Morgenandacht auf der Klosterschranne

Lengenfeld unterm Stein, den 5. Mai 1934

Wer einmal in sonniger Maienzeit vor dem ersten Lerchenschlag sein Lager verlassen hat, um den Sonnenaufgang über der Klosterschranne zu beobachten, der wird sich bewusst, dass alle Schönheit der uns umgebenden Welt der unmittelbare Ausfluss göttlicher Schöpfungsgedanken ist. Der kehrt nicht heim, ohne von den Wundern der Schöpfung in seiner Heimat ergriffen zu sein. Dem geht in tiefster Seele die Sonne auf. Den nehmen Erinnerungen aus unschuldigen Kindheitstagen sanft bei der Hand und führen ihn liebevoll zu Gott im Vaterland, dessen unendliche Güte in der Vielgestalt der Naturdinge Auge und Seele des Menschen treffen. Der erkennt, wie viel Liebe in und um uns allenthalben herumliegt und, wenn wir es recht einsehen und glauben, uns aus jeder Blume und aus jeder Farbe und hinter allen Bäumen und Büschen und hinter den Wolken bis zu den fernsten Sternen versteckt immer freundlich in die Augen sehen will.

Wir schreiten durch das ruhige Dorf. Das Plätschern der Frieda unterbricht die Morgenstille. Hin und wieder weckt ein Hahn. Noch steht der heilgrüne Wald stumm in der Hülle der Morgendämmerung. Hier und da stimmt ein Lerchenhähnchen sein Instrument, äugt mit schnellen Kopfwendungen zum Himmel, horchend, ob‘s zur Morgenandacht schon Zeit sei. Es gehört ja zu den Vorsängern im Dome Gottes und muss beim Kyrie dabei sein? Ein Häschen hoppelt über die Straße, macht erstaunt einen Kegel, wischt sich ein paar Tauperlen aus dem Bart, hoppelt weiter, vollendet seine Toilette und frühstückt im grünen Klee.

Das Friedatal hat der träg steigende Morgennebel in einen gewaltigen See mit wundersamen Schluchten und phantastischen Steilufern verwandelt. Dis Oberförsterei lugt wie ein Fischerhäuschen von seinem Ufer herüber. Über der Klosterschranne liegt die Morgenröte wie ein riesiges Altartuch. Ein leiser Morgenwind kämmt die dufthauchenden Obstblüten, führt ein wenig Blütenschnee eine Strecke spielend mit und lässt ihn dann ganz vorsichtig zur Erde fallen. Hinter dem scharfen Klippenrand rollt ein unsichtbarer Küster das rote Altartuch zusammen und zündet auf den tauschimmernden Blättchen der Weißdornsträucher tausend flimmernde Lichtlein an. Wie von lichtvollen Engelhänden gehoben, erscheint über dem Altartisch der Klosterschranne die weiße Sonnenscheibe als riesige Hostie. Aus den Büschen an seinem Fuße klingt die feine Glockenstimme des Hänflings herauf. Es ist Wandlung der Nacht zum Tag. Gnadenstrahlen gleich fluten von ihr aus die ersten Segnungen des Tages über die heimatlichen Fluren. Sie dringen in jede Geländefalte, wecken jedes Käferlein, das sich aus seiner verborgenen Behausung zum nächsten Tautröpfchen begibt, den Frühtrunk zu tun. Sie bringen die Nebel zum Weichen und wecken alles Leben auf dem Grund. Millionen erstaunter Kinderaugen gleich leuchten allenthalben Blütenkelche im Schimmer glitzernde Tautropfen auf. Der Wald wird lebendig. Blütenkelche, die nachts geschlossen waren, tun sich auf und spenden Weihrauch. Insekten krabbeln, das Wild schreitet zum Frühmahl. Von der Empore der Berge aber erklingen liturgische Melodien in tausendfältiger Harmonie.

Die ersten Lerchen steigen jubelnd empor. Sie singen Marienlieder in den jungfräulichen Morgen hinein. „Hoch preiset meine Seele den Herrn“, klingt es über den Äckern, Wiesen und Wäldern. Finken begleiten die Passagen der ersten Sänger. Auf Dächern und Bäumen und der Windfahne des Kirchturmes flöten die Stare. Aus einem Waldwinkel heraus läutet der Kuckuck. Selbst der Flegel Spatz zschülpt mit einem freudigen Unterton. Viel später erst fällt eine verschlafene Krähe dazwischen ein. Nicht eben schön, im ganzen Orchester aber wie ferner und gedämpfter Trommelwirbel. Nach und nach schwillt es ab. Die Lerche nur betet hoch oben noch den Engel des Herrn. Die meisten Sänger gehen wieder ihrem Tagwerk nach, bauen an ihren Heimen, arbeiten für Familie und Gemeinschaft. Die Morgenandacht ist beendet. Der Mensch, der König der Schöpfung, aber liegt noch bewusstlos im trägen Schlaf begraben und wird sich nicht aus seinem Scheintod erheben, bevor das prächtige Naturschauspiel vorüber ist.

Autor: unbekannt
Quelle: „Eichsfelder Heimatbote“ vom 12.05.1934)