Ein rabenschwarzer Tag in der Geschichte meiner Heimatgemeinde Struth

Am 2. Februar 2001 wurde in der TLZ und TA unter der Schlagzeile „Schwärzester Tag von Struth“ von den Ereignissen zum Kriegsende vor 56 Jahren berichtet. Über diese schrecklichen Tage hat der Heimatforscher Eduard Fritze aus Wachstedt ein Buch geschrieben, in welchem viele Augenzeugen zu Wort kommen.

Auch ich habe die damaligen Ereignisse als Jugendlicher von 16 Jahren hautnah in meinem Heimatdorf Struth miterlebt. Und jedes Jahr, wenn die Osterzeit heranrückt, muss ich unwillkürlich an diese verhängnisvollen Tage in Struth denken. So lasse ich diese Zeit als Erinnerung in meinem Geist Revue passieren. Am dritten Ostertag 1945 waren amerikanische Truppen – von Wanfried her kommend – bis zum Abend nach Eigenrieden vorgedrungen. Im sogenannten „Kringel“ auf der Reichsstraße 249 waren Panzersperren errichtet und ein weiteres Vordringen nach Mühlhausen an diesem Abend unterbrochen. Am anderen Morgen rollten dann die amerikanischen Panzertruppen den ganzen Tag durch Struth und gingen zwischen Struth, Küllstedt, Bickenriede und Dörna in Kampfstellung. Massives Kriegsmaterial an Panzern und Geschützen standen dicht an dicht zu einem Gegenangriff bereit.

Am nächsten Tag – es war Donnerstag – wollten einige Freunde und ich dies Massenaufgebot an Kriegsmaterial ganz nahe von oben betrachten. Da die Amerikaner ohne einen Schuss und ohne Widerstand zunächst unser Dorf eingenommen hatten, bestiegen wir den Kirchturm ohne Angstgefühle. Wir kletterten bis in die oberste Spitze. Wir schauten uns diese gefährliche, aber auch uns imponierende Militärmaschinerie von oben aus den Schalllöchern an und waren über so viel konzentriertes Kriegsmaterial dicht vor unserem Dorf überwältigt. Es überschritt unsere kindlich-jugendlichen Vorstellungen. Und zu diesem Zeitpunkt hätten wir nicht geglaubt, dass ein deutscher Gegenangriff noch so viel Leid über Struth bringen würde. Doch im gleichen Moment, als wir uns dieses militärische Potential anschauten, flog ein Aufklärungsflugzeug der Amerikaner nur einige Meter entfernt in gleicher Höhe von uns am Kirchturm vorbei. Ganz deutlich konnten wir den Piloten erkennen und er hatte uns durch Blickkontakt wahrgenommen. Aber wir ahnten nichts Böses.

Das Flugzeug landete auf dem „Schildchen“ bei der Feldscheune Stude, wo sich amerikanisches Militär aufhielt.

Einige Minuten später rochen wir Zigarettenrauch, der zu uns im Kirchturm aufstieg. Zunächst wunderten wir uns, woher dieser Rauch kam. Doch plötzlich, auf ganz leisen Sohlen, waren drei schwer bewaffnete amerikanische Soldaten vor uns im Kirchturm. In diesem Moment war uns allen das Herz in die Kniekehle gerutscht. Doch einer von diesen sprach sehr gut Deutsch und sprach uns an. Er sagte uns, dass uns der Pilot entdeckt habe. Die Amerikaner waren der Meinung, im Kirchturm hätten sich Späher der deutschen Wehrmacht eingenistet. Sie wollten sich davon überzeugen, was im Kirchturm los war. Der deutschsprechende Amerikaner sagte sinngemäß zu uns: „Boys, ihr habt euch in eine lebensbedrohliche Lage gebracht. Auf den Kirchturm sind Geschütze und Maschinengewehre gerichtet. Im kleinsten Verdachtsmoment hätten diese euch durchlöchert.“ Vor den Amerikanern verließen wir mit schlotternden Knien den Kirchturm. Wir hatten unser Leben aufs Spiel gesetzt und waren uns dieser Gefahr nicht bewusst.

Jugend kennt keine Gefahr! In unseren Elternhäusern haben wir wohlweislich hiervon nichts erzählt. Doch der Kriegstag war noch nicht um. Es sollte noch schlimmer für mich persönlich kommen. Es war ein regnerischer Nachmittag. Vor unserem Haus – vor der Kirche – standen große amerikanische Lastwagen. Laufend wurden gefangengenommene deutsche Soldaten gebracht und auf die Lastwagen verladen. Dicht an dicht saßen und standen sie auf den Fahrzeugen. Wieder trieb mich jugendliche Neugier und Abenteuerlust hinaus zu den Militärlastern. So weiß ich noch heute, einen grauen Regenmantel hatte ich an und eine schwarze Skischildmütze als Kopfbedeckung. Um die Laster standen schwer bewaffnete amerikanische Soldaten. Sie hielten mich scheinbar für einen deutschen Soldaten, denn plötzlich schnappten mich zwei kräftige farbige Soldaten und beförderten mich mit Schwung auf den Lastwagen. Ich kleines Kerlchen wog gerade mal 50 Kilo. Wie eine Fügung des Himmels stand im gleichen Moment meine Mutter im Hoftor und erkannte sofort die schreckliche Situation. In ihrer Angst und Verzweiflung brachte sie den Mut auf, kam auf den Lastwagen gesprungen und riss mich förmlich herunter. Es geschah im Bruchteil von Sekunden, und ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Die amerikanischen Soldaten aber auch nicht.

Sie waren anscheinend so überrascht und überrumpelt. Meine Mutter rief in Todesängsten einige Male ganz laut:

„Das ist mein Junge, das ist mein Kind, er ist kein Soldat.“ Zu mir sagte sie im Befehlston: „Marsch, mach dich rein ins Haus!“

Ob die Amerikaner die Worte meiner Mutter verstanden haben, weiß ich nicht. Sicherlich aber die ängstlichen und todesmutigen Gesten meiner Mutter, wenn sie ihr Kind in Gefahr sieht. Die bewaffneten Amerikaner ließen dies alles geschehen. Sie legten keine Hand an und krümmten meiner Mutter kein Haar.

Wo nimmt aber eine Mutter in solch einem Moment der Gefahr, den Mut und die Kraft her?

Wir waren fünf Jungen in der Familie. Vier waren bei der Wehrmacht. Einer davon schon gefallen. Und ich – der einzige, der noch zu Hause war – befindet sich plötzlich in Lebensgefahr.

Angst und Mut gaben ihr sicher die Kraft.

Viele Menschen mussten in den Kriegs -und Nachkriegswirren ihr teils junges Leben noch lassen.

Denn zwei Tage später, nach den geschilderten persönlichen Erlebnissen, kam ja erst der schwärzeste Tag in der Geschichte von Struth. Durch einen Gegenangriff deutscher Truppen mussten am 7. April 1945 noch 215 deutsche Soldaten und 17 Einwohner ihr Leben lassen. Aber auch die Amerikaner hatten große Verluste an Menschenleben zu beklagen. Jeder zweite Einwohner von Struth verlor Hab und Gut und stand vor einem Nichts. Das Heimatdorf Struth war ein Trümmerhaufen aus Schutt und Asche.

Dieses traurige Drama zum Kriegsende in Struth, am Samstag vor dem „Weißen Sonntag“, ist uns Älteren noch in unvergesslicher und aufrüttelnder Erinnerung. Dachten und sagten wir doch alle nach Kriegsende: „Nie wieder Krieg!“ Aber was ist leider aus diesem Vorsatz geworden?

Schauen wir uns um, vor unserer Haustür in Europa!

Für die jüngere Generation könnte ich daher die Schilderungen von Eduard Fritze in seinem Buch über das Kriegsende in Struth „wärmstens“ empfehlen. Aber auch in unseren Schulen sollte man darüber reden.

Willi Tasch
(Quelle: „Lengenfelder Echo“, Apri-Ausgabe 2001, S. 6)