf dem Höhenrücken etwas, was einem mäch­tigen Pfahl nicht unähnlich ausschaut. Kommt man aber näher, so hat man eine steiner­ne Rundsäule vor sich, die in der Höhe vierseitig geformt ist und kleine Nischen auf­weist. Dieser Bildstock wird von den Wachstedtern „Häilstock“ (Heiligenstock) genannt. Er steht aber sicher schon an die 200 Jahre an dieser Stelle. Vielleicht sollte er nicht nur als religiöses Mahnmal da oben wachen und ins Land schauen, sondern er hatte wahr­scheinlich beiher auch noch die Aufgabe, in den langen Wintern auf der Eichsfelder Höhe, wenn der Schnee die Wege verwehte und die Straßen versperrte, den Menschen, die aus dem Tal kamen, die Richtung nach Wachstedt zu weisen. Dieser „Heiligenstock“ hat schon viel erlebt, er hat insbesondere mit den schweren Stürmen da oben manchen harten Kampf bestehen müssen. Mit der Zeit ist er des ewigen Streitens mit den Wettern müde geworden und steht heute hart mitgenommen da, schief, wie der Turm von Pisa. Man muss sich wundem, dass er es in dieser misslichen Lage schon so lange aushält. Es wird notwendig sein, dass die lieben Bewohner von Wachstedt, die jederzeit einen er­staunlich großen Opfersinn aufbringen, wenn es um ihre Kirche oder um ihr Klüschen geht, nach dem altersschwachen Bildstock sehen und überlegen, wie sie ihm helfen können; denn ewig wird der „Häilstock“ so schief nicht dastehen können, das hält er nicht lange mehr aus; er kann stürzen über Nacht.

Und nun wollen wir rasch noch über die Berge hinweg in den Luttergrund bei Großbartloff wandern. Das liebliche Tal hat mich jederzeit ganz mächtig angezogen; jüngst erst war ich mit einer frohen Wandergruppe dort. Von all der Schönheit nahm uns am meisten der romantische Zauber an dem brausenden Wasserfall bei der ehemaligen Spitzmühle ge­fangen. Als wir nun, aus der dunklen Schlucht aufsteigend, wieder ans Sonnenlicht kamen und über die kleine Lutterbrücke schritten, stand da auf einmal ein aus Steinplat­ten zusammengefügter Bildstock, so, wie man sie auf dem Eichsfelde oft findet und die man hier „Station“ nennt. Es war aber in unserer Gesellschaft ein Jungmann aus Erfurt, der so etwas noch nie gesehen hatte. Der fragte interessiert: „Was ist denn das?“ Die Frage brachte mich in große Verlegenheit. Ich wusste nämlich, dass diesem toten Steingehäuse ehedem ein religiöses Bild Sinn und Leben gegeben hatte. Jetzt war da aber ein Nichts; fressender Rost hatte das Gemälde völlig zerstört. Es war mir nun peinlich, als ich erklären musste, dass in dem steinernen Rahmen ehedem ein frommes Bildnis verehrt worden sei, das den Menschen Trost und Erbauung gegeben habe. Kinder hätten gern dort gebetet, und ich hätte den Bildstock im Sommer nie ohne schmückende Feldblumen­sträuße angetroffen. –

Ja, so war das einst. Im Hasten und Treiben unserer aufgeregten Zeit ist dieser Bildstock offenbar vergessen worden. Es ist aber zu hoffen, dass man sich seiner bald wieder erin­nert und ihm den frommen Schmuck gibt, der ihm gebührt. So, wie ich die Menschen da unten in dem Dorfe kenne, werden sie das sicher auch bald tun.

Franz Huhnstock
(Quelle: „Eichsfelder Heimatborn“, Ausgabe unbekannt)