Der Annaberg bei Struth – ein vergessener Wallfahrtsort

Auf dem Obereichsfelde liegt in einen lieblichen Talkessel das ehemalige, von den Heimatdichtern oft besungene Frauen-Kloster Zella. In stiller Einsamkeit liegt es da, ringsum von steilen, waldbewachsenen Höhen bekränzt. Im Grunde des Tales rauscht die junge Frieda, welche in der Nähe des Klosters entspringt und eilenden Laufes dem Ausgange des Gebirgskessels zustrebt, um bald als stattliches Flüsschen den Fuß des heiligen Berges zu bespülen. Die Schönheit des Tales und seiner Umgebung, der Anblick des Klosters selbst lockt während der schonen Jahreszeit viele Ausflügler herbei. Aber nur wenigen von ihnen dürfte es bekannt sein, dass das Kloster vor Zeiten einen besonderen Anziehungspunkt, nämlich ein Heiligtum besaß, das alljährlich das Ziel vieler andächtiger Pilger war. Singend und betend durchzogen diese das stille Tal und stiegen hinter dem Kloster die steile Bergwand des Annaberges hinauf. Hier auf der Höhe stand ein schmuckes Kirchlein, die Annakapelle, in der ein Gnadenbild der hl. Anna aufbewahrt wurde. Seit Jahrhunderten war hier die heilige Anna verehrt worden. Im Jahre 1713 hatten die Ordensschwestern die Kapelle neu errichten lassen. Sie war aus sehr schönen Steinen im romanischen Stile erbaut und so geräumig, dass sie für eine Gemeinde von 600 Seelen als Kirche vollständig genügt hätte. Ein hoher, mit Kupferplatten gedeckter Turm gereichte der Kapelle zur Zierde und war weithin sichtbar. Das Innere der Kapelle war mit schönen Malereien geschmückt. In dem ziemlich großen Chore standen drei reichvergoldete Altäre, von welchen der Hauptaltar der heiligen Anna geweiht war. Das Gnadenbild selbst befand sich in der rechten Ummauerung in einer Nische, welche durch Doppeltüren verschlossen werden konnte. Auf diesen waren auf Goldgrund die Verwandten der heiligen Anna abgebildet. An den Tagen der Andacht, besonders am Tage des Annafestes brannten hier in der Regel eine Anzahl geopferter Wachskerzen.

Der Annaberg war nächst dein Hilfensberge der besuchteste und beliebteste Wallfahrtsort der katholischen Eichsfelder. Zahlreiche Wallfahrer in großen Prozessionen kamen namentlich an dem Annatage, am 26. Juli oder später den Sonntag darauf dorthin. Da der Platz nicht wie der Hilfensberg nach allen Seiten hin abfällt, sondern sich in nördlicher Richtung zu einer Hochebene ausbreitet, so gewährte er auch der größten Volksmenge hinlänglichen Raum. Der nahe angrenzende Wald und eine große Anzahl uralter Linden, welche um die Kapelle standen und ihre großen Äste ausbreiteten, gewährten den Andächtigen auch bei brennender Sonnenhitze angenehmen Schutz. Auch wurden unter diesen an den Wallfahrtstagen die Beichtstühle aufgestellt. Die Hauptwallfahrt fand wie schon früher bemerkt am Sonntage nach dem Annatage statt. Zu den Klosterzeiten geschah die Abhaltung derselben vom Kloster Zella aus. Da die Ordensschwestern nach der Ordensregel des hI. Benediktus lebten, so wurde ihre Seelsorge stets durch zwei Benediktiner-Geistliche aus dem Kloster Gerode besorgt, welche zugleich auch mit der Besorgung der Pfarrgeschäfte in Struth beauftragt waren. Nach der Aushebung des Klosters waren es die beiden Pater Propst Zander und Pater Teizel, Letzterer später Pfarrer von Struth und Dechant des Lengenfelder Landkapitels, welche ihren Wohnsitz im Kloster Zella behielten und den Gottesdienst auf dem Annaberge an den bestimmten Festtagen in hergebrachter Weise fortsetzten.

„Wenn man“, so schreibt der Lehrer Karl Gatzemeyer in Struth, zugleich Küster und Organist an der Annakapelle in seiner hinterlassenen Chronik, aus der diese Mitteilungen entnommen sind, „in der Frühe vom südlichen Rande des Annaberges in das von dem herrlichen Klosterwalde eingeschlossene reizende Friedatal hinabschaute und dabei durch die belaubten Bäume des Waldes den Gesang der noch ankommenden Prozessionen und dazu auch noch zugleich auf dem Berge selbst die alten Muttergotteslieder, begleitet durch das erbauliche Geläut der Glocken erklingen hörte, so hatte das gläubige Gemüt einen Genuss, den kein weltliches Vergnügen zu bereiten im Stande ist.“

In der Fastenzeit wurde der Annaberg wieder von vielen Andächtigen besucht, wo jeder für sich die Stationsandacht verrichtete und die Kapelle besuchte. Die erste Station stand unter einer großen, alten Linde, nicht weit vom Eingange zum Klosterhofe. Auch die Kinder von Struth besuchten am Tage ihrer ersten heiligen Kommunion den Annaberg und verrichteten daselbst in der Kapelle ihre Andacht.

Und dieses Heiligtum sollte dem Untergange geweiht werden! Im Jahre 1837 erklärte der damalige Besitzer von Kloster Zella Heinrich Rübling – das Kloster war nämlich im Jahre 1811 von der westfälischen Regierung für 60 000 Taler an Wilhelm Lutterott und Heinrich Rübling in Mühlhausen verkauft worden, – dem Bischöflichen geistlichen Kommissariate zu Heiligenstadt gegenüber, dass die Kapelle auf dem Annaberge sein Eigentum sei. Da man aber das Eigentumsrecht des Rübling auf die Kapelle bezweifelte, so gestattete man auch nicht seine Enkelin, Sophie Lutterott, darin trauen zu lassen, was aber doch ohnehin am 14. Zuli 1840 durch den Prof. Pastor Müller aus Höngeda geschah. Rübling wollte nun die Abhaltung des Gottesdienstes in der Kapelle nicht mehr gestatten und trat dagegen auf. Die Regierung zu Erfurt hingegen erklärte auf seine Beschwerde in einer Verfügung vom 14. August 1840, die Andacht auf dem Annaberge nicht zu hindern, und so wurden die Andachten daselbst ohne weiteres nach wie vor in herkömmlicher Weise abgehalten. Und so reichte Rübling am 30. April 1841 Klage bei Gericht ein, mit der er aber abgewiesen wurde, „weil die Sache nicht polizeilicher Natur sei.“ Auf eine abermalige Beschwerde bei der Regierung zu Erfurt wurde ihm der Bescheid, „da die Kapelle von jeher zu dem angegebenen Zwecke benutzt worden sei, so hätten die Käufer dieselbe auch nur mit der Last erwerben können.“ Nach Rüblings Tode leiteten die Erben die Klage wieder von neuem beim Gerichte ein, verloren aber den Prozess, weil im Kaufvertrage die Klosterkirche als mitverkauft war, die Annakapelle aber nicht. Sie gingen mit ihrer Klage an die höhere Instanz. Weil ihnen in dieser Zeit ein Schriftstück in die Hände gekommen war, worin es hieß, dass die Glocken in der Klosterkirche, die Glocken, Altäre, Orgel und das Annabild in der Annakapelle nicht mitverkauft seien, so wurde darauf dem Kläger Lutterott das Eigentumsrecht auf die Kapelle durch Erkenntnis vom 26. August 1844 zugesprochen, und dieser gestattete nun nicht mehr die Abhaltung des Gottesdienstes in der Kapelle. Auch verlangte er jetzt, die ihm nicht gehörenden Gegenstände aus der Kapelle zu entfernen. Als der Pfarrer Leineweber in Struth nach zuvor eingeholtem Bescheide des Bischöflichen geistlichen Kommissariates darauf eingehen wollte, erklärte Lutterott, dass er die fernere Abhaltung des Gottesdienstes unter gewissen Bedingungen noch gestatten wolle. Als man darauf eingehen wollte, stellte er wieder andere Bedingungen, und zwar solche, auf die man nicht eingehen konnte, und so mussten die Jahrhunderte bestandenen Andachten zum großen Schmerze der katholischen Eichsfelder unterbleiben.   

Jetzt stand das Kirchlein einsam und verlassen da. Kein Glockenklang ertönte mehr. Die Lieder der frommen Waller waren verstummt. – Die Kreuzwegstationen verschenkte Lutterott an den Kaplan Schäfer in Lengenfeld, welcher sie zur Errichtung eines zweiten Kreuzweges auf den Hülfensberg an der Straße von Hildebrandshausen aus benutzte. Die Kapelle selbst wurde zeitweise zu ökonomischen Zwecken verwendet. Im Jahre 1869 verkaufte Lutterott das Klostergut Zella an Weiß in Langensalza. Vor Abschluss des Kaufvertrages aber kamen Käufer und Verkäufer überein, die Kapelle auf dem Annaberge abzubrechen. Kurz vor dem Ausbruche des deutsch-französischen Krieges wurde dieses Vorhaben ausgeführt und der damalige Pächter des Klosterguts damit beauftragt. Vorher aber hatte Lutterott den Pfarrer Gerhardy, in Struth ersucht, die Altäre, die Kanzel und die übrigen kirchlichen Gegenstände aus der Kapelle zu entfernen. Als dieser sich jedoch weigerte, ein solches zu tun, wurde der Dechant des Lengenfelder Landkapitels darum ersucht, welcher die Altäre, die Kommunionbank, die Kanzel und die Glocken entfernen und nach Lengenfeld bringen ließ. Bevor die zum Bestellten Arbeiter die Glocken vom Turme nahmen, erbaten sie vom Pächter Keuthan die Erlaubnis, noch einmal die Glocken läuten zu dürfen. Das wurde ihnen gerne gestattet, und so läuteten sie nach der Weise, wie man nach katholischem Brauche einem Verstorbenen hinläutet. Dieses löste eine solche Rührung bei allen Beteiligten aus, dass selbst der Nichtkatholik Keuthan sich abwandte, um die Tränen zu verbergen. Von den Glocken befindet sich jetzt die eine in der Kirche zu Dieterode und die andere im Kloster der Barmherzigen Schwestern in Heiligenstadt. So ist denn ein vielbesuchtes Heiligtum vom Erdboden verschwunden. Kein äußeres Merkmal erinnert mehr an den Ort, wo es gestanden, öde und leer ist der Platz geworden, wo ehedem zahlreiche Pilger ihre Andacht verrichteten, nur einige alte Linden neigen ihre Zweige auf die Stelle herab, und ihre Blätter flüstern von vergangenen Zeiten.

Das Gnadenbild hatte man schon früher in die Kirche nach Struth überführt. Hier befindet es sich auf dem rechten Seitenaltare. Es ist eine künstlerisch geschnitzte Holzfigur, ein sogenanntes Selbdritt. In Struth werden auch noch ferner die Annenandachten in der üblichen Weise abgehalten. Früher sind denn auch noch an dem Annatage zahlreiche Prozessionen nach Struth gekommen. Aber es hat den frommen Wallern wohl doch der Ort der rechten Weihestimmung – der Annaberg mit seinem traulichen Kirchlein – gefehlt. Die Prozessionen wurden immer kleiner und hörten zuletzt ganz auf.

A. Schulz, Struth
(Quelle: „Unser Eichsfeld“, 21. Jahrgang, Duderstadt: Mecke, 1926, S. 91-94)