Hülfensberg-Erinnerungen eines alten Eichsfelders

Es war in der Nacht vom 10. zum 11. Juni 1899. Mit einigen größeren Schulknaben war ich schon am Nachmittag auf den Hülfensberg gegangen. In der Kirche wurde von den Wallfahrern, die den Schlaf opfern wollten, ununterbrochen laut gebetet und gesungen. Müde Pilger hatten sich auf dem Bergplateau niedergelegt und schlummerten, bis es empfindlich kalt wurde und man sich lieber bewegte. Wir standen auf der Ostwand und schauten zum Sternenhimmel hinauf. Da – weit vor der Zeit – schien die Sonne schon aufgehen zu wollen. Der Himmel rötete sich schnell und schneller. Wir erlebten ein grausig-schönes Schauspiel. Die neue Kirche zu Effelder stand in einem Flammenmeer. Größte Erregung bemächtigte sich der Wallfahrer. Frauen weinten, Männer bedauerten, nicht helfen zu können. Alle waren in Sorge um das himmelweisende Bauwerk des genialen Bruders Paschalis Gratze. Doch sie konnten nur beten. So nahe rückte das Feuer und so hell wurde es um uns, dass wir die Kirchenfenster hätten zählen können. Allmählich wurde es Tag, Sonntagmorgen.

Am östlichen Horizont stieg eine Rauchwolke auf. Auf dem Berge verbreitete sich die Kunde von dem verheerenden Brande, dem sechs Wohnhäuser und acht Scheunen zum Opfer gefallen waren.

Diesmal hatten wir Jungen noch nicht an der nächtlichen Prozession teilnehmen dürfen. Im folgenden Jahr aber galt das Läuten in der Geisterstunde auch uns. Es wäre ein müßiges Unterfangen, die Stimmung in Worte kleiden zu wollen, in der wir aus der Dorfkirche traten und „Auf mein’ Seel, fang an zu loben …“ mitsangen. An den Fenstern standen traurig die Geschwister und alten Leute, die Haus und Hof hüten mussten. Feierlich schritten die Burschen aus, denen die Ehre zuteilwurde, die Fahnen tragen zu dürfen. Und „Hämmerchen”, der mit seinen Söhnen das Privileg des Vorsängers hatte und bis zu seinem Tode behauptete, stimmte die gern gesungenen Wallfahrts- und Marienlieder an. Wachtel schlugen in dem schossenden Korn, Wiesenknarrer ächzten, als wir durch die Felder zogen und ihre Buhe störten. Im Keffer schrien die Eulen auf. Ascherode war doch ihre Welt, in die in so ungewohnter Stunde das ganze Jahr hindurch Menschen in solchen Scharen nicht einzudringen pflegten. Noch lag der Hülfensberg im Nebelgrau, als wir uns über Martinfeld und Ershausen näherten. Nicht nur unsere Prozession, viele andere noch bewegten sich auf Straßen und Feldwegen. Dicht folgten sie einander auf dem Kreuzwege. Der Montag, der eigentliche Hülfenstag mit anhaltendem Gottesdienst, war angebrochen. Der Priester auf der Kanzel sei der Bischöfliche Kommissarius aus der Stadt, wurde uns gesagt. Ihm sollten wir besonders andächtig zuhören. Das haben wir denn auch getan. Man fühlte sich so erwachsen und so stolz, beim Umgange den Fahnen des Heimatdorfes folgen zu können! Jede Gemeinde hatte die schönsten. Messdiener und Burschen waren fest davon überzeugt, wie wir selbstverständlich auch alle die schönsten Kirchen und größten Glocken hatten. Noch heute denke ich an das Glück, das wir empfunden haben, an die Freude auch, die die Augen der schaulustigen Jugend ausstrahlten, die das Eichsfeld aus der Höhe des Hülfensberges sah.

Jahre vergingen. Ich kam aus der Fremde. Der Hülfensberg war der alte geblieben. Dann saß ich in einem Verkehrsflugzeuge der Leipzig-Kölner-Linie. In 800 Meter Höhe schwebten wir an einem klaren Maimorgen vom Harz herüber. Kaum hatten wir den Kyffhäuser überflogen und Nordhausen erkannt, als sich im ferneren Blickfelde der Hülfensberg aus der Landschaft heraushob. Auch der Kegel des Rusteberges wurde sichtbar. Wäre ich bis dahin nicht davon überzeugt gewesen, dass der Hülfensberg als ehemalige heidnische Kultstätte anzusprechen ist, jetzt wäre es geschehen. Die Missionare wären keine guten Psychologen gewesen, wenn sie diesen Berg nicht in den Dienst des Christenglaubens übernommen hätten.

Im Herbst 1922 begleitete ich den Dichter Franz Herwig zum Hülfensberge. Der gute P. Onuphrius, der damals Präses war, hatte mir auf eine Anfrage geantwortet, Herwig möge einige Wochen Gast der Franziskaner sein. Es wurden Wochen der Erholung und reichen dichterischen Schaffens. U. a. ist „Der Namenlose” in dieser Zeit entstanden. Für Herwig, der sich ganz als Eichsfelder fühlte, ist der Aufenthalt auf dem Hülfensberge nach Jahren unsteten Wanderlebens eine wirkliche Heimkehr geworden. Er gewann das Eichsfeld, das Land seiner Väter, so lieb, dass er oft und gern wiederkam. Und es ist kein Zufall, dass er den Daniel in dem großen Berliner Roman „Die Eingeengten” im Angesicht des Hülfensberges sterben lässt. Nach einer Tagung der katholischen Dichter und Schriftsteller auf dam Normannstein wanderte Herwig, der die Aussprache geleitet hatte, über die Adolfsburg, Plesse und Keudelskuppe auf das Eichsfeld. Zwischen ihm und dem Hülfensberg entwickelte sich ein feines Freundschaftsverhältnis. Als der Dichter bald nach der Vollendung seines 50. Lebensjahres am 15. August 1931 in Weimar gestorben war und ich im Trauergefolge den Präses P. Bonaventura vom Hülfensberge sah, kam mir erst ganz zum Bewusstsein, wie hoch die Jünger des heiligen Franziskus den Verfasser des „St. Sebastian vom Wedding” schätzten. Und noch deutlicher empfand ich, wie viel wir verloren hatten, als Professor Karl Muth aus München seinem „Hochland”-Mitarbeiter am offenen Grabe einen unvergleichlichen Nachruf widmete.

Das große Heimatfest von 1924 liegt weit zurück, ist aber unvergessen. Es war ein Anliegen der Landsleute aus der Fremde, bei dieser Gelegenheit auch den Hülfensberg wiederzusehen. Und so haben wir einen Sonderzug bestellt und von Heiligenstadt-Dün nach Großtöpfer fahren lassen. In Prozession zogen wir mit den Fahnen der Landsmannschaften aus Dortmund und Gelsenkirchen den Kreuzweg hinauf, so wie die abgewanderten Eichsfelder es in ihren Jugendjahren kennenlernten. Auf dem Berge wurde ein feierlicher Gottesdienst gehalten und ein Rundgang durchgeführt. Die Teilnehmer sind größenteils außerhalb der alten Heimat gestorben. Die aber noch leben, bewahren die Erinnerung an diese improvisierte Wallfahrt als köstliche Mitgift.

Mit innerem Beben denke ich an das folgende Erlebnis zurück. Ich tastete mich in einer dunklen Nacht vom Hülfensberge nach Geismar hinunter. Bei der elften Station hörte ich Frauenstimmen. Ich blieb stehen und verstand die Worte: „Lieber Gott, laß‘ unser Kind gesund werden!” Dann gingen zwei laut betende Frauen vorüber. Sie sahen mich nicht. Ich aber sah, dass sie barfuß waren. Tief erschüttert stolperte ich in meinen festen Schuhen auf dem ausgewaschenen, steinigen Wege weiter und dachte darüber nach, zu welchen Opfern Mütter und Großmütter fähig sind.

Vom 12. bis 15. Juni 1930 wurde in Heiligenstadt der siebente Bundestag der katholischen Kaufmannsjugend abgehalten. Delegierte aus ganz Deutschland nahmen daran teil. Es war eine reine Freude, die aufgeschlossenen jungen Männer auch über den Hülfensberg führen zu dürfen. Ihre Begeisterung für unseren Wallfahrtsort im Herzen Deutschlands haben sie in ihre Heimat und das Leben mitgenommen.

Vor Jahren überraschte mich der P. Guardian von Vierzehnheiligen mit einer merkwürdigen Nachricht. Die Primanerinnen eines Oberlyzeums in Bamberg hatten einen Aufsatz über das Hülfenskreuz in der St.-Gangolfkirche geschrieben und darin erzählt, dieses große Kruzifix sei eine Nachbildung des alten Kreuzes auf dem Hülfensberg im Eichsfelde. Wohl der beste Kenner der Kunstschätze Bambergs, Professor Hans Leitherer, bestätigte es. Ich habe daraufhin St. Gangloff besucht und in der Tat eine große Ähnlichkeit festgestellt. ln der Dom-Schatzkammer und in Museen fand ich später noch Darstellungen des am Kreuze triumphierenden Heilandes, die dem 11. und 12. Jahrhundert zugeschrieben werden. Interessant ist, dass die Seitenkapelle von St. Gangolf in Bamberg (die Kirche wurde schon 1063 geweiht) „Göttliche Hülfskapelle” heißt und das Kruzifix vom Volksmunde jetzt noch „Hl. Kümmernisbild” genannt wird.

Im Herbst 1930 ging das Obereichsfeld in Durchführung des Konkordats an die Diözese Fulda über. Der greise Bischof Joseph Damian, dem sich damit ein Herzenswunsch erfüllte, kam in der Wallfahrtswoche 1931 auf das Eichsfeld, um seine neuen Diözesanen zu begrüßen und dem Hülfensberge eine Reliquie vom Grabe des heiligen Bonifatius zu überbringen. Lange hat sich der Bischof seiner erweiterten Diözese nicht erfreuen können. Im folgenden Jahre starb auch schon Kommissarius Poppe, der ihn auf dem Berge so herzlich begrüßt und ihn der Treue der Eichsfelder versichert hatte.

Der Hülfensberg hat seine Geschichte. Im Verlaufe der Jahrhunderte haben ihn große Kirchenfürsten bestiegen und mit dem Volke vom Eichsfelde, aus Thüringen und dem Hessenlande gebetet. Gewaltige Glaubenskundgebungen, Männer-, Frauen- und Jugendwallfahrten hat er gesehen. Bischof Dr. Konrad Martin, dessen Wiege am Fuße des Berges stand, hat oft und gern unter seinen Landsleuten geweilt. Vor achtzig Jahren – im Mai 1874 – trat er aus einem feierlichen Anlass seine letzte Reise auf das Eichsfeld an. Am 26. Mai hielt er seinem Firmpaten, dem Geistl. Rat Haendly, in Heiligenstadt zum Goldenen Priesterjubiläum die Festpredigt. Dann erlebte er noch einmal die große Wallfahrt. Hatten schon in Heiligenstadt dem Bischof die Männer angesichts der harten Zeitverhältnisse unerschütterliche Treue gelobt, so strömten auf dem Hülfensberg an einem einzigen Tage etwa 30 000 zusammen, als ob sie ahnten, dass sie den Bekennerbischof bald nicht mehr sehen könnten. Es war, als wäre er gekommen, um vor dem schwersten Entschluss seines Lebens Abschied von seiner geliebten Heimat und seinen Eichsfeldern zu nehmen. Das letzte Mal sprach er zu ihnen, noch einmal ermahnte er zum Festhalten am Glauben der Väter. Einige Wochen später wurde er im Bischofshause zu Paderborn festgenommen, um dann ins Exil zu gehen und dort 1879 zu sterben. Ihm zu Ehren und zum Dank wurde von den Landsleuten in Heimat und Fremde auf der Nordwand des Hülfensberges das hohe leuchtende Kreuz errichtet und August 1933 unter großer Teilnahme eingeweiht.

Autor: unbekannt
(Quelle: „Eichsfelder Heimatborn“, Ausgabe vom 12.06.1954)