50 Jahre Kanonenbahn

Der Krieg von 1870/71 war glücklich beendet. Mehr denn je erkannte die preußische Heeresverwaltung den Vorteil direkter Eisenbahnen; das Aufmarschgebiet schnell zu erreichen, dem Feind zuvorzukommen, war oberster Grundsatz.

Die Eisenbahnlinie Halle – Kassel war schon im Betriebe, doch der Bogen über Kassel war unnützer Zeitverlust und so entstand der Plan – begünstigt durch die Milliarden aus Frankreich – eine gradlinige Eisenbahn über Sangerhausen, Sondershausen. Mühlhausen, Berlin, Marburg nach Koblenz zu bauen. Unter Ausnutzung der leistungsfähigen Linie Halle – Kassel entschied man sich aber für die kürzere Strecke: Leinefelde – Niederhone – Treysa, hier in die Main-Weser-Bahn einmündend, um über Marburg und Gießen Koblenz zu erreichen. Die Bahn sollte nur strategischen Zwecken dienen und erhielt so den Namen „Kanonenbahn“. Die eichenen Möbel der Wartesäle tragen heute noch an der Rücklehne die geschnitzten Buchstaben B. C. E. – Berlin- Koblenzer-Eisenbahn, die im Volksmunde noch mit „Metzer“ vervollständigt wurde.

Der Bau der für das Südeichsfeld so bedeutsam gewordenen Bahn begann 1875 und hat 5 Jahre gedauert. Gewaltige Schwierigkeiten mussten überwunden werden. In Abschnitte geteilt, wurde der Bau der Linie an mehreren Stellen fast gleichzeitig in Angriff genommen. Unternehmer mit großen Arbeitertrupps zogen in die einsame Gegend. Zuerst waren meist nur Italiener und Kroaten sowie einige Polen aus Galizien bei den Erdarbeiten beschäftigt. Die Bezahlung war für damalige Verhältnisse sehr hoch. Ein Arbeiter verdiente pro Tag und Schicht bis 9 M, während der übliche Lohn für die Frau 6 und für den Mann 10 gute Groschen (1 g. Gr. 12,5) betrug. Die Arbeitermassen waren in den um-liegenden Orten, teilweise auch in einfachen Bretterbaracken untergebracht. Ebenso schnell, wie sie das Geld verdienten, gaben sie es bei ihrem lockeren Leben auch wieder aus und goldene Zeiten waren für die sonst ruhigen Gaststätten angebrochen. Schlägereien und Stechereien bildeten oft den Schluss wüster Zechgelage. Später wurden mehr deutsche Arbeiter, namentlich aus Westfalen, eingestellt und erträglichere Verhältnisse geschaffen.

Bagger und Schlepper waren noch unbekannt; Hacke, Schippen, Brecheisen, Holzkarren mit Pferde- und Handbetrieb bildeten die einzigen Werkzeuge. Sprengungen wurden schon vorgenommen, die Sprenglöcher mussten jedoch mühsam mit der Hand gestemmt werden. Dass bei dieser Bauweise trotz großer Arbeitermassen die Arbeiten nur langsam vorangingen, ist nicht verwunderlich.

Der Bau war kostspielig und sehr schwierig. Allein auf der Strecke Küllstedt – Schwebda waren 6 Tunnel, zwei große Brücken, mehrere kleine und viele Durchlässe und Unterführungen zu bauen, bis Eschwege waren dann noch zwei längere Brücken herzustellen.

Der große Küllstedter Tunnel ist 1600 m lang, die Länge der vier folgenden: Kleiner und Großer Mühlberg, Heiligenberg und Entenbergtunnel beträgt zusammen rund 1000 Meter; der Dachsbergtunnel vor Schwebda misst 1200 m.

Die Brücke, die über das Dorf Lengenfeld führt, ist 350 m lang und hat eine Höhe von 30 m. Von zwei Kopfstücken und 6 Pfeilern aus Muschelkalksteinen werden 5 Bogen und 2 gerade Joche getragen, die locker in Lagern ruhen. Der größte Pfeiler mit einer Länge von 8,75 m, Breite von 8,55 m und Höhe von 25 m hat somit einen Rauminhalt von 776 cbm. Etwa 400 Fuder mit je 2 cbm Steine waren für einen solchen Riesen nötig. Ein großer Teil der Bausteine stammt aus den Struther Brüchen, ein Teil wurde im Dünberg bei Lengenfeld, ein anderer bei Bernterode gewonnen, die alle mit Pferdewagen herangeschafft werden mussten. Eine Dammaufschüttung von riesigem Ausmaß war an der Friedabrücke vor dem Dachsbergtunnel erforderlich. Um die Brücke möglichst kurz zu halten, musste ein Damm von rund 300 m Länge und 30 m Höhe aufgeschüttet werden, was 4 Jahre lang gedauert hat.

Ein ganz neues Gewerbe brachte hohen Verdienst. Bauern, die höchstens 1 – 2 Pferde hatten, kauften dazu und stellten 3 und mehr Gespanne. Mit zwei Pferden und einem Knecht verdienten sie täglich 15 – 17 M. Dass dadurch die Landwirtschaft ins Hintertreffen kam, ist erklärlich. Die zum Bahnbaugelände benötigten Äcker, Wälder und Ödländer erzielten hohe Preise. Die in der sogenannten Gefahrenzone unter der Brücke liegenden Häuser wurden besonders gut bezahlt. Sie mussten abgerissen werden. Eine Umwertung der wirtschaftlichen Verhältnisse trat ein; manchen Familien gereichte dieses leider zum Schaden, sehr vielen aber zum Vorteil. Das leicht und schnell erworbene Vermögen wurde oft ebenso schnell wieder vertan und als der Bahnbau fertig war, waren viele Unternehmer und Bauern auch „fertig“.

Die Festlegung der Linie machte besonders von Großbartloff ab große Schwierigkeiten. Bis dahin war das Gelände für die Linie bestimmend. Nun musste das Friedatal durchquert werden. Die projektierte Linie vom Entenberg über das Luttertal an der Feuerkuppe (Heiligenberg) entlang an Geismar vorbei, um nun den Dachsberg zu erreichen, wurde bald verworfen. Dasselbe Schicksal erlitt der Vorschlag, den Bogen in Richtung Faulungen zu erweitern, um den Brückenbau zu vermeiden. Am Ende entschied man sich doch für den Friedaviadukt über das Dorf.

Als Bahnhöfe wurde gebaut: Dingelstädt, Küllstedt, Geismar, Schwebda und Eschwege. Diese Weitläufigkeit zeigt deutlich das geringe Reisebedürfnis der damaligen Zeit.

Am 15. Mai 1880 war der Tag, an welchem das Südeichsfeld an das große, aber noch sehr weitmaschige Verkehrsnetz angeschlossen wurde. Der Personenverkehr entwickelte sich zunächst schüchtern und nahm erst zu, als nach längerer Zeit die erwarteten Unglücksfälle ausgeblieben waren.

Trotzdem die Bahn nun vorhanden war, mussten noch viele Kilometer zu Fuß oder mit dem Wagen zurückgelegt werden, bevor der nächste Bahnhof erreicht wurde. Viel Spaß bereitete dem Verfasser z. B. eine Reise von Lengenfeld nach Leinefelde und weiter. Nachdem die Wagenfahrt nach Geismar glücklich überstanden war, wurde der Wartesaal bezogen. Schließlich kam auch der Zug. Da aber alle Züge „gemischt“ waren, d. h. Güterverkehr hatten, wurde zunächst längere Zeit rangiert, ein- und ausgeladen. War diese Arbeit beendet, läutete eine etwa 30x60 cm große Glocke und dann erst durfte eingestiegen werden; die Personenwagen waren immer am Schluss. Nachdem man also 1,5 – 2 Stunden von zu Hause fort war, fuhr man über das Heimatdorf, den Lieben zuwinkend. Oft wurden auch in Geismar gekaufte Salzbretzeln – eine Spezialität des Bahnhofs – eingewickelt und abgeworfen.

Diesen Zeitaufwand nahm man gern in den Kauf, mussten doch vorher die Bahnhöfe Heiligenstadt, Leinefelde, Mühlhausen. Gotha (vor 1868) oder Eisenach anqelaufen werden, wollte man in die „Welt“. Das Reisebedürfnis war gering. Ältere Personen trauten dem Ding nicht. Noch 1895 gab es viele Personen, die den Zug noch nicht benutzt hatten.

Was brachte nun die Bahn dem Südeichsfeld? Die erleichterte Reisemöglichkeit lockte viele, besonders junge Leute, in die Fremde. Dieser Fortzug war bis 1900 so stark, dass die Bevölkerung in jedem Ort merklich abnahm. Über ganz Deutschland verbreiteten sich die „Eichsfelder“, die es zumeist mit Fleiß und unbeugsamen Willen zu Vermögen und Ansehen brachten. Für die Soldaten, die bis dahin ihre drei Jahre „in einem Stück abrissen“, brachte die Bahn angenehme Unterbrechungen der Dienstzeit durch Urlaub. Bei Sterbefällen gab es keinen Urlaub, da der Begräbnistag nicht erreicht werden konnte. Nach und nach, besonders nach 1900, siedelt sich Industrie an; namentlich fanden Zigarrenfabriken günstige Arbeiterverhältnisse. Die „Spargel-“, „Konserven-" und „Rübenmädchen“ fanden lohnenden Verdienst in der Heimat. Nur die sogenannten Zugvögel strichen noch in die Fremde.

Hier muss hervorgehoben werden, dass die Preußische Eisenbahn zur Zeit des Kirchenbaues in Lengenfeld, Grundsteinlegung 24.5.1882 – als noch Haltestelle und Bahnhof fehlten – von 1882 – 1884 zuließ, dass die vom nordwestlichen Eichsfeld kommenden Sandsteine an dem Platz, wo später die erste Haltestelle angelegt wurde, abgeladen werden durften. Der schwierige Fuhrwerkstransport von Geismar wurde somit erspart. Ein solches Entgegenkommen dürfte einzig dastehen und verdient festgehalten zu werden.

Erst später ergab sich das Bedürfnis, in den Orten Lengenfeld, Großbartloff, Effelder und Kefferhausen Haltestellen einzurichten. Langenfeld bekam seine erst Haltestelle 100 m vom westlichen Brückenkopf am 1. Mai 1888; am 16. Dezember 1908 wurde der neue Bahnhof mit Güterverkehr eröffnet. Effelder erhielt am 1. Dezember 1905 und Kefferhausen im Dezember 1903 je eine Haltestelle. Die Haltestelle von Großbartloff wurde am 1. Dezember 1894 eingerichtet. Bei Einrichtung der Haltestelle in Effelder hat sich besonders die männliche Jugend hervorgetan. Unter Leitung des Herrn Schulzen wurden die gesamten Erdarbeiten von dieser selbst ausgeführt. Bei Inbetriebnahme der Haltestelle fuhren dann alle Beteiligten mit dem Zuge nach Geismar, wo im Wartesaal das Ereignis durch ein nasses Frühstück und mit Sang und Klang gefeiert wurde. So entstanden für Effelder in der Hauptsache nur einige 1000 RM Unkosten für die technische Einrichtung.

Das weitere Schicksal:

Als schon mit der Möglichkeit eines Krieges gerechnet wurde, ging man gegen 1910 daran, die Linie, die teilweise schon Überholungsanlagen hatte, zweigleisig auszubauen. Güterzüge auf Güterzüge rollten heran. Bettungsmaterial, Schwellen und Schienen herbei zu schaffen. Noch einmal entrollte sich Las Bild eines Bahnbaues. Überwege wurden beseitigt und viele Arbeiterkolonnen hatten guten Verdienst für schwere Arbeit. Die Kommandorufe beim Einschwenken fertiger Joche klingen heute noch im Ohr.

Etwa 1912 war der Ausbau beendet; man erhoffte sogar Schnellzugsverkehr zur Entlastung der Halle-Kasseler-Strecke. Da brach der Weltkrieg aus. Schon bei drohender Kriegsgefahr stellte sich der Bahnschutz, um Tunnel und Brücken zu sichern, damit der Aufmarschplan nicht durch eine Brückensprengung gefahndet wurde. Alles verlief glatt, der Stundenverkehr erfolgte ohne Störung. Jetzt kann aber wohl festgestellt werden, dass der geringe Kriegsverkehr dieser Strecke mühelos von anderen Linien mit bewältigt worden wäre. Die immer mehr zunehmende Geschwindigkeit der Züge und Einführung größerer Maschinen verurteilte die einst mit so großen Hoffnungen angelegte Strecke zur Bedeutungslosigkeit und degradierte sie zur Nebenbahn.

Trotzdem soll die „Kanonenbahn“ dem siegreichen Feindbund noch Alpdrücken verursacht haben, sodass er die Entfernung des zweiten Geleises im Friedensvertrag forderte. Noch einmal fauchten ungezählte Güterzüge heran, Schienen, Schwellen und Bettungsmaterial abzufahren. Man merkte es den Arbeiterkolonnen aber an, dass die Arbeit niederdrückend wirkte. Die gewonnenen Baustoffe wurden Strecken zugeführt, die durch den Kriegsbetrieb besonders gelitten hatten. Auch die große Brücke über Lengenfeld wurde zur Hälfte abgetakelt und gleich Dachsparren, die vom Feuer verschont blieben, ragen die eisernen Querschienen in die Luft. Die Strecke hat fast nur noch Lokalverkehr, vermittelt aber nach allen Seiten gute Anschlüsse.

Gleichwie die Schwierigkeiten beim Bau groß waren, so blieb auch die Unterhaltung ständig kostspielig. Man könnte die Strecke ein Sorgenkind der Eisenbahn nennen.

Am 27. Mai 1904 und später noch einmal brach nach heftigen Gewittern mit Wolkenbrüchen ein Teil des Gewölbes im großen Küllstedter Tunnel ein. Lehmwasser und Schlamm übergoss die Wagen; niemand wurde verletzt. Ein lange Zeit bestehender Pendelverkehr regelte die Verbindung bis Effelder im Süden und bis Küllstedt im Norden. Noch im Vorjahre entstand ein Gewölbeeinbruch im Dachsbergtunnel, der sogar die Umlegung der Bahn um den Berg erörtern ließ.

In jahrelanger Arbeit sind sämtliche Tunnelgewölbe durch eine 1 m dicke Ziegelsteindecke erneuert: Die Brücken werden durch Ölfarbenanstrich rostfrei gehalten. Gelegentlich dieser Arbeit fiel im Jahre 1900/1901 ein Anstreicher aus einem Bogen der Lengenfelder Brücke – etwa 26 m tief – ohne sich ernstlich zu verletzen. Sein Malerkittel hatte besser gewirkt als mancher Fallschirm und ihn vor dem Tode bewahrt. Überhaupt ist die Bahn, die zwischen Eschwege und Küllstedt eine Steigung von 240 m auf 28 km zu überwinden hat, fast ohne nennenswerte Unglücksfälle geblieben. Nur beim Bau wurde in Lengenfeld durch Unvorsichtigkeit durch eine Sprengladung ein Beamter getötet, während im Dachsbergtunnel während des Baues bei einem Einbruch einige Leute und Pferde abgeschnitten wurden, aber alle heil wieder ans Tageslicht gebracht werden konnten.

Trotz des starken Gefälles, ist es nur einmal vorgekommen, dass ein Güterzugteil vom Bahnhof Geismar ins Rollen kam und bis zum Bahnhof Schwebda sauste, wo er ohne Schaden angerichtet zu haben, auf ein Nebengleis geleitet werden konnte.

Nun bliebe noch zu erwähnen, welche Wirkung die Eisenbahn auf den Postverkehr gehabt hat.

Bis zur Eröffnung der Bahn bestand die Personen-Postverbindung Heiligenstadt – Ershausen –Eschwege. Von Ershausen zweigte eine Verbindung über Geismar – Lengenfeld nach Mühlhausen ab; zwischen Ershausen – Lengenfeld zogen Hunde den kleinen Postkarren. Großbartloff und Effelder, auch Struth wurden von Küllstedt versorgt; von hier bestand direkte Verbindung nach Dingelstädt/Silberhausen an der Strecke Leinefelde – Gotha. Nunmehr wurde das Postamr (Postexpedition) von Ershausen nach Geismar Bahnhof verlegt. Von hier aus wurden täglich 1 – 2 Mal sämtliche Orte, die in dem Bezirk Geismar – Kella – Dieterode – Ascherode – Effelder – Diedorf, Hildebrandshausen liegen, mit Post versehen. Von der Zentrale Geismar holte ein Fuhrwerk die Post nach Ershausen mit Hinterland, eine Botenpost ging nach Großbartloff mit Effelder. Von Lengenfeld fuhr ein sogenannter Kastenwagen nach Geismar zu den Zügen, Post und Reisende befördernd. Aus jener Zeit stammt eine noch heute gebrauchte Redewendung: „Me wun je wö henkumme“, die der weibliche Postkutscher einem ängstlichen Reisenden gegenüber gebrauchte, als dieser seine Besorgnis über die späte Abfahrt äußerte. Auch die gern besuchte Gastwirtschaft am Walde beim Bahnhof Geismar, die dem Bahnhofswirt noch heute gehört, bildete damals lange Jahre den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens für das ganze Südeichsfeld.

Mit Einrichtung der Haltestellen, besonders aber durch den Bau der Eisenbahn Heiligenstadt – Schwebda schwand die Bedeutung von Geismar immer mehr. Die Post wurde an den Haltestellen ausgetauscht, die Fuhrwerke und Botenposten mussten verschwinden. Seit dem 1. Mai 1930 hat das früher weit verzweigte Verbindungen unterhaltende Postamt nur noch den Charakter eines Zweigpostamts.

Mit dem 15. Mai sind 50 Jahre verflossen, die entscheidend die Geschicke des Südeichsfeldes beeinflussten und ungezählte Vorteile für Vergangenheit und Gegenwart gebracht haben. Mögen auch die kommenden Jahre dieser idyllischen Gegend nur Gutes bringen.

Autor: W. F.
(Quelle: Heimatborn, Heimatbeilage zum Eichsfelder Volksblatt, Heiligenstadt, Nr. 4., Jahrgang 1930)